830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Die Poesie hat es im Streit der Künste nicht leicht, sich gegen die Macht der Musik zu behaupten. Die Überlegenheit der Musik steht mit Monteverdi schon am Anfang der Operngeschichte. Die Operngeschichte ist voller Beispiele vom Streit zwischen Dichtern und Musikern. Nur ein transdisziplinärer Meister wie Dieter Borchmeyer vermag dieses Wechselspiel zu überschauen. Immer wieder strebte die Kunst zum Gesamtkunstwerk und zur Fusion von Wort und Ton. Richard Wagner gab aller neueren Kunst das Beispiel vor. Friedrich Nietzsche nahm den ungleichen Kampf mit Wagner auf. Sein Gegenprojekt war eng mit dem Mythos von Dionysos und Ariadne verbunden. Zuletzt sah er in Cosima Wagner seine Ariadne verkörpert Im 'Ecce homo' fragte er noch: "Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist!" (KSA 6, 348) Seine letzten Zeilen an Cosima lauteten dann wohl: "Ariadne, ich liebe Dich. Dionysos". Auf Dionysos und Ariadne lief seine Wiedergeburt der Antike im Kampf mit Wagner hinaus.
Brief an Lord Chandos
(2003)
Brief an Lord Chandos ...
... mit groszer Anteilnahme habe ich Ihre Klagen aufgenommen und möchte zu Ihrer Tröstung bekennen, dasz es mir vor einiger Zeit ähnlich ergangen ist: ich hatte in dieser meiner Krise aller Welt vorgemacht, ich sei an der Arbeit, muszte mir jedoch eingestehen, dasz ich in Wahrheit völlig ausgebrannt war, ja, dasz die Vorstellung mich verfolgte, ich hätte noch nie auch nur I Wort aufgeschrieben, ich würde nie wieder Pläne oder Ahnungen von Gedanken empfangen können, am allerwenigsten jene so wundertätigen Verbalträume, die mich jederzeit mitten hinein in die Produktion katapultiert hatten. Aber dann versuchte ich mich selbst aufzufangen, indem ich den Gründen meines Versagens nachzuforschen begann, und ich entdeckte, warum es mir so elend erging. …
"Von allen Musikern, die heute schaffen - und manche von ihnen sind mir wahrhaft wert - , hat keiner mir mehr gegeben als Gustav Mahler, - Freude und Ergriffenheit, wie ich sie nur den Größten verdanke". Nein, dieser Satz aus der Mahler-Festschrift zu seinem 50. Geburtstag, 1910, stammt nicht von Hugo von Hofmannsthal, wiewohl auch er einen knappen Artikel beisteuerte. Hofmannsthal hat sich keineswegs enthusiastisch über Mahler geäußert, seine Wahrnehmung hat sich hauptsächlich auf Mahlers Tätigkeit als Direktor der Wiener Hofoper (1897-1907) bezogen, mit dem Komponisten Mahler konnte Hofmannsthal nichts anfangen.
Um dieses Nicht-Verhältnis zwischen Mahler und Hofmannsthal genauer zu perspektivieren, bedarf es wohl einer Kontextuierung, einer Rekonstruktion gemeinsamer Horizonte, zumindest ansatzweise. Und dies im Wissen um die sehr ernst zu nehmende Position von Jens Malte Fischer, der in seiner bedeutenden Mahler-Biographie von 2003 erklärt, "die Situationen Hofmannsthals und des erheblich älteren Mahler sind lebensgeschichtlich und individualpsychologisch grundverschieden", um dann aber doch einzuräumen, "die Sensitivität für Krisenerscheinungen der Zeit und der personalen Existenz" sei "vergleichbar".
Marcel Proust musste bekanntlich einiges dafür tun, um die Aufregung zu lindern, die im Freundes- und Bekanntenkreis aufgekommen ist, wenn es um die Durchschaubarkeit biografischer Vorbilder für die eine oder andere seiner Figuren ging. Die Tatsache, dass der Autor die eigene Homosexualität von der Erzählerfigur auf andere Protagonisten gleichsam umgelenkt hat, spielt dabei eine zwar wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle. Statt biografischem Voyeurismus kommt es darauf an, die Bewegungen, die zwischen Fiktion und Realität in beiden Richtungen verlaufen, genau zu erfassen.
Gerade die Unauffälligkeit, mit der es ihm gelingt, Gegebenheiten der Zeitgeschichte im Kontext der aristokratischen Zusammenkünfte als Teil der erfundenen Welt erscheinen zu lassen, gehört zu den fesselndsten Zügen des Romans 'In Swanns Welt‘. Eine in diesem Zusammenhang jedenfalls sehr bemerkenswerte Figur ist diejenige der Königin von Neapel. Sie gehört im fünften Teil des Romans "La Prisonnière" (erschienen 1923) zu denjenigen Gästen, die Baron Charlus in die Gesellschaft eingeladen hat, die die Verdurins veranstalten.
Hofmannsthals Fragmente sollen hier nicht nach Grenzen und Gründen ihres Status abgesteckt werden. Die Beleuchtung einer "Ästhetik des Fragmentarischen" wirft ihr Licht wohl weniger auf die sogenannten Fragmente Hofmannsthals als auf den Teil seines oeuvres, den man als das vermeintliche Werk von den Fragmenten abzusetzen pflegt. Damit hängt zusammen, daß von einer Ästhetik des Fragmentarischen wohl nur in Verbindung mit einer Ethik des Fragmentarischen im Werk Hofmannsthals die Rede sein kann. Es geht daher auch um die Ortung einer fragmentarischen Identität bei Hofmannsthal. Die Gründe für eine solche, vielleicht paradox anmutende Umschreibung vom Ästhetischen zur Ethik, vom Fragment zum Werk scheinen gerade aufgrund auch editorischer Erfahrungen im Umgang mit Hofmannsthal gerechtfertigt: Es ist zunächst die zwar angesichts der großen Torsi wie "Andreas", "Silvia im 'Stern'", "Timon" oder "Kaiser Phokas" verständliche Frage nach den Gründen für den Abbruch der Arbeit, aber dann gerade ihre immer nur unbefriedigend - kann man sagen: unvollständig? - ausfallende Antwort, die zu einer resignativen Einstellung führt. Im Fall des "Andreas"-Romans, um hier das wertvollste aller Fragmente stellvertretend anzuführen, sind schon von den ersten Lesern die unterschiedlichsten Versuche unternommen worden, den Abbruch, die Brüchigkeit durch eine eindeutige Antwort zu glätten und damit den Fragmentcharakter zu nivellieren.
Es sprechen viele Argumente dafür, biografische wie werkspezifische, aber auch rezeptionsgeschichtliche Aspekte, Hofmannsthal im Zusammenhang einer Problematik des Scheiterns zu berücksichtigen. Zum einen hat sich bereits zu seinen Lebzeiten die Frage gestellt, ob sich der Autor nicht nach seinem so vielfach euphorisch wahrgenommenen Frühwerk selbst überlebt habe. Zum anderen finden sich auch bei Hofmannsthal, was kein Kennzeichen nur dieses Autors ist, in den Texten aller Schaffensphasen Figuren, die durch ihr Scheitern Aufmerksamkeit und Sympathie gewinnen. Und zuletzt stellt die Rezeptionsgeschichte seines Werkes die Frage nach der Konkurrenz, nämlich inwiefern Hofmannsthal als ein maßgeblicher Autor der klassischen Moderne seine Reputation hat verteidigen können? Ist er im Anspruch gescheitert, als einer der maßgeblichen Autoren seiner Zeit im Gedächtnis zu bleiben? Insofern wäre Hofmannsthal als ein vielleicht auch unfreiwilliger Experte und als ein raffinierter Regisseur des Scheiterns zu beschreiben, der eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts teilt.
"Meine Heimat habe ich behalten", schrieb der 52jährige Hofmannsthal 1926 an den Schweizer Diplomaten Carl Jakob Burckhardt, "aber Vaterland habe ich keins mehr, als Europa" - und er fügte hinzu: "ich muß dies fest erfassen, nur die Klarheit bewahrt vor langsamer Selbstzerstörung. " Selbstzerstörung meint: "den Rest [des] Lebens in unfruchtbarer Verbitterung" darüber zu verlieren, daß mit dem Zusammenbruch Österreichs so viel Erhaltenswertes und Bewahrenswertes vernichtet wurde. Das Kriegsende hatte Hofmannsthal tief erschüttert: "Welche Welt, in die wir geraten sind", schrieb er: "Das nackte Gebälk tritt hervor und zittert bis in die Grundfeste." In den Jahren, die folgten, wurde ihm zur Gewißheit, daß sich nicht nur die europäische Landkarte verändert hatte, sondern daß die politischen und sozialen Umwälzungen, die dem verlorenen Krieg gefolgt waren, eine neue geistige Fundierung des alten Kontinents erforderten. Unablässig bewegte ihn die Frage: Was kann politisch und kulturell den Weg in die Zukunft weisen? Die Antwort führte ihn immer wieder zu Europa. Die 'Idee Europa' wurde für ihn zum "umfassendsten und wichtigsten Begriff" seiner Existenz: "[...] ich sehe nicht, welcher der Ströme des wirklichen geistigen Lebens [...] nicht durch eine mutige und nüchterne Geistesoperation gezwungen werden könnte, in das Becken dieses großen Begriffes zu münden."
Merkwürdig muten Hofmannsthals Worte den heutigen Leser an, der in Anbetracht der jüngsten Jahrhundertwende über die vorhergegangene liest:
Welch ein Erlebnis aber auch, dieses neunzehnte Jahrhundert, so wie der deutsche Geist es durchzumachen hatte, [...] bis endlich in diesem ganzen scheingeistigen Bereich die Luft unatembar wurde, bis endlich aus diesem Pandämonium von Ideen, die nach Lebenslenkung gierten - als ob es lebenslenkende Ideen geben könnte - , er sich losrang, unser suchender deutscher Geist, bewährt mit dieser einen Erleuchtung: daß ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist - daß im halben Glauben kein Leben ist, daß dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist: daß das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen.
Dem 19. Jahrhundert entkommen zu sein, ist in Hofmannsthals berühmt-berüchtigter Rede "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation " gleichbedeutend mit einem Ausbruch aus erstickender Enge zu neuem Leben. Das endlich überwundene Säkulum war für ihn charakterisiert durch komplementäre Fehlentwicklungen. Der "scheingeistige Bereich" eines philiströs auftrumpfenden Bildungskanons auf der einen Seite und auf der anderen das "Pandämonium" eines abgehobenen Wissenschaftsidealismus hatten die Ansprüche der Lebenswirklichkeit zunehmend verdrängt - zum einen durch topische "Verengung des Raumes", zum anderen durch romantische "Vergeudung des Raumes".