830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Die Paradigmen des Schlachtgemäldes und der Schlachtbeschreibung dienen Sebald und Simon als Kontrastfolie für ihre Versuche, sich den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts anzunähern. Auf unterschiedliche Weise demontieren beide Autoren den Anspruch dieser Paradigmen auf Transparenz und wenden sich damit auch gegen das Pathos einer bestimmten Tradition der Darstellung des Krieges. Aber zugleich reflektieren beide Autoren die sich zu einem einheitlichen und sinnhaften Ganzen zusammenfügenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gerade in dieser auf Totalität abzielenden Form. Sie ermöglicht ihnen die spielerische Suggestion von Unmittelbarkeit und Intensität bei gleichzeitigem Beharren auf der Unverfügbarkeit einer Erfahrung, die nicht vergessen, aber auch nicht erinnert werden kann.
Die Neuen Kriege seit dem Epochenbruch von 1989 sind Thema der Gegenwartsliteratur geworden, und sie sucht im Raum der Fiktion eine eigene Anschaulichkeit und spezifische Vorstellungen vom Charakter dieser neuen Konflikte zu erzeugen. Zugleich sind diese Neuen Kriege ein Gegenstand der disziplinär erfaßten Diskurse der Wssenschaften, die nach den kurzen Friedenserwartungen im Anschluß an 1989/90 eine Theorie der Kriege im Zeichen einer neuen Globalisierung verstärkt diskutieren. Wenn das gegenwärtige Denken des Krieges literarisch und außerliterarisch seine Kontur gewinnt, erscheint die Relationierung beider Felder geboten, wie in einem neueren literaturwissenschaftlichen Forschungszweig nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen bzw. von literarischen Texten und wissensehaftlichen Diskursen gefragt wird. Das Thema Neue Kriege läßt sich jedoch hier aus zwei Gründen nicht umstandslos einreihen. Der eine Grund ist theoretisch-methodischer Art. Nur die Dualität von disziplinär verfaßten historisch-politischen Diskursen und literarischem Text in den Blick zu nehmen ist zu wenig differenziert. Es ist nötig, sie um eine dritte Dimension zu erweitern: den Komplex der Medien, die als Wissensgeber vom Krieg, als eigene Kriegsmittel und als Gegenspieler der Literatur fungieren.
Weimarer Beiträge 56/2010
(2010)
Die Weimarer Beiträge - seit ihrer Einstellung durch den Aufbauverlag 1991 vom Passagen Verlag herausgegeben - ist eine der renommiertesten Literatur- und Kulturzeitschriften der ehemaligen DDR. Durch ihren interdisziplinären Ansatz, der auch allgemeine kulturelle, ästhetische und politische Überlegungen einbezieht, trägt sie zu einer Einbindung der deutschsprachigen Kulturwissenschaften in die internationale Diskussion bei.
Im Mittelpunkt des Textes, so scheint es, steht die trauernde Verarbeitung eines lang zurückliegenden Ereignisses, damit zugleich Erinnerung und Abschied als Grundmotive des Werkes von Droste-Hülshoff, wie sie auch in anderen Texten wie "Meine Toten" oder dem Byron-Gedicht "Lebt Wohl" zum Ausdruck kommen. In der "Taxuswand" durchmisst Droste-Hülshoff eine lange Zeitspanne, achtzehn Jahre, die zwischen der Begegnung und seiner dichterischen Verarbeitung stehen. Die Frage, die in diesem Zusammenhang im Raum steht, ist die nach dem grundsätzlichen Verhältnis von dichterischer Erinnerungsleistung und biographischem Erlebnis im Werk der Annette von Droste-Hülshoff. Dass beide in ähnlicher Weise wie bei Baudelaire nicht einfach zusammenfallen, sondern auseinandertreten, ist die Vermutung, der es im Folgenden nachzugehen gilt.
Les Colloques de Cerisy
(2010)
Die Tagung "Blickwechsel Rainer Maria Rilke: Leben und Werk" hat vom 13. bis zum 20. August 2009 sechzig Personen aus acht verschiedenen Ländern versammelt und so dem internationalen Auftrag des Kulturzentrums von Cerisy-la-Salle entsprochen. Es war die erste im Schloß von Cerisy stattfindende dreisprachige Tagungswoche zu Person und Werk von Rainer Maria Rilke.
Rilke in Salvador, Brasilien
(2010)
Im Jahr 1990 wurde in Salvador, Bahia, die Iniciativa Cultural Austro-Brasileira (ICAB) gegründet, eine Plattform für Vermittlung und Austausch österreichischer Kultur in Brasilien. [...] In allen folgenden Literaturveranstaltungen der ICAB (unter anderem zu Trakl, Schnitzler und Hofmannsthal) war Rilke ein fester Bestandteil, in Auszügen aus seiner Korrespondenz, in Lesungen und Zitaten.
Am 3. Februar 2009 ist in Ittigen bei Bern, im Seniorenheim Tertianum, wo er die letzte Lebenszeit verbracht hat, Professor Dr. Jacob Steiner gestorben. Er war, 1982 auf Schloss Duino gewählt, bis 1993 Präsident der Rilke-Gesellschaft und danach ihr Ehrenpräsident. Es ist in den letzten Jahren sehr ruhig um Jacob Steiner geworden, wie man es nicht erwartet hätte, wenn man seine Biographie, sein akademisches Curriculum ansieht.
Rezension zu Rainer Maria Rilke's The Book of Hours. A New Translation with Commentary. Translated by Susan Ranson. Edited with and Introduction and Notes by Ben Hutchinson. Camden House. Rochester New York. 2009. XLIV + 240 S.
Die Literatur zu Rilke befindet sich noch immer in einem dynamischen Wachstumsprozess, so daß ein Bericht darüber immer in Gefahr ist, das gerade Aktuelle zu übersehen, und um Geduld nachsuchen muß und Nachsicht für unvermeidliche Verspätungen und kaum voraussehbare Nachträge. [...] Die Rilke-Literatur ist folglich zwar beinahe unübersichtlich umfangreich, aber es lassen sich doch einige Grundzüge erkennen. Erstens: Die Rilke-Literatur ist international. [...] Zweitens: Die Dichtung Rilkes ist beinahe unantastbar geworden.
"Ein so reines wie genaues Bild" : Einblick in Rilkes Briefwechsel mit Olga Quaas-von Eisenstein
(2010)
Rilke antwortet auf eine Bitte um ein Erinnerungsbild mit dem im Januar 1912 auf Schloß Duino entstandenen "Marien-Leben". Er widmet Olga Quaas-von Eisenstein ein Exemplar und gerät dabei ins Nachdenken über sich selbst und nimmt die Erinnerung an seine Zeit in St. Pölten dankbar auf. Er schreibt an Olga Quaas von Eisenstein einen dreiseitigen Brief
An Ostern 1923 erhielt Rainer Maria Rilke auf Château de Muzot Besuch vom "Burgherrn", seinem Freund und Gönner Werner Reinhart (1884-1951). In dessen Begleitung erschienen zwei weitere Gäste, der Maler Edmund von Freyhold sowie eine Rilke damals noch unbekannte Musikerin: die australische Violinistin Alma Moodie (1898-1943). Nach dem österlichen Treffen entspann sich zwischen dem Dichter und der Musikerin ein loser Briefwechsel, der mehrere Jahre andauerte. Rilkes Briefe an die Geigerin wurden nie publiziert. Mindestens zwei davon sind auf Auktionen aufgetaucht, die meisten jedoch haben bislang als verschollen gegolten. Ein Teil des Briefwechsels befindet sich jedoch im Besitz von Frau Heidi Spengler-Bickel, der Schwiegertochter Alma Moodies, die es ermöglicht hat, ihn hier zu veröffentlichen. Die insgesamt zwölf Briefe - fünf davon stammen von Rilke - können nicht nur den Briefwechsel des Dichters um einige Teilstücke vervollständigen. Seine Beziehung zu der australischen Musikerin erhält durch die Briefe genauere Konturen - darüber hinaus ermöglichen sie einige seltene Einblicke in das Tourneeleben einer jungen Berufsmusikerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Rilkes Begegnung mit Alma Moodie wird im Folgenden in groben Zügen nachgezeichnet; dabei erschien es sinnvoll, die Briefe in den Lauftext einzurücken, so dass der Zusammenhang des in ihnen Besprochenen aus der Chronologie der Ereignisse hervorgeht. Ergänzt wird der Briefwechsel durch Auszüge aus bislang ebenfalls unveröffentlichten Briefen Alma Moodies an Werner Reinhart.
Die Veröffentlichung der folgenden Briefe aus dem Jahre 1912 ist der Beginn einer Publikation aller Briefe Rilkes an Pia Valmarana in den Blättern der Rilke-Gesellschaft - voraussichtlich noch in zwei weiteren Folgen. Pia Valmaranas Briefe an Rilke sind nicht erhalten. Vermutlich wurden sie nach Rilkes Tod zurückgegeben und von Pia selbst oder von ihren Erben der Veröffentlichung entzogen. Im Jahr 1939 schenkte Pia Valmarana Ernst Zinn einen Teil der an sie und ihre Mutter Giustina gerichteten Briefe Rilkes in maschinenschriftlicher Abschrift, eingeheftet in einen grauen Umschlag; es handelt sich um 35 Briefe, chronologisch nicht geordnet. Nach ihrem Tod im Jahr 1948 fanden sich in ihrem Nachlaß weitere 38 Briefe, darunter auch ganz kurze Mitteilungen, zumeist auf Visitenkarten. Die Handschriften, im Jahr 1952 von den Erben verkauft, befinden sich jetzt im Rilke-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern. Ernst Zinn wurden Photokopien aller Manuskripte zur Verfügung gestellt; dazu gehören auch eine Reihe von Widmungsexemplaren und zehn photographische Ansichten von Ronda mit Erläuterungen von Rilke auf der Rückseite. Dieser Bestand, der bis jetzt in kein Archiv eingegliedert ist, wird ergänzt durch Notizen von Ernst Zinn, durch Listen und Protokolle. Wolfgang Herwig, Schüler und Mitarbeiter von Ernst Zinn, hat im Jahr 1950 ein Verzeichnis des ganzen Bestandes angelegt und darüber hinaus alle Briefe in ein maschinenschriftliches Manuskript übertragen; es ist Grundlage dieses Textes, der erneut an den Autographen der Briefe überprüft wurde; Entwürfe zu den Briefen konnten nicht nachgewiesen werden. Ihr Text ist diplomatisch getreu wiedergegeben, das heißt Verschreibungen und Flüchtigkeitsfehler sind nicht korrigiert, lediglich durch ein <sic> gekennzeichnet; Rilkes Großschreibung von Substantiven, wenn sie Dinge bezeichnen, die ihm wichtig waren, wird nicht als Fehler angesehen und bleibt ohne diese Kennzeichnung; dies gilt auch für die zahlreichen Stellen, an denen Rilke in Bedingungssätzen mit "si" statt des korrekten Indikativs die Konditionalform verwendet. Unterstreichungen Rilkes sind als solche beibehalten; die wenigen Korrekturen von Rilkes Hand sind, soweit noch leserlich, in den Fußnoten festgehalten. Mit Hilfe des Briefwechsels Taxis konnte die fehlende oder unvollständige Datierung der Briefe aus Venedig ergänzt werden (in eckigen Klammern), seine Register waren darüber hinaus eine Hilfe bei der Bestimmung der vielen von Rilke erwähnten Personen, mit denen er in Venedig und während der Herbstwochen auf Duino umging.
Natürlich wäre es ein vergebliches, möglicherweise unzulässiges Unterfangen, dem Bekenntnis der Kolmar, Rilke habe sie "vielleicht" durch die "Plastik" seiner "späteren Gedichte" und mit "Einzelheiten aus [seinem] Werk beeinflußt", nun nachzugehen und es gar belegen zu wollen. Allein und dennoch: legitimiert wäre man mit jenem Eingeständnis schon und sich selbst der Subjektivität bei solchem Versuch durchaus bewußt.
Rilkes Gedichtband "Das Buch der Bilder" wird allgemein von der Forschung als eine Art Übergangswerk gesehen. Ihm folgen die - weitaus höher eingeschätzten - "Neuen Gedichte", die noch heute als ein Höhepunkt in Rilkes Schaffen gesehen werden und "den Dichter mit seiner neuen […] poetologischen Orientierung zu einem der bedeutendsten Vertreter der literarischen Moderne mach[en]." Daß trotzdem auch einem "Übergangswerk" ein nicht zu unterschätzender poetischer Wert innewohnen kann, zeigt unter anderem Rilkes Beschäftigung mit der Liebesthematik im "Buch der Bilder". In diesem Zusammenhang kann das Gedicht "Die Liebende" als eine Art Zäsur in Rilkes poetischer Gestaltung der Weiblichkeit angesehen werden. [...] Das Gedicht "Die Liebende" im "Buch der Bilder" markiert eine Umkehr von der motivbehafteten Darstellung des Weiblichen hin zur poetischen Darstellung einer Theorie der intransitiven Liebe, die - entgegen gesellschaftlichen Vorstellungen - nicht auf Erwiderung zielt.
Die Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in Rilkes Dichtung sind vor allem ein Echo seiner 'Confessiones'-Lektüre. Mit diesem Werk hat sich Rilke, wie er berichtet, intensiv befaßt und 1911 sogar begonnen, es ins Deutsche zu übersetzen. Äußerlich faßbare Spuren seiner Augustinus-Lektüre treten wohl erstmals in der Rodin-Monographie von 1902 hervor. Dort spielt Rilke auf eine Stelle aus dem Proömium der 'Confessiones' an, die zusätzlich auf die Untersuchung des Seins der Zeit in deren elftem Buch hindeutet. Die Passage, die mit der Feststellung beginnt, Rodin sei ein Greis, dessen Leben einmal "begonnen" habe, nun "tief in ein großes Alter" hineingehe und für uns so sei, "als ob es vor vielen hundert Jahren vergangen wäre", verbindet Rilke mit einem charakteristischen Gedanken Augustins. Am Beginn seiner Betrachtungen zu Rodin mutmaßt er über dessen Leben: "Es wird eine Kindheit gehabt haben, irgendeine, eine Kindheit in Armut, dunkel suchend und ungewiß. Und es hat diese Kindheit vielleicht noch, denn -, sagt der heilige Augustinus einmal, wohin sollte sie gegangen sein?" Damit klingt schon Rilkes große Sehnsucht nach einem Bleiben an, die zugleich als Nachklang der Zeitauslegung in Augustins 'Confessiones' zu lesen ist und auch seine in vielen Abschattungen immer wiederkehrende Frage bestimmt, die den Titel der vorliegenden Untersuchung bildet: "Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?" Rilkes Dichtung war trotz mancher Distanz zum christlichen Dogma tief in den Themen und Antworten des christlichen Glaubens beheimatet. Dies neu zu beachten, mag eine Aufgabe der Rilke-Forschung wie der Theologie sein.
Kleine Planeten oder Planetoiden, zu denen auch der Planetoid "Rilke" gehört, sind Überreste aus der Zeit der Entstehung unseres Sonnensystems. In den Bereichen, in denen sich die Mehrzahl der kleinen Planeten auch jetzt noch befindet (dem Planetoidengürtel), sind sie auch entstanden - vor etwa fünf Milliarden Jahren. In diesen Bereichen unseres Sonnensystems hatte die Menge des für die Bildung fester Körper verfügbaren Materials nicht einen einzigen großen Körper, sondern eine Vielzahl kleiner Körper gebildet.
In einer oft zitierten Aussage aus dem Jahr 1924 hat Rilke erklärt, daß unter allen seinen Inspiratoren Cézanne der Wichtigste war, und er diesem "stärkste[n] Vorbild" "seit 1906" "auf allen Spuren nachging." In seinem Vortrag versucht Peter Por, diese Aussage so zu deuten, wie Rilke sie gelten lassen wollte, also im Bezug auf das ganze Lebenswerk; und Por versucht gerade die Wendung darzulegen, die Rilke von der Poetik, die er in seiner Auseinandersetzung mit Cézannes Raumschöpfung und besonders mit Cézannes Perspektivenbehandlung erarbeitet hatte, zu jener Poetik führte, die er sich aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Klees Raumschöpfung und besonders mit dessen Perspektivenbehandlung angeeignet hatte.
Ausgehend von den Karussell-Gedichten Lessings und Rilkes sowie vor dem Hintergrund des Lessing'schen Laokoon und brieflicher Äußerungen Rilkes sollten einige Übereinstimmungen und Abgrenzungen ihrer ästhetischen Positionen sichtbar werden - man kann die angedeuteten Koinzidenzen für überraschend halten oder für längst bekannt: manchmal gleichen die Versuche, Relationen zwischen zwei Künstlern auszuloten, dem zufälligen Gespräch im Eisenbahnabteil: man muß nur lange genug miteinander sprechen, dann trifft man auf gemeinsame Bekannte. Und doch scheint etwas mehr im Spiel zu sein: Paradox formuliert, zeigt sich die Gemeinsamkeit zwischen Lessing und Rilke, diesen so weit auseinander liegenden Gestalten, eben darin, daß sie voneinander nichts wußten. Daß beide die ästhetische Erfahrung, auf die es hier ankommt, unabhängig voneinander, und aus unterschiedlichsten Zeit- und Lebenszusammenhängen machen, spricht für ein 'fundamentum in re' dieser Erfahrung, einer entscheidenden und unbedingten Erfahrung aus der Arbeit in der Sprache.
Es ist erstaunlich, daß die umfangreiche und hoch entwickelte Literatur zu Rainer Maria Rilke bislang noch kaum die Beziehung zwischen der auf die 'Dinge' bezogenen Lyrik seiner mittleren Phase und der anglo-amerikanischen Bewegung des Imagismus in den Blick genommenen hat, obwohl Affinitäten zwischen dem "image" des Imagismus und dem "Ding" Rilkes auf der Hand liegen. Ein Grund dafür ist sicher, daß es keine nachweisbaren Beziehungen zwischen den Imagisten und Rilke gibt. Englische und amerikanische Lyriker wie T. E. Hulme, Richard Aldington, Ezra Pound und William Carlos Williams wußten nichts von der Existenz des deutschen Lyrikers Rilke und Rilke seinerseits war die Lyrik der englischen und amerikanischen Imagisten unbekannt. Es ist aber dennoch für eine angemessene Würdigung Rilkes im Kontext des Modernismus unabdingbar, seine "Neuen Gedichte" vergleichend mit avantgardistischen zeitgenössischen Gedichten des englischen Sprachraums zu betrachten. Dabei sind verwandte Kunstprinzipien und kompositorische Eigenheiten zu eruieren, die es erlauben, die in Rede stehende Lyrik dem Frühmodernismus zuzuordnen. [...] Wolfgang G. Müller stellt in seinen Darlegungen zunächst die Begriffe "image" und "Ding" einander gegenüberstellen und an einigen Texten veranschaulichen. Danach kommt er auf das Phänomen der Epiphanie zu sprechen, das in der imagistischen Lyrik und in Rilkes "Neuen Gedichten" gleichermaßen gegenwärtig ist. Schließlich behandelt er Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Verwendung der Ikonizität bei den Imagisten und Rilke.
In der Forschung zu Rilkes posthum erschienenen Briefen über Cézanne wird einhellig die Pionierleistung des Dichters in der tiefen Durchdringung von Cézannes Werk und dem Erkennen der epochalen Bedeutung hervorgehoben. Die kunsthistorische Forschung gelangte dagegen erst Jahrzehnte später auf denselben Stand. Katharina Kippenberg meinte gar, die Kunsthistoriker müßten sich beschämt vor der Lektüre der Briefe zurückziehen. Aber trifft diese für die Fachwissenschaft wenig schmeichelhafte Einschätzung wirklich zu? Hat Rilke allein aus sich heraus und im intensiven Austausch mit den Werken Cézannes und der Beschäftigung mit dem Leben des "Sonderlings aus Aix" seine Erkenntnisse gewonnen? Die folgenden Ausführungen versuchen einmal den Blickwinkel zu wechseln und von der Kunstgeschichte auf den Dichter zu schauen. Die Sichtung der kunsthistorischen Forschung zu Rilkes Zeit soll die Besonderheit der Seh-Erfahrungen des Dichters herausarbeiten. Die Betrachtung der darauf folgenden kunstwissenschaftlichen Literatur kann darüber hinaus aufzeigen, inwieweit Rilkes Äußerungen über Cézanne tatsächlich wegweisend waren.
Wahrnehmen wahrnehmen, das Sehen sehen - solche Wendungen gehören mittlerweile zum Jargon des (radikalen) Konstruktivismus und der Systemtheorie ebenso wie zum universitätsgeschulten Kunstjournalismus und klingen so vertraut, als ob sie immer schon dagewesen wären. Dabei haben diese Konzepte ihre Geschichte, die um 1900 beginnt. Mit dem Dreieck, das der Biologe Jakob von Uexküll, der Mathematiker und Phänomenologe Edmund Husserl und Rainer Maria Rilke bilden, ist zu zeigen, daß es mehrere Disziplinen waren, die sich um das Problem der Wahrnehmung gekümmert haben - alle drei sind noch obendrein geschult am erkenntniskritischen Werk Kants, das sie mehr oder weniger gründlich kennen und das immer wieder anklingt. Im Zentrum steht dabei die Frage der Wahrnehmung von Welt und der Ausbildung eines symbolischen Zwischenraums, der Kunst sein kann - und den man im Projekt des "neuen Sehens" von unterschiedlicher Seite aus konstituieren möchte. Die 'Neuen Gedichte' erscheinen dann in einem Commercium vielfältiger Wissensgebiete, die Rilke auch sucht, um der Skepsis gegenüber dem eigenen Ausdruckmedium zu begegnen. Aus diesen Kontexten heraus sollen nicht nur Begriffe des "sachlichen Sagens" und "neuen Sehens", sondern einige Charakteristika dieser selbstbezüglichen, antimimetischen Wortgebilde kommentiert werden, die trotz aller Selbstreferenz der Eigenwelt durchaus auf eine Umwelt gerichtet sind und an einer Zwischenwelt zur Wirklichkeit arbeiten.
Die "Neuen Gedichte" von 1907 und "Der Neuen Gedichte anderer Teil" von 1908 bilden einen Einschnitt in Rilkes Lebenswerk. Auf der einen Seite stehen die großen Arbeiten der früheren Jahre: "Das Stundenbuch" (1899-1903) und "Das Buch der Bilder" (1902-1906), auf der anderen aber weht ein neuer Wind: härter vielleicht, ein wenig schärfer, jedenfalls aber ein Wind, der von der Vergangenheit in die Zukunft weht. Am Ende, vierzehn Jahre später, stehen die vollendeten "Duineser Elegien" und die "Sonette an Orpheus" und mit ihnen ein anderer Geist. Doch die "Neuen Gedichte" bildeten schon lange vorher einen Unterbau für das Gebäude mit einer neuen Architektur der dichterischen Sprache. [...] Die sich nun entwickelnde Weltanschauung in Rilkes Werk, die zu dieser Zeit Gestalt annahm, kann unter anderem durch seine neue Auffassung der bildenden Künste erklärt werden.
In den "Neuen Gedichten" tritt bekanntlich das Subjektive zurück. So hatte sich Rilke bereits in dem 1899 erschienenen Gedichtband "Mir zur Feier" von der Erlebnislyrik abgewandt. An deren Stelle waren Rollengedichte oder auch evokative Landschaften getreten. Im "Stunden-Buch" setzen sich die Rollengedichte fort. Ähnlich im 1902 erschienenen "Buch der Bilder". In vielem bereitet sich in diesem Werk aber auch schon die Poetik der "Neuen Gedichte" vor: Das einzelne "Ding" - oder besser: ein scharf abgegrenzter Gegenstand, ein Thema - gerät in den Blickpunkt. Dabei wird nun auch das Häßliche, Abstoßende, Widerwärtige nicht länger ausgespart. Rilke beginnt, wie er sagt, "sehen zu lernen". Dabei handelt es sich um ein Geöffnetsein, das an Selbstverlust grenzt, jedoch gerade dadurch die kreativen inneren Kräfte weckt und aktiviert - ein "von sich Fortsehen", wie Rilke es 1900 schon nennt. Die dergestalt am Sehen orientierte Poetik zeigt sich, wie gesagt, bereits in manchen Gedichten des "Buchs der Bilder", vor allem in der zweiten Ausgabe von 1906. Für die "Neuen Gedichte", die zwischen 1903 und 1908 entstehen, wird sie dann konstitutiv.
Kein Thema, so scheint es, ist bei einem Rilke-Kolloquium in Paris besser angebracht als das der Beziehung Bonnefoys zu Rilke. Yves Bonnefoy, Jahrgang 1923, der bereits 1953 mit dem Gedichtband "Du mouvement et de l'immobilité de Douve" auftrat, ist die heute bedeutendste Dichterfigur Frankreichs. Sein Werk ist weit über die Nationalgrenzen hinaus gedrungen. Im Besonderen genießt es einen hohen Ruf in Deutschland, wo es in großem Umfang übersetzt wurde. Es besteht nicht nur aus Gedichten, sondern auch aus zahlreichen Essay-Bänden zur Kunst- und Literaturkritik, Monographien zu Giacometti oder Goya und einer nicht geringen Zahl an Übersetzungen. Damit steht er an Rang und Breite Rilke zur Seite. Befaßt man sich nun mit seiner Lyrik und Dichtung, so wird man vieler Parallelen mit Rilke gewahr. Um nur einige davon zu nennen: Bei beiden nimmt das "Offene", das "Einfache", gar der Tod einen zentralen Stellenwert ein, beide Lyriker lehnen die Erlöserfigur des christlichen Gottes ab, messen dem Unsichtbaren hohen Wert bei und bekennen sich entschieden zum Hiesigen. Beinahe neigt man zu der Annahme, daß die Frage der Beziehung von Yves Bonnefoy zu Rilke sich aus seinen Gedichten und seinem Werk geradezu aufdrängt.
Personne, à ma connaissance, ne s'est encore intéressé aux rapports que Rainer Maria Rilke a entretenus avec la revue 'Commerce' qui, à la fin de 1924, fut la première à publier quelquesuns de ses poèmes français. Les nombreuses études consacrées à cet auteur ne s'étendent pas sur cette question et par conséquent, les données qui figurent dans les lettres et les notes des textes édités n’ont pas encore été présentées dans un ensemble cohérent. Dans cet article, je me propose de mettre en lumière les rapports entre Rilke et 'Commerce' en me basant sur seize lettres inédites de Rilke à Marguerite Caetani, la mécène de la revue, conservées dans des archives privées, à Rome. Ceci me permettra d'ajouter quelques éléments à l'image existante de la vie et de l'oeuvre de Rilke à Paris, qui, quoique minutieusement documentée, ne cesse de s'affiner. Pour cela, il faut d'abord que je réponde à la question de savoir quelle est la stratégie suivie par 'Commerce' dans ses rapports avec les auteurs et leurs contributions.
Rita Rios' Essay befaßt sich mit Rilkes Verhältnis zu Paris im Lichte seines ersten Nachkriegsbesuchs im Jahre 1920. Vor allem geht es ihr um den Aufenthalt selbst, um die Motivation Rilkes, sich auf den Weg nach Paris zu machen. Seit dem Kriegsausbruch besaß er nichts mehr in dieser Stadt; die Unruhe ständiger Ortswechsel verursachte ihm Unbehagen und er befand sich bereits auf der Suche nach einem dauerhaften und ländlichen Wohnort. Sein Entschluß zur Reise läßt sich nur aus dem Wunsch erklären, durch den erneuten Aufenthalt in der französischen Hauptstadt noch ein Mal in den Schaffensfluß einzutauchen, der ihm zur Zeit der Neuen Gedichte vergönnt war. Rilkes Glaube an die stimulierende Macht dieser Stadt wird im Kontext des allgemeingültigen, mythologisierten Bildes von Paris leichtverständlich. Rios beschränkt sich darauf, auf Rilkes eigene Vorstellungen von dieser Stadt einzugehen. Ihre Gedankengänge verknüpfen biographische, historische und literarische Fakten, womit sie mehr Klarheit über diesen Zeitraum in Rilkes Leben gewinnen möchte. Diese Lebensphase ist - wie sie zu zeigen versucht - auf unterschiedliche Weise für den Schriftsteller der Duineser Elegien entscheidend.
Kreative Negativität : zu Rilkes späten französischen Gedichten außerhalb der Gedichtsammlungen
(2010)
Dieser Vortrag befaßt sich nur mit Gedichten, die während des letzten Pariser Aufenthalts von Januar bis August 1925 entstanden sind und keinem der vier autorisierten Gedichtbände ("Vergers", "Les Quatrains valaisans", "Les Roses" und "Les Fenêtres") zuzuordnen sind. Rilke kommt aus der Klinik Valmont oberhalb von Montreux als noch Kranker nach Paris. Er findet sein einstiges Paris nicht wieder. Die Stadt ist hastig geworden, er findet sie jetzt sogar amerikanisiert, im Vergleich zu ihrer Atmosphäre in der Entstehungszeit des "Malte". In den meisten während des letzten Pariser Aufenthalts entstandenen französischen Gedichten gibt es Abgelehntes, das sich von einer anderen, gültigen Instanz abhebt. Oft könnte von einer gespaltenen Doppelpräsenz die Rede sein. Diese strukturelle Verwandtschaft zwischen elf in Paris entstandenen Gedichten stellt Bernhard Böschenstein in skizzierender, komprimierter Übersicht dar.
"Paris ist für mich", schreibt Rilke 1907, "eine unermeßliche Erziehung, dadurch, daß es meinem Blick und meinem Gefühl, die entlegensten, äußersten, die schon nicht mehr nachweisbaren Thatsachen seelischen Erlebens bis zu beispielloser Sichtbarkeit (ja, Weithinsichtbarkeit) verdichtet, hinhält". Diesem in bzw. an Paris erfahrenen Zusammenhang von Blick und Gefühl, Sichtbarkeit und seelischem Erleben, Sehen-Lernen und Innerlichkeit geht Karin Winkelvoss hier noch einmal nach.
1 rue de Médicis - vom Balkon der im 5. Stock dieser Pariser Adresse gelegenen Wohnung des Schriftstellers und Übersetzers Maurice Betz eröffnete sich der Blick auf den Jardin du Luxembourg, links zwischen den Bäumen erahnte man die Fontaine Médicis, geradeaus blickte man auf den Palais, rechts auf das hintere Portal des Théâtre de l'Odéon. Während der ersten Monate des Jahres 1925 ging Rilke jeden Vormittag aus dem in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Hotel Foyot, 33 rue de Tournon, zu dieser Wohnung, um dort gemeinsam mit Betz an der Übersetzung der "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" zu arbeiten. An diesem Ort entstand ein zentrales Dokument des produktiven Austauschs zwischen den beiden Autoren und ihren Sprachwelten, das die Rilke-Rezeption in Frankreich wesentlich mitbestimmten sollte. [...] Es ist durchaus lohnend, über das bisher in dieser Reihe zu Maurice Betz Gesagte hinaus einen eingehenderen Blick auf sein Leben, seine Tätigkeit und seinen Austausch mit Rilke zu werfen.
In den folgenden Überlegungen geht es hauptsächlich um ein unpubliziertes Konvolut Rilkes von 26 Seiten mit dem Titel "Remarques à la suite de la traduction des 'Cahiers de M. L. Brigge'", das sich in der Stadtbibliothek von Colmar befindet. 'Unpubliziert' muss allerdings insofern eingeschränkt werden, als Auszüge daraus von Maurice Betz in seinem Erinnerungsbuch "Rilke vivant. Souvenirs, lettres, entretiens" (erschienen 1937 bei Emile-Paul frères in Paris, deutsch unter dem Titel "Rilke in Frankreich. Erinnerungen, Briefe, Dokumente" 1938 bei Reichner in Wien) verwendet wurden. Hier ist nicht der Ort, im Detail auf die Zitiermethode von Betz einzugehen. Es steht aber außer Zweifel, dass Betz bewusst die oft sehr kritischen Passagen von Rilkes Bemerkungen zur Übersetzung des Malte unterdrückt hat. Es geht ihm dabei offensichtlich um die Rechtfertigung seiner Übersetzung.
Das Hauptinteresse dieses Beitrags gilt - nach einer biographischen Einbettung - dem brieflichen Austausch zwischen Catherine Pozzi und Rilke, der bis heute nur in französischer Sprache vorliegt. Im Anschluß daran wird ein wichtiger Aspekt des Verhältnisses Rilke-Valéry wenigstens kurz berührt. Angeregt wurde der Beitrag durch eine Bemerkung des Dichters und Übersetzers Philippe Jaccottet, wonach es sich bei Rilkes schrankenloser Bewunderung für Paul Valéry um einen gewissen Mangel an Klarsicht ('lucidité') handle; er, Rilke, habe den Abgrund übersehen, der ihn, im Wesentlichen, vom französischen Dichter trenne. Dies kann man auch anders sehen.
Rilke über Rilke
(2010)
Im Sommer 1925 hat Rainer Maria Rilke in Paris dem Journalisten Frédéric Lefèvre ein Interview gewährt. Erschienen ist es ein Jahr später in 'Les Nouvelles Littéraires, Artistiques et Scientifiques' vom 24. Juli 1926, unter dem Titel "Une heure avec R.-M. Rilke, le plus grand lyrique d’Autriche". Es wurde, geringfügig verändert wieder abgedruckt in einem Sammelband von Interviews mit anderen Persönlichkeiten, den Lefèvre 1927 veröffentlichte. Unmittelbar nach Erscheinen des Interviews brachten, im Juli und August 1926, die 'Süddeutsche Zeitung' und die 'Neue Leipziger Zeitung' Auszüge: "Eine Stunde mit Rainer Maria Rilke", übersetzt von Fritz Adolf Hünich, Rilkes erstem Bibliographen; Maurice Betz nahm einen Auszug in den Band "Rilke vivant" auf. Das Interview ist auch später nicht in Vergessenheit geraten, wurde aber nie näher auf seine Entstehung und seine Besonderheiten hin angesehen.
Rilke und Paris - von allen "topographischen" Themen, die man mit dem Leben und Werk eines "deutschsprachigen Dichters aus Prag" in Verbindung bringen kann, ist dieses wohl das vielseitigste, beziehungsreichste. Es ließe sich in zahlreiche Einzel- oder Unterthemen aufgliedern - systematisch, chronologisch, biographisch, werkgeschichtlich. Und es würde viele Jahre aus dem Zeitraum zwischen 1902 und 1925 erfassen müssen; zusammenhängende Jahre und auseinanderliegende. Wir beschränken uns dieses Mal auf ein einziges Jahr - 1925 - und auf einen einzigen, den größeren Teil dieses Jahres umfassenden Aufenthalt Rilkes in der französischen Metropole. Es war der letzte, den noch zu erleben dem Dichter vergönnt gewesen ist. Eine solche Beschränkung ist berechtigt. Denn in mehrfacher Hinsicht unterschied sich dieser ereignisreiche Aufenthalt grundlegend von allen vorangegangenen Lebensabschnitten, in denen Paris dem Dichter immer vertrauter, gelegentlich aber auch ermüdender geworden war. Indem wir diese Unterschiede berücksichtigen, vermögen wir zugleich den einzigartigen Charakter von "Rilke in Paris 1925" zu bestimmen und ihn abzuheben von allem, was Rilke zuvor in Paris zu erfahren wußte.
Gedicht "Le vin perdu" von Paul Valéry mit deutscher Übersetzung.
Une atmosphère toute de silence et d'éclat, de frisson et de plus haute tension, telle est l'oeuvre de Rainer Maria Rilke. Il n'est pas vain de noter que, dans son expression, elle recourt à une double voix, de préciser le sens d'un écart à l'intérieur d'une oeuvre grande et douloureuse dans sa construction, de montrer la nécessité de ce qui est pour finir mieux qu'un écart ; pour cela, il faut aussi, chemin faisant, embrasser la destinée poétique de Rilke dans sa globalité. Ce qu'il importe alors de considérer, c'est à la fois cette étrangeté et ce paradoxe que sont les poèmes français de Rilke. De temps en temps, à intervalles réguliers, tel ou tel esprit revient sur cette question, tourne autour d'elle, évoquant l'un de ses aspects, parfois plusieurs, sans jamais pouvoir totalement se soustraire à l'énigme qui se déploie dans la modestie d'une apparente récréation. Avec sa rectitude et son sens de la pondération nuancée, Philippe Jaccottet s'est approché mieux que tout autre du foyer de cette question, ce n'en est pas moins resté pour lui comme pour tous une réflexion ouverte et ce n'est pas moi qui mettrai un point final à ce mystère qui ne demande qu'à se prolonger comme tel et doit simplement être aperçu pour briller dans la lumière qui lui est due.
Rilke in meiner Familie
(2010)
Als Rilke starb, war ich neun Jahre alt. Mein Vater war Franz Hessel, ein Dichter, ein Schriftsteller und ein großer Übersetzer. Er hat Marcel Proust ins Deutsche übersetzt, eine große Balzac-Ausgabe betreut und war dem Rowohlt-Verlag jahrelang verbunden. Es ist mir aufgefallen, dass seine Generation ungefähr die Generation von Rainer Maria Rilke ist, und im Zusammenhang mit Rilke denke ich an drei, vier weitere Menschen aus dieser Generation, die mit meinem Vater in Verbindung standen.
Impressionen (Sommer 1925)
(2010)
Begegnung mit Rilke 1925
(2010)
Rainer Maria Rilke hatte die Prinzessin Marthe Bibesco (1888-1875) am 23. Januar 1925 in ihrer Pariser Wohnung besucht. Anlaß war die Rückgabe eines Bändchens von Racines Werken. Die Prinzessin hatte es während des Ersten Weltkriegs bei einem Besuch der Fürstin von Thurn und Taxis in ihrem böhmischen Schloss Lautschin aus der Bibliothek ausgeliehen und auf eine Gelegenheit gewartet, das Werk zurückgeben zu können. Nun sollte Rilke der Überbringer sein. Die französische Schriftstellerin und Tochter des rumänischen Außenministers Jean Lahovary hatte ihre Erinnerung an den Besuch im Oktober 1951 formuliert. Rilke hat ihre Werke mehrfach empfohlen.
[...]
Der französische Literaturkritiker und Übersetzer Charles Du Bos (1882-1939) aus dem Umkreis der Zeitschrift "Nouvelle Revue Française", ein Bekannter von Rudolf Kassner, hatte sich seit 1923 für Rilkes Werk begeistert. In seinem Journal hielt er den Eindruck eines Besuchs fest.
Ernst Zinn begann in den 30er Jahren mit der Konzeption einer philologisch einwandfreien Werkausgabe und wurde damit zum "Begründer der Rilke-Philologie", wie Michael von Albrecht es in seinem Nachruf auf Ernst Zinn 1990 formuliert hat. Doch was war es, was Ernst Zinn an Rilke fasziniert und an ihn gebunden hat? Schließlich wählte er nicht die Germanistik zu seinem eigentlichen Beruf, sondern wurde 1936 mit einer Arbeit zum "Wortakzent in den lyrischen Versen des Horaz" promoviert. Horaz und Rilke - bei aller Vielfalt im Werk Ernst Zinns bilden sie doch so etwas wie die Brennpunkte seines Schaffens. Was ist es, was ausgerechnet diese beiden Dichter verbindet?
Heft 30 der Rilke-Blätter enthält Vorträge der Tagung der Rilke-Gesellschaft in Paris und des Rilke-Treffens in Wolfenbüttel. "'Vivre n'est qu'un écho' - Rilke à Paris 1920/1925" war das Thema der 35. Tagung der Internationalen Rilke-Gesellschaft (17.-21. September 2008), die in Zusammenarbeit mit der Université de la Sorbonne Nouvelle - Paris III veranstaltet wurde. [...] Das Rilke-Treffen in Wolfenbüttel (18.-25. September 2009) beschäftigte sich in Vorträgen und Arbeitsgruppen mit Rilkes "Neuen Gedichten". Einige der dort gehaltenen Referate wurden für diesen Band übernommen. Die Dokumentation enthält bislang unveröffentlichte Stücke aus dem Briefwechsel von und über Rilke.
Den folgenden Ausführungen geht es nicht primär um eine Exegese des Trauerspielbuches und auch nicht um die traurige Geschichte seiner Rezeption, die Klaus Garber und Uwe Steiner an anderer Stelle dargestellt haben. Sie zielen eher darauf ab, aus Benjamins Denken relevante und immer noch kaum abgegoltene Perspektiven für das Verstehen des Barock zu erarbeiten und insbesondere eine Alternative zur weitgehenden Verdrängung oder Einhegung der Religion in der literaturwisenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit zu entwickeln. Denn Benjamins Überlegungen zur Kratürlichkeit, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen des Trauerspielbuches finden, stellen das freilich problematisch gewordene Religiöse präzise in das Zentrum der barocken Spiegelstruktur.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Rezension zu Monica Klaus: Johanna Kinkel, Romantik und Revolution. (Europäische Komponistinnen, Bd. 7.) Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2008. Liebe treue Johanna! Liebster Gottit! Der Briefwechsel zwischen Gottfried und Johanna Kinkel 1840‑1858. Bearbeitet von Monica Klaus. 3 Bände. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bde. 67, 68 und 69.) Bonn: Stadt Bonn, 2008.
Rezension zu Christoph Suin de Boutemard (Hg.): Band 1: Heinrich Albert Oppermann. Zivilgesellschaftliches Handeln in historischer und aktueller Perspektive. St. Ingbert: Röhrig, 2007. Band 2: "Von Deutschen überhaupt". Mentalitätswandel zwischen aufklärerischem Kosmopolitismus und Nationalismus. St. Ingbert: Röhrig, 2009.
Dass der den industriellen Fortschritt und ganz besonders das noch in den Kinderschuhen stehende Eisenbahnwesen emphatisch begrüßende Börne im Rahmen des Jahrbuchs 2008 kaum Erwähnung gefunden hat, dürfte nicht zuletzt auf das totale Ignorieren seines Namens in Wolfgang Schivelbuschs "Geschichte der Eisenbahnreise" zurückzuführen sein, des Referenzwerks verschiedener Beiträger dieses Jahrbuchs. Diese Lücke wenigstens ansatzweise auszufüllen, gilt der folgende Versuch.
Außer der historischen Rechtsschule spielen die Rechtsüberlegungen des politischen Liberalismus im Vormärz eine bedeutende Rolle. Dessen wichtigstes Publikationsorgan ist das Rotteck-Welckersche "Staatslexikon", das Eva Maria Werner vorstellt. Die Entstehungsgeschichte, die Konzeption, die Autoren, die dort verhandelten Themen, aber auch die Wirkung und Bedeutung dieses 'Glaubensbekenntnisses' des Liberalismus werden dargestellt. Liberale Rechtsvorstellungen werden im "Staatslexikon" sowohl in übergeordneten wie auch in speziellen Beiträgen thematisiert. So werden rechtstheoretische und -philosophische Themen im Aufsatz "Gerechtigkeit und Recht und Unterschiede des Rechts von der Moral" oder im Artikel "Naturrecht, Vernunftrecht, Rechtsphilosophie und positives Recht" aufgegriffen, während konkrete rechtspraktische Themen etwa im Artikel "Proceß" verhandelt werden.
Christoph Schmitt-Maaß beschreibt, dass vor dem Hintergrund der Ideen der historischen Rechtsschule und der Studien der Brüder Grimm eine spezifische Poetologie im Gefüge von Rechtsgeschichte, Sprachwissenschaft und Nationalliteratur entsteht, die für die Herausbildung der 'Kulturnation' eine wichtige Bedeutung zukomme. Die Durchdringung von Rechts-, Wissenschafts- und Dichtersprache erweise sich an einem Kulminationspunkt der deutschen Geschichte als bewusstseinsstiftend, insofern sich noch viele Vormärzschriftsteller im Kontext von Recht, Sprache und Poesie auf von Savigny bezögen und dessen Poetologie fortschrieben, auch wenn sie längst zur Chiffre geworden sei. Schmitt-Maaß illustriert diese Wirkungsgeschichte von Savignys und der Brüder Grimm am Beispiel von Heinrich Heine und Hoffmann von Fallersleben. Während Heine eine kritische Distanz zu den rechtshistorischen Positionen der historischen Rechtsschule einnehme, begreife Hoffmann von Fallersleben, dessen liberale Auffassungen eng mit der mittelalterlichen Literatur, etwa Walthers von der Vogelweide, in Verbindung gesetzt würden, die Aufgabe von Dichtung als Politik, die sich aus der Gemeinsamkeit von Recht und Poesie im 'germanischen' Altertum ergebe. Schmitt-Maaß weist nach, wie Literatur, Literaturgeschichtsschreibung und Jurisprudenz im Vormärz zusammentreten.
Jacob Grimm, der die Vorlesungen von Savignys in Marburg besucht hatte, führte dessen Ansatz fort, etwa im Beitrag "Von der Poesie im Rechte", auf den Kaspar Renner ausführlich eingeht. Renner analysiert sowohl die Argumentation wie auch die Bildlichkeit des Aufsatzes und beschreibt, weshalb die Sprache des germanischen Rechts für den jungen Philologen als poetisch gilt und warum dieser ein ursprünglich angenommenes Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Wörtern und den Dingen annimmt. Grimms Poesievorstellung lässt sich, Renner zufolge, aus seinem etymologischen Sprach- und Geschichtsbegriff erklären, welcher sich um die Figur des Ursprungs zentriert. Renner veranschaulicht, wie die Etymologie in Grimms Argumentation abgelöst wird von topischen Verfahren der Historiographie, welche die Geschichte konsequent in räumliche Konfigurationen überführen. Die Verwandtschaft von Recht und Poesie wird dann im gleichen Zuge metaphorisch ersetzt durch die Vorstellung ihrer 'Nachbarschaft'. Dabei greife Grimm auf grammatische und lexikographische Verfahren zurück, die in den "Deutschen Rechtsalterthümern" dokumentiert seien.
Peter Rippmann zeigt, wie Jeremias Gotthelf die irdische Jurisprudenz diskreditiert, um eine göttliche Gerechtigkeit zu inthronisieren. Gotthelf, der die zunehmende politische Radikalisierung des öffentlichen Lebens als verhängnisvoll für eine christlich definierte Gesellschaft verstand, nutzte die Kritik an den Rechtsinstanzen, die er in seinen literarischen Texten nicht selten in auktorialen Kommentaren deutlich formulierte, um eine alternative Gerechtigkeitsvorstellung zu empfehlen. Gotthelfs christliche Ansichten verbinden sich mit konservativen kriminalpolitischen Ansichten, die etwa in die Befürwortung der Todesstrafe münden. Über die Kritik strafrechtlicher Entscheidungen hinaus moniert er das Versagen juristischer Institutionen, etwa des Richterstandes, und die Mängel in der Rechtspraxis und stellt gar die Zuständigkeit weltlicher rechtlicher Instanzen in Frage, die nicht ihre Grundssätze im höchsten göttlichen Richter fänden. Nichtsdestotrotz verhandelt Gotthelf in seiner Rechtskritik auch konkrete Probleme, etwa im Bereich des Erbrechts und der Verdingkinder.
Barbara Tumfart beschäftigt sich mit den literarischen Verhandlungen des Raubmordes des polnischen Adligen Severin von Jaroszynski am Geistlichen Johann Conrad Blank in Wien. Die der Untersuchung zugrunde gelegten Texte von Adolph Bäuerle und Carl Haffner bieten allen voran eine sensationslüsterne Darstellung des Verbrechens und fokussieren auch das Privatleben der Wiener Schauspielerin Therese Krones, die mit Jaroszynski befreundet war. Die Schilderung eines Verbrechens entwickelt sich in diesen Texten zu einer skandalösen Geschichte aus dem Milieu des Theaters. Die in den Texten offensichtlichen Mythisierungsstrategien folgen den ästhetischen Prämissen der Unterhaltungsliteratur. Dass die Geschehnisse aufgegriffen werden, belegt andererseits auch, dass die Verkündigung des Urteils und die Hinrichtung Jaroszynskis durch Erhängen an der Spinnerin am Kreuz ein vielbeachtetes gesellschaftliches Ereignis war, das eben auch Eingang in die Unterhaltungsliteratur fand.
Betrachtet man die literarischen Beispiele von Strafprozessgeschichten im Vormärz, so wird ersichtlich, wie eng die vormärzliche Kriminalliteratur an die Pitaval-Tradition anschließt. Der Reiz der Pitaval-Sammlungen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bestand ja auch darin, dass der Leser Einsicht in die Abläufe des ansonsten nicht öffentlichen Gerichtswesens erhielt. Dies änderte sich auch nicht, als beginnend mit dem kontrovers diskutierten Strafrechtsprozess um Peter Anton Fonk, der von 1816 an über Jahre Gesprächsthema der gesellschaftlichen Zirkel Berlins war und der vor einem öffentlichen Geschworenengericht stattfand, Gerichtsprozesse in einigen deutschen Staaten, zuerst auf linksrheinischen Gebieten, öffentlich debattiert wurden. Das hatte zur Folge, dass, wie Anna Busch nachweist, den Gerichtsverhandlungen Redakteure unterschiedlichster Zeitungen und Zeitschriften beiwohnten, die täglich mit wortwörtlichen Auszügen aus der Verhandlung über den Fortgang des Prozesses berichteten. Die Tagespresse sei voll von Fonk und von Mutmaßungen über seine Schuld oder Unschuld gewesen. Hitzig erwähnt in seinem Repertorium zu den "Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege" von 1837 mehr als 20 selbständige Veröffentlichungen zum Fall Fonk. Damit zeigt sich übrigens, dass Studien zum Thema 'Literatur und Recht im Vormärz' auch einen Beitrag zur Beschreibung der öffentlichen Meinung ab den 1820er Jahren leisten können: Die Schriften zu den Prozessen kommentierten nicht nur Gerichtsurteile, sondern sie versuchten, gezielt Einfluss auf Gerichtsprozesse im laufenden Verfahren zu nehmen, und sie bezogen nicht selten auf diese Art liberale und demokratische Positionen, die politisieren konnten. Die Diskussion von Rechtsfällen entwickelte sich entsprechend nicht selten zu Mahnungen vor Willkür, so dass Herrscher gelegentlich von ihrem Rechte Gebrauch machten, Urteile rückgängig zu machen - etwa als Friedrich Wilhelm III. im Fall Fonk das Urteil per Kabinettsordre kassierte, wobei der König sich auch selbst auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Eingaben bezog, die im Ministerium eingegangen waren. Unter solchen Gesichtspunkten ist die Funktionszuschreibung von Literatur im Vormärz zu betrachten, bei der selbst der Unterhaltungslektüre aus dem Kriminalgenre eine politisierende Kommentaraufgabe zukommen konnte. Auch sind die literarischen Verhandlungen von Recht, wie Anna Busch nachweist, im Rahmen einer neu entstehenden vormärzlichen Debattenkultur zu lesen.
Ein Aspekt im wechselseitigen Verhältnis von Literatur und Recht betrifft die Beschreibung erzählter Kriminalität. Besondere Aufmerksamkeit hat die ab 1842 erscheinende 'Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit' "Neuer Pitaval" gefunden, die in 60 Bänden von Willibald Alexis und Julius Eduard Hitzig herausgegeben worden war. Im Beitrag von Joachim Linder wird darauf eingegangen, wie die Fallbeispiele im "Neuen Pitaval" zu literarischen Verhandlungen anregen oder selbst zur beliebten Unterhaltungslektüre werden. Joachim Linder verdeutlicht die Bedeutung dieses Interesses für die Entstehung eines neuen Genres, die deutschsprachige Kriminalerzählung, und geht am Beispiel der Erzählung "Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten", die zuerst 1828 in Fortsetzungen im "Mitternachtblatt für gebildete Stände" erschienen war, auf gattungstypologische Überlegungen ein. Linder korreliert die Entstehung des Genres mit den Entwicklungen in der Strafjustiz, die in der Literatur genau verhandelt werden. Die Erzählung zeugt dabei von der intensiven Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Formen der Darstellung von Kriminalität und Strafverfolgung und reflektiert die öffentlichen Auseinandersetzungen über die Reform von Strafrecht und Strafverfahren.
Christine Haug streicht die juristische Problematik auf dem Buchmarkt des Nachmärzes heraus und beschreibt die fortschreitende Globalisierung der Buchmärkte, wobei der Ausbau der internationalen Kommunikations- und Verkehrssysteme wichtige Katalysatoren waren. Haug verdeutlicht am Beispiel des New Yorker Buchhändlers und Verlegers Ernst Steiger, der in Süddeutschland zu den Vertretern der sogenannten 'speculativen Richtung' des Buchhandels gehörte, zum einen das Urheberrechtsverständnis auf dem deutschsprachigen Buchmarkt und zum anderen die Irritationen, die sich auf Verleger-, vor allem aber auf Schriftstellerseite (Berthold Auerbach, Paul Lindau, Friedrich Spielhagen) in der Konfrontation mit dem amerikanischen Copyright einstellten, als im Zuge der Auswanderungen in die USA die deutschsprachige Literatur sich auf dem amerikanischen Buchmarkt zu etablieren suchte. Das divergierende Rechtsverständnis ist, so wird deutlich, zugleich eng gekoppelt an ästhetische, produktionstechnische und ökonomische Vorstellungen zur Literatur und zum Literaturmarkt, die im Hinblick auf Vormärz-Verlage wie Otto Wigand oder Heinrich Hoff aufschlussreich sind.
Wilfried Sauter beschäftigt sich mit der Frage des staatlichen Strafsystems im Vormärz und ordnet diese Diskussion in den Kontext von Gesellschaftsvorstellungen des politischen Liberalismus ein. Er führt am Beispiel der Lebensgeschichte demokratischer Revolutionäre wie Otto von Corvin, August Röckel, Otto Leonhard Heubner, Julius Füeßlin, Theodor Mögling, Gottfried Kinkel, Georg Friedrich Schlatter und August Peters, die wegen ihrer Teilnahme an den revolutionären Bewegungen des Jahres 1849 zu Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, vor, wie diese mit den Bedingungen ihrer langjährigen Haft umgingen und in Veröffentlichungen darstellten. Die Umstände des Strafvollzugs, wozu insbesondere die Schreibbedingungen gehörten, und die Reformbemühungen, etwa zur Einzelhaft, sind konsequenterweise Thema jener bereits im Gefängnis entstandenen oder viele Jahre später erschienenen Schriften, die sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen, von der Rechtfertigung über den Dank an Freunde bis hin zur Rechtskritik.
Holger Steinberg und Sebastian Schmideler stellen zum Fall Woyzeck die Gutachten und die Urfassungen der beiden Todesurteile des Schöppenstuhls, die wichtigste juristische und medizinische Diskussionsgrundlage des gesamten Prozesses, vor. Die Todesurteile sowie die Gutachten, darunter jenes des Stadtphysikus' Johann Christian August Clarus, werden medizin- und insbesondere psychiatriehistorisch eingeordnet. Bemerkenswert ist das Sondervotum des Kronprätendenten Friedrich August von Sachsen, der Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Woyzecks hegt und die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Zuchthausstrafe fordert. Schließlich wird das im Prozess entscheidende Dokument, das bis vor kurzem verschollen geglaubte, aber in einer Abschrift in der Universität Leipzig Gutachten der Medizinischen Fakultät diskutiert. Die beschriebenen Dokumente geben Einsicht in die Diskussion um das Verhältnis von Recht, Publizistik/Literatur und Gesellschaft in den 1820er Jahren - löste der Fall Woyzeck doch eine von der medizinischen, juristischen und politischen Fachöffentlichkeit heftig geführte gesellschaftliche Debatte aus, zu deren Rekonstruktion die im Beitrag stattfindende Darstellung der Archivmaterialien beiträgt.
Gutachterlichkeit
(2010)
Michael Niehaus bezeichnet mit dem Begriff der Gutachterlichkeit die Sprechweise, in der sich die Subjektposition des Gutachters niederschlägt. Er skizziert und diskutiert den kriminalpsychologischen Diskurs über die Zurechnungsfähigkeit des Täters, insbesondere auch den Ansatz von Johann Christian August Heinroth. Die Logik der Textsorte Gutachten im Vormärz betrachtend, stellt Niehaus Ähnlichkeiten zur literarischen Fallgeschichte fest. Dies wird am Beispiel der Darstellung einer Giftmischerin in der "Geheimräthin Ursinus" aus dem "Neuen Pitaval" und am Fall Woyzeck vorgeführt. Es zeigt sich, dass die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Täters das Literatur- mit dem Rechtssystems verbindet, insofern Gutachten dazu tendieren, den Delinquenten nicht nur hinsichtlich seiner Zurechnungsfähigkeit im Augenblicke der Tat zu beurteilen, sondern auch hinsichtlich seiner Verantwortlichkeit für seine Lebensführung, die zu der Tat geführt hat. Die Gutachten werden dann geradezu literarisch, während die Literatur gutachterlich wird.
Schwerpunktthema des vorliegenden Jahrbuches des FVF ist das Verhältnis von Literatur und Recht im Vormärz, ein seit den Anfängen der Vormärzforschung zentraler und kontinuierlich bearbeiteter Problemaufriss mit hoher Relevanz für das Verständnis der Literatur nach den Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819. Die hier versammelten Beiträge stehen daher einerseits in der Kontinuität bisheriger Beschreibungsmodelle vormärzlicher Literatur. Sie beschreiten andererseits neue Wege, insofern sie das traditionell auf die Zensur fokussierte Interesse am Verhältnis von Literatur und Recht erweitern. Sie knüpfen zudem an die vielfältigen Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Recht und Literatur im Allgemeinen an, die in den letzten Jahren unter dem anregenden Impuls der "Law-and-Literature"-Bewegung in den Literatur- und Geisteswissenschaften ein besonderes Interesse hervorgerufen haben. Es ist folgerichtig, dass das FVF auch diese Ansätze aufgreift, abwägt und für seinen Gegenstand fruchtbar macht.
Schwerpunktthema des vorliegenden Jahrbuches des FVF ist das Verhältnis von Literatur und Recht im Vormärz, ein seit den Anfängen der Vormärzforschung zentraler und kontinuierlich bearbeiteter Problemaufriss mit hoher Relevanz für das Verständnis der Literatur nach den Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819. Die hier versammelten Beiträge stehen daher einerseits in der Kontinuität bisheriger Beschreibungsmodelle vormärzlicher Literatur. Sie beschreiten andererseits neue Wege, insofern sie das traditionell auf die Zensur fokussierte Interesse am Verhältnis von Literatur und Recht erweitern. Sie knüpfen zudem an die vielfältigen Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Recht und Literatur im Allgemeinen an, die in den letzten Jahren unter dem anregenden Impuls der "Law-and-Literature"-Bewegung in den Literatur- und Geisteswissenschaften ein besonderes Interesse hervorgerufen haben. Es ist folgerichtig, dass das FVF auch diese Ansätze aufgreift, abwägt und für seinen Gegenstand fruchtbar macht.
An Lessing und Lenz lässt sich zeigen, dass die Modernisierungsbewegung kontingenter verläuft, als es die soziologische Theorie glauben möchte, und dass sie den überlieferten Formen der Heiratsregeln mehr verdankt, als auf den ersten Blick vielleicht sichtbar wird. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag nicht nur die Familienbilder in den Dramen Lessings und Lenz' auf dem Übergang in die Moderne zur Darstellung bringen. Der vergleichende Blick auf das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama will zugleich den Blick für den mythischen Kern schärfen, der im Familiendrama verhandelt wird. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf den Ort der Familie im antiken Drama zu werfen, um darauf aufbauend anhand von Claude Lévi-Strauss' Untersuchung über "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft" den Kernbereich der Familienbildung, die Heiratsregeln, zu erhellen, bevor auf dieser Grundlage Lessings "Emilia Galotti" und Lenz' "Der Hofmeister" in den Blick rücken.
In Musils essayistischem Erzählstil hat die Erzählinstanz - mehr noch als direkte oder indirekte Figurenrede und Bewusstseinsdarstellung in Form von innerem Monolog oder erlebter Rede - tragenden Anteil an der erzählerischen Figurencharakterisierung. Wie Gunther Martens in seiner narratologisch ausgerichteten Analyse des "Mann ohne Eigenschaften unlängst gezeigt hat", existieren "bei Musil sehr viele erklärende Hinweise auf das Ungewusste und das Unbewusste der Figuren, wobei es sich eher um ein soziales als um ein psychologisches Unbewusstes handelt." Die im Folgenden unternommene Sozioanalyse der in ihrer Relevanz für den gesamten romanesken Handlungsaufbau bisher meist unterschätzten Figur des Generals Stumm von Bordwehr kann über weite Strecken direkt auf die Bemerkungen der Erzählinstanz zurückgreifen und die erhaltenen Informationen durch eine angemessene Berücksichtigung indirekter Charakterisierungsformen sinnvoll ergänzen, denn "Musil charakterisiert seine Nebenfiguren vor allem über ihre unfreiwilligen Tics, Reflexe und Gewohnheiten." [...] Aus den Überlegungen sollte insgesamt Folgendes ersichtlich werden: Die umsichtige literarische Gestaltung eines "zivilen Habitus" sowie das damit einhergehende tölpelhafte Auftreten des "unmilitärischen" Generals, der als Vertreter der "Pastoralmacht" im Romankontext eine figurale Verkörperung des "strukturellen Herrschaftsmodus" der Moderne darstellt, ermöglichen Stumm von Bordwehrs Funktion als "tätiges Werkzeug" des kakanischen Militarismus bzw. als Vertreter der "auf den Krieg hinarbeitenden gesellschaftlichen Kräfte". Mit dieser subtilen literarischen Habitusformung gelingt Musil nicht nur eine erzählerisch überzeugende Motivierung des geplanten romanesken Handlungsverlaufs, sondern zudem eine bestechende Analyse entscheidender sozialer Entwicklungstendenzen des 20. Jahrhunderts.
Die Analyse erzählender Literatur gehört nicht zu den Standards der empirischen Sozialforschung. Eine positivistische Auffassung von "Realität" spricht solchen Texten nämlich soziologischen Erkenntnisgewinn ab. Hier wird aber argumentiert, dass Schriftsteller in der Regel die bestmöglichen Experten für die Vertextlichung von schwer fassbaren Emotionen sind. Ihre Kunstfertigkeit entspricht auch dem Erkenntnisziel der soziologischen Habitusforschung. Darüber hinaus erzeugt erzählende Literatur in der Regel "Stimmungen" oder "Atmosphären". Diese lösen bei den Protagonisten der Geschichten Emotionen aus und besitzen dadurch Handlungsrelevanz. Ein Stimmungskonzept ist in der Soziologie jedoch weitgehend unbekannt. Habitusansätze beschreiben bloß Dispositionen und Haltungen. Sie eignen sich deshalb nicht zur mikrosoziologischen Analyse von Interaktionssituationen, wie etwa von abweichendem Verhalten. Ein bestimmter Habitus macht zwar plausibel, dass etwa mangelnde Selbstkontrolle zu Devianz führt, erklärt jedoch nicht, in welchen Situationen diese auftritt. Hier könnte das Stimmungskonzept als Ergänzung zum Habitusansatz Verwendung finden. Das empirische Untersuchungsmaterial dieser Arbeit stellen die "Lausbubengeschichten" von Ludwig Thoma dar. Diese thematisieren nämlich hauptsächlich abweichendes Verhalten in Form von Autoritätskonflikten und Jugenddevianz auf satirische Art. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, zu untersuchen, wie der Schriftsteller durch Habituskomponenten und Stimmungsbilder eine plausible Darstellung von abweichendem Verhalten erzeugt, die auch erkenntnistheoretische Relevanz für die Soziologie besitzt.
Aus historischen Analysen geht hervor, dass das Offizierskorps der österreichischen Armee nach der März-Revolution 1848 gesellschaftlich abgekapselt und isoliert war und dabei einen militärisch-aristokratischen Habitus entwickelte, der zu dem bürgerlichen in scharfem Gegensatz stand. Der Korpsgeist orientierte sich am Adel, obwohl gerade der Hochadel sich eher mit den Großbürgern zu arrangieren begann und Heiraten zwischen dem niedrigeren Militäradel und Angehörigen des Hochadels kaum vorkamen. Die Masse der Offiziere wurde bürgerlich und bitterarm, auch zu arm, um heiraten zu können; aber feudale Denkungsart gab den Ton an, ausgenommen in den technischen Waffengattungen der Artillerie und des Pionierwesens, in denen bürgerlicher Wissensdurst vorherrschte. Es entsteht ein in mancher Hinsicht recht paradoxes Bild vom österreichischen Offiziershabitus: das eines Mannes der "Praxis", der eher "grob" ist, für den Exerzieren und Reglement, somit "Disziplin" im engsten Sinne, am wichtigsten sind, der aber trotz aller Tapferkeit auf dem Schlachtfeld zu strategischer Entschlossenheit und schnellem Entscheiden nicht in der Lage ist. Warum das so ist, ist nicht ohne weiteres zu klären. Neben sogenannten "Ego-Dokumenten" ist es vor allem belletristische Literatur, von der man sich einigen Aufschluss erhofft. Insbesondere kann die Literatur helfen, jene Gefühle darstellbar zu machen, die zur Disposition männlicher Todesbereitschaft auch schon im Frieden beitragen, wobei dem Paradoxon des Nebeneinanders von tollkühner "Schneid" und Entscheidungsschwäche wie Passivität im habsburgischen Habitus nachgespürt werden soll.
Der Traum von der Kreativität, den Goethe seinen Werther träumen lässt, beginnt mit der Fixierung auf einen Einzelnen und Ausgezeichneten: "ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer" schreibt Goethes Protagonist am 13. Mai 1771. Werthers anfängliche Orientierung an Homer spiegelt in Goethes Text nicht nur die Vorstellungen einer neuen Dichtergeneration, die Kreativität als Leistung eines einzelnen schöpferischen Individuums bestimmt. Die phantasmatische Form seiner Selbstgründung ist zugleich Ausdruck für eine Grundfigur der deutschen Geistesgeschichte. Sie wird zum Zeichen für eine Neugeburt des ästhetischen wie des politischen Subjekts, dessen Bedeutung neben der Philosophie vor allem die Literatur zu verbürgen scheint.
Christian Lehnerts Libretto zu Hans Werner Henzes Oper "Phaedra" endet im Bild eines Vogels, der sich am Widerstand des Todes wie an einem Aufwind emporschraubt, kreisend und singend "wilder als alles Vergängliche". Er ist Symbol der Kunst, die ungebrochen und unbrechbar die Kraft hat, Versöhnungsbilder des Menschen mit sich und seiner Welt hervorzubringen. Etwa 20 Jahre zuvor läuft Christoph Ransmayrs 1988 erschienener Roman "Die letzte Welt" in die Vision einer aufblühenden Welt aus, und zwei entsetzlich erniedrigte junge Frauen sowie ihr blutdurstiger Verfolger schwingen sich - im Augenblick der zum Mord geschwungenen Axt verwandelt in Nachtigall, Schwalbe und Wiedehopf - als Vögel in einen "nachtblauen Himmel" (S. 284). Ransmayr zitiert in diesem Aufschwung eine Episode aus den "Metamorphosen" des römischen Klassikers der Augusteischen Zeit, Ovid. Damit stellt er sich in eine große Tradition, denn diese Dichtung diente dem Mittelalter als Kompendium des mythologischen und historischen Wissens der Antike, und auch später bediente sich die europäische Weltliteratur immer wieder aus diesem Fundus, der die Masse und Vielfalt der griechischen und römischen Mythen und anderes Erzählgut verschiedener Herkunft und literarischer Ausprägung spätzeitlich zusammenfasste und organisierte.
Tiere stellen im Werk und Denken Elias Canettis eine ebenso zentrale wie komplexe Bezugsgröße dar, die nicht nur im Kontext der zeit- und menschheitsgeschichtlichen Diagnostik von "Masse und Macht" und im Zusammenhang mit dem für ihn zentralen Begriff der Verwandlung, sondern auch in seinen Aufzeichnungen eine entscheidende Rolle spielt. Canetti nimmt damit teil an einer für die Moderne kennzeichnenden Entwicklung, die dazu führt, dass die bis dahin vorherrschende anthropozentrische Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Tier aufgegeben wird. Schon im 19. Jahrhundert rückt das Tier - trotz Kants weitgehender Affirmation der cartesischen Bestimmung des Tiers als einer Sache - dem Menschen zunehmend näher, zum einen bedingt durch die fortschreitende naturwissenschaftliche Abwendung von den bis dahin gültigen Klassifikationen, zum andern veranlasst durch die Umwälzungen der Darwinschen Evolutionstheorie. Nicht zufällig lassen sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts dann vielfältige Versuche und Formen ausfindig machen, die die Transgression von Mensch und Tier zu gestalten suchen und die bis dahin geltenden, gleichermaßen klaren wie starren Grenzziehungen unterlaufen und in Frage stellen, eine Entwicklung, die sich im 20. Jahrhundert noch einmal verstärkt
Unter eine im November 1938 von Mies Blomsmarasch dahingeworfen Karikatur von Joseph Roth, die ihn als derangierten Trinker hinter einer Siphonflasche und zwei halbgefüllten Gläsern zeigt (siehe S. 289), schreibt dieser in seiner krakeligen Schrift: "Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit." Man könnte noch hinzufügen: allerdings auch ein Lügner. Vielfältige und variantenreiche Geschichten hat er über sein Leben erzählt und sich mit dem "romantischen" Menschen gleichgestellt, der "wie ein offener Garten [ist], in dem die Wahrheit nach Belieben ein und aus geht". Allein von "dreizehn verschiedenen Versionen über die Identität seines Vaters" weiß sein Biograph David Bronsen zu berichten. Auch bekräftigte Roth, Leutnant gewesen zu sein, gab sich jedoch nachher wieder als Einjährig-Freiwilliger aus; in den zwanziger Jahren gerierte er sich als Sozialist, unterzeichnete seine Beiträge für die Zeitschrift "Vorwärts" mit "Der rote Joseph". Ein Jahrzehnt später hingegen agierte er als Monarchist, der mit entschiedenem Nachdruck auf der Restitution des untergegangenen Habsburger Reichs beharrte. So schrieb er 1933 an Stefan Zweig: "Ich will die Monarchie wieder haben und ich will es sagen." In der Schwebe blieb sogar seine Konfession; mal gab er sich als Jude, mal als Katholik aus. Kaum verwunderlich ist es also, dass er mit seiner 'gespaltenen Zunge' seine Mitmenschen wieder und wieder verwirrte.
Paul Scheerbarts astrale Hermeneutik : Vorschlag zu einer Bestimmung des Begriffs "Neoromantik"
(2010)
Im Februar 1904 erscheint in der Zeitschrift "Kunst" eine Reihe von Zeichnungen Paul Scheerbarts unter dem Titel "Der magnetische Spiegel". Eingebettet in einen pseudodokumentarischen Rahmentext illustrieren Kopffüßler und andere groteske Kreaturen den Erfahrungsbericht eines optisch-physikalischen Versuchs. Mit Hilfe einer in Schottland entdeckten Bauanleitung konstruiert der namenlose Berichterstatter einen magnetischen Spiegel, der ihm den Blick auf eine neue Kunst ermöglicht:
Rein äußerlich betrachtet, sind die geheimnisvollen Spiegel ganz einfache, spiegelnde Metallplatten. Wird nun die nach der Vorschrift hergestellte Metallplatte zur Erdbebenzeit in die richtige Lage gebracht, so zeigt sich bei Beobachtung der Platte mit eigens präparierter Lupe ein Bild von besonderer Anziehungskraft. Und wer diese Bilder in den Hauptzügen richtig zu kopieren vermag, der hat die "neue Kunst" entdeckt.
Magnetismus und 'neue Kunst' verweisen auf eine romantische Poetik und deren Projekt einer wissenschaftlichen Erforschung des Paranormalen; ein solches Amalgam von Technologie und esoterischem Wissen zielt auf eine naturwissenschaftliche Metaphysik und die Sichtbarmachung des Unsichtbaren.
Fensterszenen in der Literatur haben bislang wenig Interesse geweckt, sie gehören gewissermaßen fraglos zum Inventar des Interieurs und seiner Darstellung. Literarische Fensterszenen sind ja auch bei weitem unscheinbarer als diejenigen, die sich, von der Kunstwissenschaft durchaus beachtet, als 'gerahmte Rahmung' in der Malerei einstellen. Um den Umriß meines Themas anzudeuten, wende ich mich zu Beginn einem der berühmtesten Texte des 20. Jahrhunderts zu; nämlich Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil", die mit einer solchen Fensterszene ihren Anfang nimmt. Es heißt da:
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. (KKA D,43)
"Und, was das komische Fach angeht, lassen wir uns durch irgend etwas zum Wiehern bringen, was nicht plump und dick aufgetragen und dann noch dreimal unterstrichen ist?", fragte einst Richard Alewyn rhetorisch und hielt Hugo von Hof mannsthal postum für "berufen […], eine deutsche Lustspielbühne" gewissermaßen jenseits plumpen Wieherns zu schaffen. Seither ist zu Hofmannsthals Komödien nicht wenig geforscht worden; erstaunlich selten aber finden sich Arbeiten, die genauer nach der Komik in seinen Lustspielen fragen. Die meisten Untersuchungen greifen dramaturgische, historische, auch gesellschaftskritisch-politische oder motivliche Spezialaspekte heraus und stellen wichtige Interpretationsangebote auch zum "Unbestechlichen" zusammen. Auf Seiten der Komik- und Humor-Forschung ist das Bild nicht anders; bei der Suche nach Beispielen für systematisch interessante Lachanlässe in Theaterstücken fällt der Blick kaum je auf Hofmannsthal.
In einer Sonntagsnachmittagsvorstellung veranstaltete der "Verband der Freien Volksbühnen" im Februar 1915 eine "Jedermann"-Aufführung im Haus des »Deutschen Theaters« in Berlin. Die "Freie Volksbühne Berlin" war 1890 von der deutschen Arbeiterbewegung gegründet worden. Sie verstand sich als Besucherorganisation, die ihren Mitgliedern zu stark ermäßigten Preisen Theateraufführungen anbot. Der einflussreiche Theaterdirektor Otto Brahm (1856-1912) stand zunächst an der Spitze der Organisation, tatkräftig von dem streitbaren Bruno Wille (1860-1928) unterstützt, der hier eine Möglichkeit sah, seine Ideale einer in jeder Hinsicht freien Kunst zu verwirklichen und einem dezidiert als 'proletarisch' angesprochenen Publikum zu vermitteln. Brahm, früher Leiter des "Deutschen Theaters" in Berlin, wollte sein Programm vor allem mit Stücken profilieren, die von der Zensur verboten oder der Politik missliebig waren.
"Warum muß der Wachtmeister Anton Lerch sterben? Warum muß er so sterben? Nicht den Tod, auf den er vorbereitet ist, einen glorreichen Tod vor dem Feind, sondern - niedergeschossen wie ein Hund von der Pistole seines eigenen Kommandeurs, einen schimpflichen, einen unnützen, einen grausamen Tod?" - Mit diesen Fragen beginnt Richard Alewyn seine Deutung von Hofmannsthals 1899 erschienener "Reitergeschichte" und tatsächlich stellen sie sich unweigerlich. Um sie zu beantworten, muss die Erzählung von Beginn an nach denjenigen Momenten des Ungehorsams und der Insubordination durchsucht werden, die die tödliche Bestrafung des Wachtmeisters durch seinen Kommandeur aus militärischer Sicht möglicherweise rechtfertigen. Begreifen lässt sich das Geschehen jedoch erst, wenn auch die Motive, die verborgenen Wünsche und Begierden hinter den Handlungen der zwei Widersacher aufgedeckt werden.
Dieser Beitrag sucht einen bescheidenen Anfang zu machen, indem er in diplomatischer Transkription jene Briefe dokumentiert, die Vollmoeller und Hofmannsthal austauschten, und welche heute vornehmlich in der Bibliothek des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt (FDH) aufbewahrt werden. Die sieben Briefe Vollmoellers stammen aus den Jahren 1903 bis 1925, drei Briefe Hofmannsthals an Vollmoeller aus dem Jahr 1927 liegen in Abschriften vor. Hinzu kommt noch ein Kondolenzschreiben Vollmoellers an Christiane von Hofmannsthal-Zimmer, datiert auf den 19. Juli 1929.
Im Sommer 1913 folgt Elsa Bruckmann, geb. Prinzessin Cantacuzène einem Rat Rudolf Kassners und reist mit ihrem Gatten Hugo das Paar hatte am 24. November 1898 in Starnberg geheiratet - Anfang Juli nach Noordwijk aan Zee, um hier, im "am schönsten gelegenen Badeort der holländischen Küste", nach längerer Krankheit Stärkung zu suchen. Die regen- und sturmreichen Wochen "am nordischen Meer" mit seinem melancholischen "feuchten Grau" inspirieren sie zu fruchtbarem lyrischen Schaffen und lassen den Wunsch aufkommen, den am Ort wohnenden Dichter Albert Verwey kennenzulernen. So bittet sie dessen alte Münchner Freundin Hanna Wolfskehl um Vermittlung, die "diese Anfrage gleich" weiterleitet und dem Ehepaar Verwey die unbekannten Gäste in liebevoller Ausführlichkeit vorstellt:
Also Herr Direktor Bruckmann ist einer der ersten Verleger Deutschlands […] aus einer ächten alten Münchner Patrizier-Familie! seine Frau ist aber die Seele des Unternehmens! sie ist eine geborene Prinzessin Cantaguzeno […] hat den größten officiellen Salon für Kunst! sie war die Egeria von Hofmannsthal, sie ist eine Freundin von Klages! Karl und ich lieben sie sehr weil sie so eine richtige Frau und Dame ist und lieb dabei – sogar Stefan George hat sie gern. Gundolf verehrt sie sehr u.s.w. und ihr Neffe der junge Hellingrath ist der, der den Hölderlin neu herausgiebt. Den Winter sah ich sie wenig weil sie viel krank war. Nun ist sie zur Erholung an der See! Also wenn Sie wollen dann lassen Sie sie bitten! Ja so – den Mann auch! der versteht seine Sache wohl sehr aber alle Menschen reden nur von ihr.
"[…] sie war die Egeria von Hofmannsthal" - eine heute wohl überraschende Antonomasie, bei der offen bleibt, ob sie Elsa Bruckmann oder Hanna Wolfskehl nach deren Erzählung gefunden hat.
Hofmannsthal 18/2010
(2010)
The political, the urban, and the cosmopolitan : the 1970s generation in Romanian-German poetry
(2010)
This study is an introduction to the body of work produced by the German poets who were born during or after World War II in Romania and whose almost simultaneous debut lies in the relatively liberal period 1965 – 1971. Helped onto the Romanian-German literary scene by a propitious environment and informed by the socialist ideology they were born “into,” the poets born between 1942 and 1955 formed a remarkable generation unit which sought to significantly renew German-language literature in Romania. Rejecting identification with the insulary Romanian-German communities, the young poets strove to create a socially and politically relevant verse expressing an urban and cosmopolitan attitude. The growing nationalist rhetoric and isolationist stance of Romania's regime and the material and psychological hardships endured by its population through the 1970s and 80s forced the generation to revise its incipient enthusiasm for Romanian socialism. Increasingly, the poets' work came to depict the threatened existence of the German minority and the harsh general living conditions in Romania and to provide an alternative to the absurd official proclamations of a “golden age” under Ceauşescu, despite the poetry's growing reliance on obscuring literary techniques. The emigration of most of the generation members in the mid to late 1980s brought about the eventual unravelling of the generation unit and marks the end of my study. By following the evolution of three themes – social and political engagement, the German minority, and the urban environment – which define the poets as a generation throughout their literary careers in Romania, the analysis illuminates not only the generation's development from identification with Romanian socialism and rejection of the German minority to criticism of the country's policies and a renewed interest in the fate of the German community but also the changing possibilities and limits of literary expression under communism. In addition to providing an introduction to the body of work created by the 1970s generation in Romania, the study also expands the understanding of German literature in the 20th century by providing new material on literature written under totalitarianism and of intercultural German literature.
Pathosforschung
(2010)
In Menschenobhut können junge von Menschenhand aufgezogene Dachse sehr zahm werden. Daher kennt man eine Eigenheit der Dachsheit, auf die es mir hier ankommt: Man kann Dachse nur bedingt erziehen. Sie reagieren nämlich nicht auf negative Verstärker, wie man im Fachjargon all jene Bestrafungstechniken von Ausschimpfen, Futterentzug über Prügel bis zu Elektroschocks nennt, die immer noch die Grundlage fast jeder Dressur, sei es im Zirkus, im Pferdesport oder Hundespektakel bilden. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt ist an dieser Eigenheit des Dachses im Falle seines von Hand aufgezogenen zahmen Dachses schier verzweifelt, bis er erkannte: Dass es Tiere gibt, die die Reaktion auf den negativen Verstärker nicht in ihrem Verhaltensprogramm haben und somit undressierbar sind. Eibl mochte seinen Dachs aber trotzdem, und nachdem er es aufgegeben hatte, dem Dachs das freie Geruchsmarkieren im Haus verbieten zu wollen, gestaltete sich das Zusammenleben auch wieder ohne Verzweiflung. Damit bin ich bei meinem Titel angekommen: Reden wie ein Hund - Pfeifen wie eine Maus - Lernen wie ein Dachs. Über abgebrochene Serien des Tier-Werdens in Kafkas Erzählungen. Das Vorhaben ist der Versuch, anhand dreier Erzählungen Kafkas - nämlich die 'Forschungen eines Hundes', 'Josefine, die Sängerin' und 'Der Bau' - eine Art Entwicklungslinie im Tier-Werden Kafkas aufzuzeigen, die mit dem unerziehbaren Dachs abbricht, aber damit nicht, wie man Kafka oft unterstellt hat, im unentschiedenen Nichts landet, sondern einen Ausweg zeigt, mit dem man leben kann. Das hoffe ich zum Ende deutlich machen zu können.