940 Geschichte Europas
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Aus der Sicht der deutschen Innenpolitik ist heute kaum eine andere inter-nationale Relation so brisant wie das Verhältnis zwischen Türken und Deutschen. Nicht erst seit Sarrazins Buch wird die Herausbildung und strukturelle Verfestigung einer neuen Kategorie des "Inländers", der Kategorie des "Deutschtürken", mit großem Argwohn betrachtet. Aber Sarrazin hat diesen Argwohn angeheizt, indem er das Thema in einer Weise angesprochen hat, die den Maximen der obwaltenden Medien- und Jetzt-rede-ich-Gesellschaft entspricht. Seither wird so laut auf "Klärung" gedrungen, dass selbst auf Verdrängung programmierte Ohren den Ruf nicht überhören können. Die Politik reagiert, will Gutes bewirken oder wenigstens die Scherben zusammenkehren und ruft sich selbst zur "integrationspolitischen" Ordnung. Man kündigt eine neue Offensive an, die sich reibungslos in das Netz der zahllosen Offensiven einfügt, die auf allen möglichen Feldern in unserer Offensivenzeit unternommen wurden und noch kommen werden. Dass die integrationspolitischen Blaupausen, die da entstehen sollen, eigentlich gar nicht von Integration im strikten Sinne, sondern von Assimilation handeln, spielt keine Rolle. Falsa demonstratio non nocet. Unterscheidungen stören nur, und "Multi-Kulti" ist tot, wie jeder weiß oder wissen müsste. ...
"Sozialwissenschaftlich aufschlussreich sind für mich nicht Zustände, sondern Verläufe – oder Zustände nur im Zusammenhang von Verläufen. Theorien, die Strukturen oder Ereignisse als freistehende Unikate in einem feststehenden Ereignis- und Möglichkeitsraum behandeln, können fundamental in die Irre führen. Alles Soziale spielt sich in der Zeit ab, entfaltet sich mit der Zeit und wird in und mit ihr sich selber ähnlicher. Was wir heute sehen, können wir nur verstehen, wenn wir wissen, wie es gestern ausgesehen hat und auf welchem Weg es sich befindet. Alles, was vorfindlich ist, ist immer auf einem Entwicklungspfad unterwegs. Auf diesen kommt es entscheidend an." ...
Wenige Wochen nach dem vergleichsbedingten Fehltritt der Bundesjustizministerin hat sich der Hessische Ministerpräsident, ein mutmaßlicher "kommender Mann" der deutschen Politik, nicht enthalten und erneut historische Parallelen ins politische Spiel gebracht. In diesem Falle ging es nicht um Bush und Hitler, sondern um laufende Vermögenssteuerdebatten und ein geschmacklos-primitives Outing reicher Leute einerseits und andererseits um die Stigmatisierung jüdischer Menschen durch den sogenannten Judenstern. Erneut wogte die Empörung der intellektuell-medialen Teilöffentlichkeit angesichts des "Unvergleichbaren" hoch – eine Dublette an der Grenze zur Groteske, mit dem für unseren Kontext freilich nicht so wichtigen Unterschied, dass Däubler-Gmelin ging und Koch – wie auch anders – blieb. ...
Im Jahre 2002 hat die Thüringer Landesregierung, damals noch von Bernhard Vogel geführt, die Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung ins Leben gerufen. Die Stiftung selbst führt dies auf einen Impuls zurück, den der Buchenwaldhäftling Jorge Semprún anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1994 gegeben habe.1 Die Verleihung erfolgte in Weimar, unweit des Ettersbergs mit seiner doppelten Lagertradition (KZ Buchenwald und Sowjetisches Speziallager Nr. 2). Die Stiftung ist der "vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert und ihrer demokratischen Transformation gewidmet". Die Erwartungen richten sich in besonderem Maße auf "prospektive Geschichtsforschung, die nicht nur Erinnerungsarbeit leistet, sondern darüber hinaus die nachfolgenden Generationen für die latenten Gefährdungen von Freiheit und Demokratie sensibilisiert". In diesem Sinne fühlt sich die Stiftung auch für die "kritische Analyse von Gegenwartsentwicklungen" zuständig. Sie wird von HansJoachim Veen geleitet, über viele Jahre ein führender Kopf des Forschungsinstituts der KonradAdenauer-Stiftung. Mit der Stiftung Ettersberg ist eine weitere zeithistorische Forschungseinrichtung ins Leben gerufen worden, die sich neben den bestehenden Spezialorganisationen in Dresden, München und Potsdam platzieren muss. Besonders in Hinblick auf das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine blanke Funktionsdublette handeln könnte. Natürlich ist eine solche wunderbare Kapazitätsvermehrung nach dem Modus der segmentären Differenzierung alles andere als unproblematisch und es mag allein der Glaube Trost spenden, dass Konkurrenz doch das Geschäft belebt. Jedenfalls wird man genau hinsehen müssen, ob die wissenschaftliche Praxis der kommenden Jahre das Engagement der öffentlichen Hände wirklich rechtfertigen kann. ...
Between the 12th and 16th centuries the Hanseatic merchants obtained extremely important privileges from the rulers of the countries with whom they traded. These secured their commercial and legal status and the autonomy of their staples in Flanders, England, Norway, Denmark and Russia. Within these privileges no other subject receives so extensive a treatment as court procedure. Here, the single most important concern of the Hanseatic merchants was their position in front of alien courts. The article analyses the great attention given to court procedure in the twenty main Hanseatic privileges: What did the merchants require? Which procedural rules were necessary to encourage them to submit their disputes to alien public court instead of taking the matter into their own hands and turning to extra-judicial methods to resolve matters, e.g. cancellation of business relations, boycotts or even trade wars? This analysis suggests that the two most important concerns reflected in the procedural rules were to avoid delay to the next trading trip and to ensure a rational law of proof. The former was addressed by pressing for short-term scheduling and swift judgment and by the dispensation from appearing before the court in person. The latter included avoidance of duels and other ordeals and the attempt to obtain parity by appointing half of the jurors from Hanseatic cities.
In der Forschung zum 18. und 19. Jahrhundert gelten Vereine - zumal in Deutschland - meist immer noch als zentrale Bereiche einer im Prinzip liberalen und zukunftweisenden "Zivilgesellschaft", in der frei von repressivem staatlichem Einfluss und fern von überlebten korporativen Traditionen politische Aushandlungsprozesse im Rahmen einer liberalen Bürgergesellschaft erprobt werden konnten. Das Bild hat freilich einige Risse bekommen [1], die aber bislang eher als ehrwürdige Patina zu fungieren scheinen denn als Anzeichen für grundlegenden Restaurierungsbedarf. Die Arbeit von Stefanie Harrecker lenkt den Blick nun auf eine andere Art Verein, der in vielem wirkungsmächtiger war als die intensiv untersuchten stadtzentrierten liberalen Assoziationen. Der Landwirtschaftliche Verein in Bayern, der 1810 seine Tätigkeit aufnahm, war zwar formal ein privater Verein, wies aber von Anfang an enge personelle und finanzielle Beziehungen zum Staat auf, die sich im Laufe der Zeit eher intensivierten als abschwächten. Ziel des Vereins war einerseits die Produktionssteigerung der Landwirtschaft, etwa durch die Popularisierung neuer Anbaumethoden; andererseits verstand sich der Verein auch als Lobby der Landwirtschaft gegenüber der Regierung, und zwar sowohl im Parlament als auch im öffentlichen Raum, in dem er mit unterschiedlichen Publikationen präsent war. Der Verein hatte regionale Zweigstellen, engagierte sich im Bereich der landwirtschaftlichen Ausbildung, und richtete Feste und Feierlichkeiten aus (darunter das Oktoberfest), in deren Rahmen beispielsweise Vieh gezeigt und prämiert wurde. Angesichts der spannungsreichen Beziehungen zwischen Regierung und Parlament, Staat und Öffentlichkeit im Bayern des 19. Jahrhunderts war klar, dass auch der Landwirtschaftliche Verein keinen ganz stabilen Platz in der informellen Landesverfassung haben konnte. Anfang des 19. Jahrhunderts dominierte die Autonomie, die moderate oppositionelle Tendenzen (die freilich zum guten Teil aus der Verwaltung kamen) einschließen konnte. Das galt vor allem im Rahmen der Diskussion über die Abschaffung des 'Feudalsystems', also die Veränderung der Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse in ländlichen Regionen. Nach intensiver Verwicklung in die politischen Intrigen der frühen 1830er Jahre geriet der Verein, der damals unter Mitgliederschwund litt, unter stärkere staatliche Aufsicht. Diese trug mit dazu bei, dass der Verein 1848/49 die Chance verpasste, zum Sprachrohr der Veränderung zu werden; stattdessen fügte er sich in das Programm der Stärkung eines partikularen Profils Bayerns, das Maximilian II. verfolgte. Selbst Ludwig II. interessierte sich noch hinreichend für den Verein und seine öffentliche Wirkung, so dass er sich für eine Präsentation von preisgekrönten Tieren vor allen Festbesuchern, nicht nur vor den Fachleuten, einsetzte. Die Reichsgründung von 1870 bedeutete zwar nicht das Ende des Landwirtschaftlichen Vereins, wohl aber das seiner herausragenden Bedeutung; die Integration in ein deutsches Netzwerk landwirtschaftlicher Vereine endete mit weitgehendem Relevanzverlust. Die Frage, ob der Verein seinen selbst gesteckten hohen Zielen gerecht wurde, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die Publikationen, die populär waren, waren selten die innovativsten. Überhaupt gab es immer wieder Gelegenheit, über Sinn und Aufgaben des Vereins zu streiten, etwa wenn es darum ging, die Rolle von Festen und Fachmessen abzuwägen. Manche spektakuläre Aktionen (so der Plan, Seidenraupen in Bayern anzusiedeln) gehörten in ihrer praktischen Wirkung nicht gerade zu den Sternstunden der Agrarökonomie. Dagegen spielte der Verein eine erhebliche Rolle bei der Etablierung landwirtschaftlicher Forschungs- und Lehreinrichtungen und bei der Mobilisierung staatlicher Zuschüsse für solche Zwecke. Er engagierte sich für die Belange der bäuerlichen Bevölkerung und bemühte sich - trotz einer erkennbaren München-Fixierung - um eine flächendeckende Versorgung des Landes mit Bibliotheken und lokalen Vereinen. Stefanie Harreckers Buch liefert einen mustergültig recherchierten, abgewogenen Einblick in das Leben eines nicht ganz dem konventionellen Bild entsprechenden Vereins, der zwischen privatem Klub, wissenschaftlicher Gesellschaft und Lobby angesiedelt war. Dabei kommen sowohl die kleinen Vereinsquerelen zur Sprache als auch die Rolle des Vereins im Kontext der landwirtschaftlichen Entwicklung - insofern handelt es sich bei diesem sehr lesenswerten Buch um einen herausragenden Beitrag zur Vernetzung der allgemeinen mit der viel zu stark vernachlässigten Agrargeschichte. Anmerkung: [1] Etwa durch Eckhart Trox: Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und "Militärpartei" in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
The focus of this work, the debate about a body of law dealing with aristocratic issues, is not easy to summarize. This problem stems in part from a topic that historians who do not work on law might be forgiven for considering nonexistent; in part, it has to do with the indirect way in which Dorothee Gottwald engages with current trends in the historiography of nineteenth-century Germany. ...
Im Jahr 1921 kam ein 16-jähriger, ursprünglich aus der Ölstadt Baku stammender jüdischer Reisender namens Lev Nussimbaum in Konstantinopel an. Lev wurde 1905 als Sohn eines Ölunternehmers und einer Mutter mit bolschewistischen Neigungen geboren. 1917 ergriffen Lev und sein Vater – die Mutter war um 1911 gestorben, möglicherweise durch Selbstmord – die Flucht. Ihre Reise führte über Turkmenistan und Persien zunächst in die Türkei, dann nach Frankreich, schließlich in das Deutschland der Weimarer Republik. Dort entdeckte der fast mittellose Student einen Markt für Artikel und (ab 1929) Bücher über den Orient, den er als ›echter‹ Araber bediente. »Essad Bey«, wie er sich seit etwa 1924 nannte, erlangte mit einer Fülle von Publikationen, darunter Biographien Mohammeds und Stalins, internationale Bekanntheit, bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Lage prekär machte. Denn die falsche Familiengeschichte des Konstrukts Essad Bey, dessen Vater angeblich Mohammedaner und dessen Mutter angeblich eine christliche Adelige waren, wurde nun durch missgünstige Konkurrenten genau untersucht und drohte als Fälschung entlarvt zu werden. Während Nussimbaums jüdische Ehefrau nach Amerika auswanderte und sich dort scheiden ließ, ging er selbst zunächst nach Wien, wo er 1937 als »Kurban Said« das später in Aserbeidschan als Nationaldichtung betrachtete Buch »Ali und Nino« verfasste, dann nach Italien, wo er 1941 an einer Wundinfektion starb. ...
Hans von Hentig war ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte. Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Rechtsanwalts Otto Hentig geboren. Dieser hatte zunächst in Berlin praktiziert, bevor er als Spezialist für Wirtschaftsrecht 1893 zum Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg und 1900 zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha wurde; letzteres Amt brachte der Familie die Nobilitierung ein. ...
Spätestens seit dem Jahrtausendwechsel ist auch in der Mediävistik das Genre der selbstreflexiven Gelehrtenbiographie – allem zeitweiligen Abgesang auf historische Biographien zum Trotz – angekommen, wenngleich hierzu eingeschränkt werden muss, dass Leben und Werk ausgesuchter Exponenten der Mittelalterforschung bisher vornehmlich in Qualifikationsschriften junger Historiker, die zudem oftmals ausweislich ihrer universitären Ausbildung schwerpunktmäßig in der Neuzeit, weniger in der mittelalterlichen Geschichte verhaftet sind, Gegenstand der Erkenntnis sind. Zusammenführende Synthesen, aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten selbst (die über die "üblichen" Rezensionen hinausreichen) müssen dagegen als Desiderat angesehen werden. ...