940 Geschichte Europas
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Was könnte Max Stirner, den Propheten des Individual-Anarchismus, mit der Urgestalt des kollektivistischen Anarchismus verbinden? Welche Gemeinsamkeit bestehen zwischen dem Stirner'schen "Mir geht nichts über Mich" und seiner Lobpreisung des "Egoismus" und Bakunins Kampf für die Befreiung der Menschheit? Steht nicht die Stirner'sche Kritik alles Religiösen diametral dem Bakunin'schen Setzen auf eine "neue Religion des Volkes" gegenüber? Ist Bakunin nicht gerade einer jener Freiheitsschwärmer, die Stirner immer wieder polemisch attackiert und - anders herum -, Stirner aus Bakunins Perspektive einer jener Bourgeois-Egoisten, die nur an sich selbst denken und die Idee der Freiheit nicht verstanden haben? Es liegt also mehr als nahe, beide Denker als miteinander unvereinbar zu erklären. Zeigen nicht alleine schon die endlosen Querelen zwischen individualistischen und sozialistischen (kollektivistischen, kommunistischen) Anarchisten, dass hier keinerlei Verbindung möglich ist? Und so, wie wenn von letzteren den ersteren bisweilen abgesprochen wurde, überhaupt Anarchisten zu sein - lässt sich das dann nicht umso mehr in Bezug auf Stirner selbst geltend machen?
Es wird im Folgenden nicht eine Geschichte der erwähnten Querelen innerhalb der anarchistischen Bewegung erzählt werden können, noch wird es im Kern darum gehen, Stirner als Anarchisten auszuweisen. Was dagegen gezeigt werden soll, ist, dass sich das Denken bzw. die Intention Stirners und Bakunins keineswegs derart unvereinbar gegenüber stehen wie oftmals angenommen.
Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) gilt unumstritten als der "Vater der Anarchie". Auf ihn geht die positive Umdeutung des Begriffs "Anarchismus" zurück. Sein Einfluss und seine Bedeutung für die Entstehung des sog. wissenschaftlichen Sozialismus und auf die anarchistische Bewegung in Deutschland sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Er hat darüber hinaus, mehr noch als seine Vorläufer Claude-Henri Saint-Simon und Charles Fourier, größeren Einfluss auf den deutschen Diskurs über Sozialismus gehabt. Der Historiker Max Nettlau erklärte über seine deutsche Rezeption:
Proudhon wurde in Deutschland sehr beachtet, wo damals die radikale Philosophie um Arnold Ruge und Ludwig Feuerbach sich nach einer folgerichtigen Weiterentwicklung auf allen Gebieten sehnte, also dem die Theologie negierenden philosophischen Radikalismus, den den Staat negierenden politischen Radikalismus und die bestehenden Eigentumsverhältnisse negierenden ökonomischen Radikalismus zur Seite zu setzen bereit war.
Als Zeitraum für die Untersuchung seiner Rezeption in Deutschland bietet sich das Vierteljahrhundert von 1840, dem Erscheinungsjahr von Proudhons Studie „Qu’est-ce que la propriété?“, bis zum Jahr 1865, in dem er starb, an.
Für Deutschland gilt nach wie vor, wie Olaf Briese es jüngst formulierte, "dass anarchistische Theorieanalysen aus dem Feld derjenigen kommen, die sich selbst als Anarchisten verstehen." Völlig zutreffend stellt er fest, dass "[u]niversitär-akademisches Milieu und anarchistisches Milieu sich nicht [...] aneinander beflecken [wollen]." Der vorliegende Band hat den Anspruch, diesem Muster nicht zu entsprechen. Er versammelt Beiträge aus beiden "Milieus", wobei insbesondere darauf hinzuweisen ist, dass sich gerade die deutsche Literaturgeschichtsschreibung mit der Thematik Anarchismus in der Literatur bislang so gut wie gar nicht beschäftigt hat. Und sicher wird es auch überraschen, wenn in diesem Kontext neben den explizit philosophischen Bezügen von Autoren wie Friedrich Schlegel, Christian Dietrich Grabbe, Gottfried Keller oder Friedrich Theodor Vischer die Rede ist.