Journal of religious culture = Journal für Religionskultur
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Inhaltsverzeichnis Frau R.s Rückschau nach 25 Jahren Bethel - Religiöse Genossenschaften als prägende Kraft der Diakonie (bis ca. 1965) - Arbeitsschritte I. Der Patriarchalismus der Gründergeneration und ihrer Erben - Familienprinzip, Mutterhaus, Anstaltshaus - Das Pflegehaus Hebron als Beispiel - Religiöse Vormundschaft II. Das Ende der religiösen Bevormundung (um 1970) - Die Nachwuchskrise der Mutterhäuser - Veränderte Lebensentwürfe junger, christlicher Frauen in der Nachkriegszeit - Reaktionen Sareptas und Nazareths auf ihren Bedeutungsverlust im Betheler Anstaltsgefüge nach 1968 - Gastarbeiterinnen für die Hauswirtschaft (1960) - „Zivile Kräfte“ im Pflegebereich (um 1965) - Mangel an Fachlichkeit, Kooperationsbereitschaft und Kritikvermögen: Ein Votum für die Abschaffung der Hausväter in der Jugendhilfe (1970) - Neue Konzepte im Konflikt mit tradierter Religiosität III. Religiöse Selbstverantwortung und diakonische Unternehmensidentität - Entwicklungen in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel seit 1983 - Thesen zur gegenwärtigen Situation
99
Wie aus den angeführten Informationen hervorgeht, hatten die vorislamischen Araber, obwohl allgemein Rechtsunsicherheit bei ihnen herrschte und es keine von allen Parteien anerkannten gerichtlichen und administrativen Instanzen gab, einige strafrechtliche Institutionen. Sie suchten Lösungen für ihre Streitigkeiten bei bestimmten Personen, die Êai¿, sayyid und kÁhin genannt wurden. Man weiß auch, dass einige Stammesoberhäupter richterliche Funktionen in ihrem Stamm ausübten. Außer ihrer persönlichen Macht besaßen diese Personen aber keine Sanktionskraft. Wenn eine der Konfliktparteien den Beschluß des Richters nicht akzeptierte, konnte man ihr gegenüber Vorwürfe erheben – ansonsten aber nichts ausrichten. Trotzdem wissen wir aus den Quellen, dass es unter den vorislamischen Arabern Persönlichkeiten gab, die für ihre richterlichen Kompetenzen bekannt waren und die schwierige Probleme sowohl zwischen den Konfliktparteien als auch zwischen den Stämmen gelöst haben. Wir wissen auch, dass die vorislamischen Araber die Hand des Diebes oder der Diebe abhackten. Man sagt, dass al-WalÍd b. Mu™Íra (st. 622 n. Chr.) derjenige gewesen sei, der zum ersten Mal diese Strafe vollzogen habe. Es werden in den Quellen auch etliche arabische Personen aus vorislamischer Zeit angeführt, die aufgrund von Diebstahl mit diese Strafe bedacht wurden. Darüber hinaus wurden Banditen und Räuber sehr hart bestraft. Der Islam hat alle diese Strafen vor dem Hintergrund seiner Lehre bewertet und in erneuerter oder modifizierter Form übernommen. Es zeichnen sich bei den vorislamischen Arabern zwei wichtige strafrechtliche Hauptinstitutionen ab: die Wiedervergeltung (qiÈÁÈ) und das Blutgeld (diya). Neben diesen beiden Einrichtungen gab es bei ihnen auch eine Schwur-(qasam)Institution, die vorsah, dass im Fall eines Mords verdächtige Personen, die sich in der Nähe der Leiche befanden, einen Schwur darauf zu leisten hatten, dass sie an dem Tod des Betroffenen keine Schuld trugen. Der Islam hat diese Form der Schwur-Institution vollständig adoptiert und die beiden strafrechtlichen Hauptinstitutionen mit einigen Modifizierungen übernommen. Es wird angenommen, dass die Aufnahme der Wiedervergeltung durch den Islam dazu dienen sollte, das Individuum zu stärken und die starken Stammesbindungen der Personen zu lockern. Denn es war nicht möglich, einen Staat aufzubauen, ohne die mächtigen Stammesbindungen zu schwächen resp. aufzulösen. Während dies offenbar durch das Prinzip der Wiedervergeltung bezweckt wurde, scheint die Ausweitung der Zahlung von Sühnegeld darauf gezielt zu haben, die Blutrache zu beschränken und ihre in der Gesellschaft Unruhe und Unsicherheit stiftende Wirkung einzudämmen.
98
Wie aus den Ausführungen über die Reise Moses mit ¾i±r im Koran hervorgeht, wird ¾i±r als ein hoch verehrter Wissender betrachtet, der von Gott belehrt worden ist. Dank dieser umfangreichen Lehre ist er zu den verborgenen inneren Wahrheiten der Erscheinungen vorgedrungen, während Moses keine Kenntnis davon hatte, obwohl er Prophet war. Es ist interessant zu bemerken, dass Moses trotz seiner hohen Stellung als Prophet, dem die Tora gegeben wurde, und trotz seiner Beschreibung als „kalÍm AllÁh“ dem Wissenden folgen und von ihm einen Teil seines Wissens lernen will. Diese Gefolgschaft Moses kann nicht allein durch seine große Bescheidenheit erklärt werden. Die Geschichte von ¾i±r zeigt, dass dessen Wissen höher eingestuft wird als das Wissen von Moses, da diesem ansonsten nicht gesagt worden wäre, dass der Wissende über einen höheren Grad des Wissens verfügt und er sich mit seinem Jünger auf die Suche nach ihm Wissenden machen solle. In den darauf bezogenen Versen gibt es keine näheren Angaben über die Beschaffenheit dieses Wissen, außer dass es von Gott stammt. Auch lassen die Bedingungen, welche ¾i±r Moses am Beginn der Reise stellt, auf den Charakter dieses Wissens schließen. Es ist bekannt, dass dieses Wissen nicht dem Wissen ähnlich sieht, welches durch Bücher erlernt werden kann. Das Wissen (Geheimlehre, versteckte Lehre) ist in den hier zur Diskussion stehenden Versen als eine Art Hingabe an Gott dargestellt. Es hat den Anschein, dass es der Mystik nahe steht und die Mystiker es durch ihnen eigene Methoden und innere Disziplinen zu erreichen suchen. ¾i±r ist auch aus diesem Grund eine unentbehrliche Figur für die islamischen Mystik und nimmt zurecht bei den Mystikern eine zentrale Stellung ein.
93
Bekanntlich ist zumindest in territorialer Hinsicht Kaiser Napoleon I. ein "Kirchenvater" nicht nur der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Seine Neuordnung der Landkarte Deutschlands hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die Religionskultur - bis hin zur Kirchenmusik! Als das Kasseler Konsistorium sich von dem Hanauer Konsistorium je ein Exemplar der in seinem Bezirk gebräuchlichen Gesangbücher erbat, erhielt es von Hanau am 15.8.1837 die Antwort, "daß in der hiesigen Provinz [der 1736 an Hessen-Kassel gefallenen Grafschaft/Fürstentum Hanau-Münzenberg] 12 Gesangbücher bestehen, von deren jedem ein Exemplar zu verschaffen deswegen schwierig sei, weil in den Gemeinden selbst ein solches kaum zu entbehren ist".
92
Die Freiheit des Einzelnen und die Religion der Freiheit als Bedingungen interreligiöser Konvivenz
(2007)
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugung und Praxis wirft zunächst die Frage auf, wer das primäre Subjekt dieser Über-zeugung und Praxis ist. Im interreligiösen Dialog oder Kampf wird in der Regel darunter ein religiöses Kollektiv verstanden, sei es nun real oder bloß virtuell organisiert, sei es z.B. die reale Organisation 'Katholische Kirche' oder die virtuelle Gemeinde der 'Sunni-ten', jedenfalls eine Menge von Menschen, die auf eine gemeinsame Lehre und Praxis, auf eine gemeinsame Religionskultur bezogen sind. Die Vorstellung, daß Religionskollektive die eigentlichen religiösen Subjekte seien und daher auch berufen, für die Religionskulturen verbindlich zu sprechen und zu handeln, ist jedoch nichts anderes als eine kollektivistische Gewaltideo-logie. Sie stellt den Versuch dar, das moderne Individuum, das seit 200 Jahren angehalten ist, seine Belange in die eigenen Hände zu nehmen, den anachronis-tischen Herrschafts- und Konsumbedürfnissen von abstrakten Kollektiven zu unterwerfen.
87
Es besteht kein Zweifel daran, dass die einflussreichsten Persönlichkeiten der islamischen Gesellschaft die Gelehrten des Islam waren. Die Verhaltensweise dieser Persönlichkeiten war für die Individuen der Gesellschaft wegweisend. Die Gesellschaft strukturierte ihre Verhaltensnormen entsprechend der Haltung dieser Personen, und entsprechend der von ihnen gegebenen Fatwas (Rechtsentscheidungen). Dieser Umstand nahm seinen Platz proportional zur Steigerung oder Minderung der gesellschaftlichen Stellung und des Wertes der Gelehrten des Islam auf der Bühne der Geschichte ein. Imam Malik war einer der herausragenden Personen, die zu ihren Lebzeiten wichtige Einflüsse auf die Gesellschaft ausgeübt haben. Dieser Artikel versucht die Beziehung des Imam Malik zu den politischen Autoritäten, sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Beziehungsform zu behandeln. Da Imam Malik in der Zeit der Umayyaden zu den politischen Autoritäten kaum Kontakt hatte, wird der Artikel nach einem kurzen Ausblick in diesen Zeitabschnitt sich auf die Zeit der Abbasiden konzentrieren.
85
Die Lehre von der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist das Herzstück protestantischer Theologie. Und deren eigentümlicher Gegenstand ist nicht eine übernatürliche Wesenheit oder eine bestimmte Religion, sondern das doppelte Wort Gottes: lex et evangelium, Gesetz und Evangelium. Ihre Aufgabe besteht allein im discrimen inter legem et evangelium, in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Der Name der protestantischen Theologie bezeichnet nicht eine von einer wie immer gearteten Religionsgemeinschaft bestimmte Doktrin, sondern eine Wissenschaft, die allein von einer in jeder Hinsicht für sich selbst sprechenden autonomen Sache konstituiert wird; sie ist daher auch nur ihrem Gegenstand und ihrer Aufgabe verpflichtet. Die Bezeichnung des Protestantischen bezieht sich ursprünglich auch nicht auf eine neue Kirche, sondern auf ein politisches Bündnis im deutschen Reichstag, das allein durch die Berufung auf die autonome Sache der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium der Hierarchie der Kirche widersprach; und es war ein Theologe, der sich auf Grund und wegen dieser Unterscheidung gegen die damalige Kirche stellte und diese prinzipiell der unterscheidenden Kritik unterwarf. Das Protestantische benennt demnach im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch grundsätzlich einen dogmatischen und keinen religionssoziologischen Sachverhalt. ...
84
„Wie sehr Werturteile die Geschichtsdeutung prägen, zeigt sich an der Langlebigkeit längst widerlegter Moralklischees. Das gilt besonders für die kirchliche Zeitgeschichte. Die Bilder des Kirchenkampfes wirken immer noch auf die Forschungsatmosphäre ein, obwohl die strikte Gegenüberstellung von Guten -der Bekennenden Kirche- und Bösen -den „Deutschen Christen“ - sich sachlich längst nicht mehr halten läßt“ – so unlängst Johann Hinrich Claussen in der FAZ unter dem Titel: „Sozialistisch unentschieden. Paul Tillichs Theologie und die Zeitgeschichte“. Differenzierungen mit dem Ziel, auch in der Theologie simple bipolare Systematisierungen aufzulösen, sind angesagt. So hat es „unter dem Namen ‚Deutsche Christen‘ eine in sich homogene Gruppierung dieses Namens nicht gegeben. Vielmehr handelte es sich um zahlreiche Klein- und Kleinstgruppen, die als lockere Sammlungsbewegung ihren Höhepunkt im Umfeld der Machtergreifung [Hitlers] erreichten und ab 1934 wieder in die Zersplitterung zurückfielen“ (Jochen-Christoph Kaiser: Die Deutschen Christen im Spannungsfeld von kirchlichem Hegemonieanspruch und völkischem Neuheidentum auf dem Weg zur Sekte? In: Hartmut Lehmann [Hg.], Religiöser Pluralismus im vereinten Europa. Freikirchen und Sekten. [Bausteine zu einer Europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung; Bd. 6, 49-71; hier 49]). Die Vielfältigkeit des deutschchristlichen Spektrums bewegte sich zwischen einem eher nationalprotestantisch-konservativen, tradierte religiöse Standards beachtenden Strang und unterschiedlichen Ausprägungen „völkischer“ Auffassungen, die das „Dritte Reich“ für das „neue Jerusalem“ hielten. „Zwischen diesen beiden Positionen bewegten sich im Grundsatz alle deutsch-christlichen Vereinigungen. Sie konnten dabei ihr jeweiliges Credo situativ, d. h. in Anpassung an die jeweilige Zeitlage oder ihr Auditorium modifizieren, so daß es schon einen Unterschied macht, ob wir von ‚Deutschen Christen‘ Ende der 1920er Jahre, im Jahr 1933, in der Periode der Kirchenausschüsse [1935-1937] oder im Zweiten Weltkrieg sprechen“.
83
Die Monotheismusdebatte, die durch Jan Assmann angestoßen worden ist, wird in weiten Teilen im biblischen Kontext geführt. Der historische Prozess, in dem sich im vorderen Orient die Idee des einen Gottes aus einem polytheistischen Umfeld herausschält oder, wie Assmann meint, das Ergebnis eines revolutionären Umschwungs ist, ist eine unter vielen anderen historischen Varianten der Entstehung des Eingottglaubens. In seinen Publikationen „Moses – der Ägypter“ von 1998 und „Die mosaische Unterscheidung“ aus dem Jahr 2003 geht es Assmann nicht nur um die Beschreibung und Deutung eines besonderen historischen Kontextes, sondern um ein grundlegendes Deutungsmuster des Phänomens Monotheismus, das die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion und damit eine grundlegende Veränderung in der Beurteilung anderer Traditionen gebracht hätte. Er schreibt: „Ebenso wenig lässt sich aber bestreiten, dass sie (die monotheistischen Religionen) gleichzeitig eine neue Form von Hass in die Welt gebracht haben: den Hass auf Heiden, Ketzer, Götzendiener und ihre Tempel, Riten und Götter.“ Es stellt sich nun die Frage, ob die religionsgeschichtlichen Befunde in einer erweiterten Perspektive seine Deutung stärken oder relativieren. Auch wenn viele von Assmanns Einzelbeobachtungen nachvollziehbar, höchst interessant und für die weitere Diskussion anregend sind, soll es hier darum gehen, ob die These von der mosaischen Unterscheidung an sich religionswissenschaftlich haltbar ist. Ein entscheidender Mangel zeigt sich direkt auf den ersten Blick; denn seine Ausführungen beziehen sich primär auf die drei in Vorderasien aus gemeinsamen Wurzeln entstandenen abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Gesprochen wird aber immer wieder von dem Monotheismus als einem Grundprinzip religiöser Traditionsbildung. ...
82
Fundamentalismus ist heutzutage zu einem allseitig verwendeten Begriff geworden, der unterschiedlichste Phänomene beschreibt und häufig auch mit negativen Konnotationen versehen ist. Nicht selten wird der Vorwurf des Fundamentalismus benutzt, um Diskurse mit Andersdenkenden abzubrechen und diese zu diskreditieren. Im Fundamentalismusvorwurf ist also selbst ein Fundamentalismus verborgen. Fundamentalismus im weiteren Sinne kann man als eine Gegenbewegung gegen die Moderne bezeichnen, die religiös oder ideologisch gefärbt ist. Hierbei werden traditionell überlieferte oder diesen Anschein erweckende Werte und Normen mit vehementer Überzeugung als Rettung präsentiert, die dem aktuellen Niedergang der Kultur entgegenwirken sollen. Für fundamentalistische Bewegungen ist es charakteristisch, dass sie sich selbst als Vertreter des „Wahren“ und „Guten“ betrachten und dass sie öffentlich / politisch aktiv werden, um dem „Schlechten“ und „Bösen“ Einhalt zu gebieten. Pluralismus, Relativismus, Toleranz und multikulturelle Lebensformen werden in diesem Kontext als degeneriert und schwach gekennzeichnet; denn sie vermögen es nicht, die Ordnung und Autorität aufrecht zu erhalten, die nötig sind, um die Gesellschaft als Ganzes entsprechend den fundamentalistischen Idealen zu formen. Mit diesem Anspruch sind nicht selten theokratische Vorstellungen verknüpft, die auch mit entsprechender Aggressivität vorgetragen oder sogar in die Tat umgesetzt werden.
81
In den letzten Jahren ist der Islam intensiv in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Dieser Prozess wurde durch mehrere Faktoren in Gang gesetzt: • durch die politisch-militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, • durch die Ausbreitung dieser Probleme in andere Regionen insbesondere in Form von terroristischen Anschlägen, die unter Berufung auf den Islam durchgeführt wurden und werden, • und nicht zuletzt durch den Wegfall des Ost-West-Konflikts, der ein Vakuum hinterlassen hat, was zur unbewussten Suche nach neuen Feindbildern führte. Die komplexen politischen Verwicklungen im Nahen Osten, die teilweise noch Erbschaften der kolonialistischen Epoche sind, sollen aber hier nicht den Schwerpunkt bilden. Vielmehr wollen wir nach dem Selbstverständnis islamischer Traditionen und Kulturen fragen, um sie etwas besser verstehen zu lernen und um in einen fruchtbaren Dialog einzutreten. Der Islam ist bekanntermaßen die jüngste der großen Weltreligionen und steht in der Tradition des vorderasiatisch entstandenen Juden- und Christentums. Aus islamischer Sicht geht seine Tradition auf Abraham zurück, der den Glauben an den einen Gott verkündigt hat und damit ein Gläubiger im Sinne der Muslime gewesen ist. Grundsätzlich ergeben sich aus der gemeinsamen vorderasiatisch-abrahamitischen Wurzel positive Möglichkeiten; denn man könnte diese drei Religionen in diesem Sinne als Geschwister bezeichnen. ...
80
Im Gegensatz zu den Beteuerungen vieler Religionsführer dienen heute die organisierten Religionsgemeinschaften mehr der Desintegration denn der Integration von Gesellschaften. Ökonomie und Politik, Wissenschaft und Massenkultur dagegen integrieren nicht nur ihre jeweiligen nationalen Gesellschaften, sondern zunehmend auch die Weltgesellschaft. Im System der diplomatischen Vertretungen, Verhandlungen, Verträge und Bündnisse hat die Politik schon immer Rahmen zur zwischenstaatlichen Kommunikation und Kooperation geschaffen, die derzeit eine Verdichtung angenommen haben, die politischen Isolationismus sogar verdächtig machen. Die Stärke globaler Integration heute wird besonders daran deutlich, dass man sich bei internationalen oder auch nationalen Konflikten auf die sog. internationale Staatengemeinschaft und die Vereinten Nationen beruft, und sie als legitime und beachtenswerte Handlungssubjekte versteht. So hat sich auch der konkurrierende Handel mit der Welthandelsorganisation samt ihren Regeln und Sanktionen ein institutionelles Integrationssystem geschaffen. Die globale Integration insgesamt hat in der Gegenwart bereits einen Grad erreicht, der eine grundsätzliche Umkehr, eine globale Desintegration, unwahrscheinlich werden lässt. ...
79
Das arabische Wort Allah entspricht dem deutschen Wort "Gott". Dabei handelt sich nicht nur um einen Eigennamen Gottes, also lediglich um eine Form der Anrede, sondern um den Begriff "Gott" in seinem vollen Inhalt. So verwenden auch die arabischen Christen für Gott das Wort Allah. Sprachlich besteht ein Zusammenhang mit dem hebräischen Elohim, aramäisch Aloy = Allah = Gott. Hier ist zu unterscheiden zwischen Allah und Ilah, wobei das letztere Wort für irgendeinen Gott steht, Allah aber für den einen bestimmten und einzigen Gott, der nach der islamischen Lehre schon im Juden- und Christentum bekannt war. Wenn der Prophet Muhammad von Allah spricht, ist daher immer dieser eine und einzige Gott gemeint und nicht eine unbestimmte Person unter mehreren. Im Begriff Gott ist also eine gemeinsame Grundlage des Judentums, Christentums und des Islam gegeben. Allerdings haben die Bibel und der Koran verschiedene Vorstellungen von Gott, was besonders in der Beschreibung seiner Eigenschaften zu Tage tritt. ...
76
In der reformatorischen Tradition steht die zweckfreie Liebe zum Nächsten im Zentrum. Sie hat ihren Grund darin, dass Gott sich den Menschen barmherzig zugewandt und ihr gestörtes Verhältnis zu ihm in Ordnung gebracht hat, was sie von sich aus nicht vermochten. Leben und Sterben Jesu Christi sind der Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes. Zweckfreie Liebe zum Mitmenschen. Weil Christen das Himmelreich nach dem Willen Gottes bereits erlangt haben und ihr Verhältnis zu ihm nicht aus eigener Kraft in Ordnung zu bringen vermögen, können sie durch Hilfe für ihre Mitmenschen nichts zu ihrem Heil beitragen. Sie setzten sich für andere ein, weil der barmherzige Gott sie reich beschenkt hat. Darüber hinaus ist weder ein bestimmtes religiöses Bewusstseins, noch rituelle Reinheit, noch der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, noch eine Missionsabsicht von Nöten.
74
Im Kopftuchstreit wird von konservativer Seite als Argument ins Feld geführt, daß christliche Symbole Vorrang vor denen anderer Religionen haben sollen, weil sich unsere Gesellschaftskultur weltanschaulich vom Christentum herleite. Immerhin wird damit zwar politisch, wenn auch auf negative Weise, anerkannt, daß wir eine multireligiöse Gesellschaft seien, aber dennoch soll die Mehrheitsreligion besondere Privilegien genießen. In vielen Staaten, in denen die Muslime die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, wird übrigens ähnlich gedacht und auch verfahren. Warum tut sich aber unser Staatswesen, das sich doch als Vorreiter der Menschenrechte versteht, immer noch so schwer, alle gesetzestreuen Religionen völlig gleich zu behandeln und allen gesetzestreuen Bürgern das gleiche Recht auf Gestaltung einer individuellen Religionskultur zuzugestehen? Ein Rückgriff auf die christliche Religionsgeschichte soll helfen, dies besser zu verstehen.
73
Die Heilige Schrift der Gemeinde der Sikh ist Adi Sri Guru Grantha Sahibaji oder „der am Anfang stehende Guru in Gestalt des Buches". Guru Govind Singh (1675-1708) setzte kurz vor seinem Tod eine erweiterte Fassung des Adi Grantha als seinen Nachfolger im Guruamt ein. Der Adi Grantha ist ein poetisches Werk, das keinerlei Prosa enthält. Autoren der verschiedenen Teile der Schrift gehörten nur zum Teil der Sikh-Gemeinde an: Guru Nanak, der Gründer der Religion der Sikh, sowie seine Nachfolger Angad, Amar Das, Ram Das, Arun, Teg Bahadur und Govind Singh. Aus anderen Religionen stammen die sogenannten Bhagats (Fromme) wie der islamische Sufi Kabir, ein Weber von Beruf, oder der hochberühmte Krishnadichter Sur Das. Schließlich zählen noch einige Bhatts oder Barden wie Haribans oder Ganga zu den Mitverfassern. Zu dieser multireligösen Verfasserschaft tritt als weitere Besonderheit dieser Heiligen Schrift ihre Vielsprachigkeit. Der Urtext des Adi Grantha ist in seinen verschiedenen Teilen in unterschiedlichen Sprachen und Dialekten abgefaßt (Hindi Sanskrit, Marathi, Persisch, Arabisch usw.). Zwar waren Guru Nanak und seine Nachfolger Panjabi; dennoch sprachen sie ein Idiom, das nach E. Trumpp eine Mischung aus Hindi und Panjabi war. Guru Govind Singh jedoch schrieb in reinem Hindi. Das Alphabet des Adi Grantha ist das Gurmukhi, eine Schrift, die Guru Nanak für die Abfassung seines Schriftteils entwickelt haben soll. Der Adi Grantha setzt sich aus liturgischen Gebrauchstexten, aus Psalmen und Preisgesängen zusammen.
67
Aus der bedingungslosen Mutterliebe Allahs gegenüber seinen Geschöpfen resultiert die bedingungslose Mutterliebe der Menschen gegenüber dem Nächsten, insb. dem Bedürftigen. Diese folgt als logische Notwendigkeit aus dem Glauben an Allahs unbedingte Gnade. Diakonie ist daher nach der Gnadenbotschaft Mohammeds kein sündentilgendes Werk, sondern ein Handeln aus dem Glauben an Allahs Werk, seiner freien Sündenvergebung. So wie Allah seine Sündenvergebung nicht an das Werk des Menschen bindet, so bindet der glaubende Mensch sein Werk der Barmherzigkeit nicht an das vergeltende Handeln des Bedürftigen. Er schenkt, weil er beschenkt worden ist. Diakonie wie Nächstenliebe allgemein wird somit zum Spiel, einer Handlung, die sich in sich selbst erschöpft und sich an sich selbst erfreut. Denn Allahs Handeln, seine jede Gerechtigkeit mit Füßen tretende Gnade, ist nichts als ein Gottesspiel. Indem die Menschen auf Allahs Spiel der Sündenvergebung vertrauen, werden sie zu Mitspie-lern Gottes.
66
Zunächst hielt der als „Reichserztambour“ verspottete hessen-darmstädtische Soldaten-Landgraf Ludwig IX. die Französische Revolution offenbar für eine Nebensache! Der Erstbesteiger der „Bastille“ in Paris sei ein Gardekorporal aus Rufach im Elsaß gewesen: Dieser erste Hinweis auf den „Sturm auf die Bastille“ am 14.07.1789 im Tagebuch des Landgrafen am 16.07.1789 steht dort zwischen den Routine-Einträgen über die täglich komponierten Militärmärsche („4 Märsche gemacht, damit 91.197 überhaupt“) und über Gichtanfälle der landgräflichen Mätresse „Madame de Bickenbach“. Allerdings ist schon am 23.07.1789 an gleicher Stelle eine Prophetie des durchreisenden Marquis de Montasqui zu lesen, demzufolge „die große Rebellion in Frankreich... würde viele Köpfe kosten“. In einem Brief an Christoph Martin Wieland in Weimar schreibt Kriegsrat Johann Heinrich Merck im Februar 1791 aus Paris: „Eine ganze Nation, die nach Besserung der Sitten dürstet“, „die Mörgenröte einer besseren Erziehung, ... und in allem diesem das große Beispiel für Europa, was der Mensch und die Menschen cumulatim vermögen“. In seiner „Kampagne in Frankreich 1792“ schreibt Jo-hann Wolfgang Goethe am 19.09.1792 nachts unter dem Eindruck der „Kanonade von Valmy“: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ ...
64
Diakonie ist in der Zeit des hl. Franz in Assisi sowohl in ritueller als auch in materieller Hinsicht wohlorganisiert. Er selbst übt sich vor seiner Konversion in der einem frommen Katholiken üblichen Barmherzigkeit. In seinem Testament heißt es: "Der Herr selbst hat mich unter jene [nl. die Leprosen] geführt, und ich erwies ihnen Barmherzigkeit" (Et ipse Dominus conduxit me inter illos [sc. leprosos] et feci misericordiam cum illis). Mit dem technischen Begriff "Barmherzigkeit erweisen" (misericordiam facere) meint Franz die gewöhnliche katholische Diakonie - die materielle Hilfe von Almosenunabhängigen an Almosenabhängige. Die ästhetische Konversion, die Franz im Leprosorium von Assisi erlebt, läßt ihn jedoch eine ganz andere Dimension der Diakonie erfahren. Der reiche Tuchhändlerssohn verliert allmählich das Grenzmaß normaler Diakonie, nämlich den Erhalt selbst- oder rechtsgesicherter Existenz, und beginnt stattdessen deren Gegenteil, die völlige materielle Abhängigkeit von anderen, als vollkommene Weise menschlicher Existenz zu feiern. Diakonie wird nunmehr zum alleinigen und unumschränkten Prinzip Franzens irdischen Daseins. ...
63
In den mystischen Kommentarschulen, die einen wichtigen Teil der Korankommentarliteratur hervorgebracht haben, stützt man sich bei der Erstellung von Kommentaren außer auf bestimmte exegetische Regeln und Methoden auch auf die Intuition. Neben dem Wissen, das man durch die normale intellektuelle Arbeit erwirbt, gibt es nach dem Islam ein Wissen, das von Gott unmittelbar vermittelt wird und das man Ledünni Bilgi, d.h. unmittelbares intuitives Wissen nennt. Diese Art von Wissen, das man in allen Religionen der Welt findet, erwirbt man durch strenge Askese und intensive Gottesverehrung: Dies ist das mystische Wissen. Jede Religion und Philosophie hat ihre eigenen Auffassungs-, Interpretations- und Ausdrucksweisen. Das gilt auch für die Religion des Islam. Jedoch ist islamische Mystik nicht nur Wissen in Gedanke und Wort, sondern zugleich auch ein Wissen vom Handeln. [Die mystischen Korankommentare müssen, da sie das Ergebnis eines ekstatischen Zustandes sind, unabhängig von der empfangenden Person, nicht unbedingt akzeptiert werden, besonders dann nicht, wenn sie nicht mit dem Koran, der islamischen Tradition, Verstand und Logik übereinstimmen.] ...
61
Nach den Aussagen des Korans wurde der Mensch im biologischen Sinne als das vollkommenste Wesen geschaffen. Er ist ein soziales Wesen, das mit technischen und kulturellen Fähigkeiten begabt ist. Der Schöpfer hat den Menschen mit geistigen und moralischen Werten ausgestattet und zum 'Khalifa', Stellvertreter Gottes auf Erden, berufen. Der Mensch steht damit über den anderen Geschöpfen so wie Gott absolut über den Menschen steht. Der Mensch ist ein auf Gott bezogenes Wesen. Auch wenn die Menschen sich sozial und religiös unterscheiden, haben sie doch Gott gegenüber die gleichen Pflichten und sind somit einander gleichgestellt. Die Menschen mögen sich verschiedenen Stämmen und Völkern zugehörig fühlen und unterschiedlicher Hautfarbe sein, sie sind dennoch allesamt Nachkommen von Adam und Eva, sind sie alle Kinder Adams. Der beste unter ihnen ist daher auch nur derjenige, der die Weisungen Gottes am besten einhält.
60
Der Begriff „sakrale Musik“ oder „sakraler Klang“ geht davon aus, dass es auch nichtsakrale Musik oder Klänge gibt. Insofern ist er – im Hinblick auf die Menschheitsentwicklung – ein junger Begriff, denn in vielen alten Kulturen war das gesamte Leben der Menschen so sehr von dem durchdrungen, was wir heute sakral nennen, dass im Bewusstsein der Menschen daneben nichts wirklich Wichtiges oder Nennenswertes existierte. Klänge entstehen in der Natur und durch den Menschen verursacht. Wenn in der Weltwahrnehmung die Natur ein Bote, ein Ausdruck göttlicher Kräfte und Mächte ist oder die Natur sogar selbst als heilig / sakral betrachtet wird, dann müssen auch deren Klänge göttlich kraftgeladen sein. Der moderne Mensch hat normalerweise kaum noch den Zugang zu dieser Weltmusik, die ihm nur dann entgegentritt, wenn er an einem Ort ist, wo sie nicht übertönt wird, und wenn er in diesen Zustand der Zeitvergessenheit hinein taucht, in dem die Dinge anfangen zu sprechen und jeder Ton eine Klangoffenbarung wird. Menschen haben mit den von ihnen erzeugten Klängen den Kosmos durch sich durchströmen lassen, haben seinen Rhythmus, sein Pulsieren, sein Vibrieren und seine Harmonien aufgenommen, um in diesem Weltkonzert mitzuspielen und mitzutanzen. Insofern war der von Menschen erzeugte Klang Teil des Weltenakkords, er war noch nicht getrennt von dem Ganzen, sondern ergänzte und variierte nur das kosmische Geschehen. ...
59
Hindus in Deutschland
(2002)
Der Hinduismus galt in Deutschland in erster Linie als eine akademische oder exotische Angelegenheit. Die altindische Philologie hat ihn in einer mehr archaischen Gestalt bekannt gemacht, zugleich aber auch religiös neutralisiert. Diese Rezeption der Hindu Religiosität hat dann zu dem geführt, was man westliche Hinduismusideologie bezeichnen könnte. Aus dem Gefühl der globalen Überlegenheit heraus sah man den Hinduismus gleichsam als eine exotisch-buntscheckige Kuh an, die keine heute verwertbare Milch mehr liefert. Ihn für das tatsächliche Leben und dessen kulturellreligiöse Ausgestaltung zu verwenden, konnte und wollte ein sog. aufgeklärter Bürger nicht wagen. In existentieller Hinsicht war das Hindutum tabu. Erst der systematische Theologe Rudolf Otto hat in einer Phase des 20. Jahrhunderts, in dem die religiöse Intoleranz ganz besonders und gerade auch theologisch triumphierte, auf Grund persönlicher Erfahrung die reale religiöse Relevanz des Hindutums unüberhörbar zur Sprache gebracht. Indem er sich der existentiellen Konfrontation mit dem Hindutum stellte, entdeckte er als Angehöriger der westlichen Kultur dessen Wahrheitswürde. Er konnte den Hinduismus nicht mehr als bloß historisch interessantes, aber erledigtes Phänomen der menschlichen Geistesgeschichte betrachten und im übrigen zur christlichen Tagesordnung übergehen. Seine existentielle Erfahrung ließ ihm keine andere Wahl: Der Hinduismus ist eine gewaltige Symbolik des Heiligen. ...
58
Bevor wir uns mit den soziologischen Untersuchungen über die Religiosität in der türkischen Gesellschaft beschäftigen, halte ich es für nützlich, vorher in den Grundzügen das lange Zeit vorherrschende Verständnis bei der Betrachtung der Religion durch die Soziologie in der Türkei zu berühren. Die Soziologen in der Türkei haben lange Zeit für das Thema Religion nicht genügend Interesse gezeigt. Zweifellos gibt es dafür einige Gründe. Der Hauptgrund ist der Einfluss der starren positivistischen Anschauung des 19. Jahrhunderts. Wie bekannt ist, hat Religion für A. Comte die Eigenheit einer primitiven, unterentwickelten Stufe in der Evolution des menschlichen Denkens. Nach der Philosophie des Positivismus hat die Religion in der modernen Zeit im Zuge der Entwicklung der modernen Wissenschaft keine grosse Bedeutung mehr. Mit anderen Worten, die positivistische Wissenschaft wird an die Stelle der Religion treten. Deswegen brauchen die Menschen keine Religion mehr. Die Bedeutung religiösen Glaubens wird nach und nach abnehmen und vielleicht wird die Religion sogar ganz verschwinden. Der Prozess der Modernisierung bedeutet gleichzeitig einen Rückgang in der Religiosität. Deshalb ist es sinnlos und unnötig sich für Religion zu interessieren und bedeutet, sich mit einem Gegenstand zu beschäftigen, der keine Zukunft hat. Nach einem Verständnis des Positivismus ist Religion ein Phänomen, dass primitiven und traditionellen Gesellschaften zu eigen ist. Aus diesem Grund sollten sich Sozialwissenchaftler und Anthropologen, die sich mit primitiven und traditionellen Gesellschaften befassen, für Religion interessieren. ...
57
Eine der inzwischen lebenswichtigen Fragen, die sich unsere Gesellschaft und Politik nicht nur zu stellen, sondern auch zu beantworten hat, ist die Frage, ob wir eine Gesellschaft wol-len, die aus vielen Kulturen lebt, und ob wir einen Staat wollen, der das friedliche Miteinander unterschiedlicher Kulturen unter Einschluß unterschiedlicher Religionen will und gewährleistet. Diese Frage ist keineswegs neu; sie stellte sich in der Geschichte immer wieder und überall. Die Menschen haben mit dieser Frage also bereits Erfahrungen gemacht. Wir stehen nicht vor einem absoluten Novum. Daher möchte ich zunächst dieser Frage vergleichend religions- und kulturgeschichtlich nachgehen und insbesondere das traditionelle Christentum, den traditionellen Islam und die neuzeitlichen Ideen und Erfahrungen darlegen, um in diesem historischen Rahmen dann die moderne Fragestellung zu behandeln. Die Verschiedenheit von Grundstrukturen des menschlichen Zusammenlebens hat sich nie verleugnen lassen. Ob man sie aber gebilligt oder gar gewollt, oder nur hingenommen und toleriert hat, stand stets auf einem anderen Blatt. Die Geschichte hat zwar immer wieder ein Arrangement der verschiedenen Kulturen erzwungen; nur im äußersten Falle kam es zu Vernichtung einer spezifischen Kultur. Meist jedoch konnten die Sieger im interkulturellen Krieg die Hirne und Herzen der Besiegten nicht so bekehren oder umprogrammieren, wie sie es sich erträumten, vielmehr wurden sie sehr oft selbst von der unterworfenen Kultur der Besiegten besiegt. Die Widerständigkeit der verinnerlichten Lebensformen, Lebensideen und Lebenspraxis, d. h. der Kultur, ist erfahrungsgemäß so stark, daß im interkulturellen Kampf im Höchstfall eine synkretistische oder Mischkultur herauskommt, nicht aber die Kultur, die den Besiegten aufgezwungen werden sollte. ...
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Die Jungfrau Maria und ihr Haus bei Ephesus : eine religionsvergleichende mariologische Untersuchung
(2002)
Die Abhandlung untersucht das christliche und muslimische Verständnis der Jungfrau Maria im allgemeinen und deren Haus in der Nähe von Ephesus im besonderen. Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Zunächst wird im ersten Teil die Stellung des Islams zur Jungfrau Maria im allgemeinen behandelt und danach das Verständnis Mariens bei den türkischen Muslimen und deren Einstellung zu ihrem Haus bei Ephesus. Im Vergleich dazu werden dann im zweiten Teil die mariologischen Anschauungen der Katholiken, Protestanten und Orthodoxen zu diesem Thema dargestellt.
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Das Neue Testament bezeugt, daß es eine verblüffende Anzahl von Möglichkeiten gibt, Christus zu sehen und zu begreifen. So wird er beschrieben wie ihn Matthäus, Lukas, Jo-hannes, Petrus, Jakobus und Paulus jeweils verstehen. In der Kirchengeschichte gibt es Christus in der Version von Justin Martyr, von Irenäus, Origenes, Augustinus, Anselm, Thomas von Aquin, von Luther, Calvin, Schleiermacher, Barth, Bultmann, Bonhoeffer und vielen anderen. Wie es einen Kranz unterschiedlicher Christusverständnisse gibt, so existieren auch viele verschiedene Kirchen: Katholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Calvinis-ten, Baptisten, Freikirchen und sektiererische Kirchen. Die moderne Welt wird in vier Blöcke aufgeteilt. Deshalb wird Christus auf viererlei Weise verstanden. Die Erste Welt besteht aus Menschen, die in vorrangig kapitalistischen und wohlhabenden Gesellschaften des westlichen Blocks leben. Sie dürften eine Version von Christus haben. Die Zweite Welt besteht aus Menschen, die in den relativ wohlhabenden Gesellschaften des Ostblocks oder der sozialistischen Länder leben. Sie dürften eine andere Version von Christus haben. Die Dritte und Vierte Welt besteht aus Menschen, die in Ent-wicklungs- oder unterentwickelten Ländern wohnen - als Arme, die von der Hand in den Mund leben. Sie dürften Christus in wieder einer anderen Weise als die Menschen, die in in erfolgreichen und wohlhabenden Gesellschaften leben, sehen. In der Ersten und Zweiten Welt werden die Menschen Christus wohl vorrangig als Befreier von dieser materialisti-schen Welt und ihren egoistischen Tendenzen sich vorstellen. In der Dritten und Vierten Welt dagegen betrachten sie ihn hauptsächlich als den Befreier aus Armut und Unkenntnis. Da es viele Religionen wie Hinduismus, Buddhismus, Islam, Judentum und Animismus gibt, kann man nicht umhin, Christus in verschiedenen Perspektiven anzuschauen, je nach dem religiösen Hintergrund der jeweiligen Menschen.
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Um einen besseren Überblick über die vielfältige religiöskulturelle Situation des gegenwärtigen Korea zu gewinnen, ist es nötig, zunächst einen Blick auf die wechselvolle koreanische Kulturgeschichte zu werfen. Korea war ursprünglich ein Agrikulturland. Deshalb war der Himmel für die Menschen der frühen Ackerbaukultur Koreas von grundlegender religiöser Bedeutung. Der Himmel symbolisierte die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Er verkörperte die Lebenskraft schlechthin. Von Anfang an gab es in Korea eine starke eigenständige Religionskultur, die vom Schamanismus und der volkstümlichen Drei-Götter-Verehrung geprägt war. Diese altkoreanische Tradition nahm später die von China her eindringen-den Religionskulturen des Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus in sich auf. Die besonders starke Einwirkung des Buddhismus auf Politik und Kultur Koreas wird "das erste Zeitalter des kulturellen Schocks" genannt. Der Buddhismus wurde im Jahre 392 n.Chr. zur Staatsreligion erhoben und gleichzeitig erlangte der Konfuzianismus als Staats- und Verwaltungsethik bestimmenden Einfluß auf das gesellschaftliche Leben Koreas. Die genannten fünf Religionen waren trotz ihrer Verschiedenheit stets harmonisch miteinander verbunden. Sie alle durchdringen bis heute alle Lebensbereiche, und sie alle stellen zentrale kulturbildende Elemente dar. In dieser religiösen Tradition, die durch Offenheit gegenüber fremden Kulturen gekennzeichnet ist, liegt denn auch die spezifische Situation religiöser Akkulturation in der pluralistischen Gesellschaft des heutigen Koreas begründet. ...
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Jesus und Maria sind das Fundament des Christentums, und darüber hinaus haben sie im Koran sowohl als auch in der islamischen Kultur einen sehr hohen und wichtigen Stellenwert. Dies wird ohne Wiederspruch anerkannt. Von den Anfängen bis heute wird Mariens Empfängnis Jesu in der christlichen und in der islamischen Welt diskutiert, da sie und die darauf folgende Schwangerschaft kein natürliches, sondern ein einmaliges und beispielloses Ereignis gewesen ist. Wir sind nicht befugt dieses Thema zu beenden, aber wir können die Sicht des Heiligen Buches, des Korans, und die Veröffentlichungen der Koran-Kommentatoren analysieren. Die Geburt Jesus geschah, laut Koran, auf Befehl Gottes Kun-Sei. Wir sollten diesen Befehl und wie er Wirklichkeit wird, auch wenn nur kurz , doch einmal näher betrachten. Laut Koran ist Gott der Schöpfer, der unendliche Kraft, Wissen und Weisheit besitzt. Er ist der einzige Schöpfer. Die Schöpfereigenschaft wird im Koran sehr oft erwähnt. Daraus ist zu folgern, wenn Gott irgend etwas schaffen will, dann reicht der Befehl Kun-Sei. Es gibt sehr viele Beispiele, die mit diesem Befehl in Verbindung stehen, einige von ihnen sind folgende: “Allah ist der Schöpfer aller Dinge“. Ein anderer Vers über die Schöpfung von Erde und Himmel lautet: “Er hat Himmel und die Erde in Wahrheit erschaffen”. Für die Dauer der Schöpfung reicht ein Augenblick, der Befehl Kun-Sei. Mit dem Ausrufen dieses Befehles geschieht unmittelbar Gottes Wille. Hieraus folgern wir, dass Gott als der einzige Eigentümer des Universums auch der einzige Machthaber ist, der imstande ist, zu befehligen und zu lenken. Er sagte ohne jede Einschränkung: “Dann wandte er sich zum Himmel zu, welcher noch Rauch (gasförmig) war, und sprach zu ihm und zur Erde: Kommt willig oder wiederwillig. Sie antworteten. Wir kommen willig“. Sie gehorchten dem Befehl Gottes, denn sie erkannten, dass sie keine Freiheit zwischen Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Gottes Be-fehlen haben. Nur dem Menschen ist freigestellt, Gottes Befehle zu befolgen oder nicht. Der Koran erklärt die Schöpfung der Landschaften, des Pflanzen- und Tierreiches ausführlich. Die Absicht dieser Erläuterungen ist nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch die Existenz Gottes und seine Macht darzustellen. ...
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In seinem Werk „Die Absolutheit des Christentums und die Summe der Anthropologie“ (2. Aufl., Heidelberg 1966) hat Wolfgang Philipp die provokante These vertreten: „Die ‚Politische Arena‘ ist in Wirklichkeit eine religiöse Arena. Die Leidenschaft, mit der politische Probleme durchgefochten werden, läßt darüber hinaus vermuten, daß religiöse Elementarstrukturen sich in diesem Felde mit besonderer Konsequenz abzeichnen. Und in der Tat erweist sich die Metaphysik des Politischen als eine der strukturreinsten Einkörperungen der Reinen Religion ... Die oft zu hörende Klage der Politologen, daß es schwer, bzw. unmöglich sei, politische Strukturen exakt zu definieren, beruht auf deren metaphysischem Charakter“. Im Folgenden will ich versuchen, diese These vor allem anhand des Verständnisses von Kirchengeschichte, wie wir es bei Gottfried Arnold und Johann Wolfgang von Goethe finden, zu überprüfen. ...
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Die vor Ausrufung der Republik in der Türkei beginnende Geschichte der Säkularisierung bzw. des Laizismus kann auch als die Geschichte der Verwestlichung der türkischen Gesellschaft verstanden werden. Die mit der Säkularisierung einhergehenden Reformen betrafen zunächst das Militärwesen, wies dieses doch die größten Schwächen auf. Sie erstreckten sich im weiteren aber auch auf die Wirtschaft, das Regierungssystem und die Gesellschaft im allgemeinen. Während dieser vorrepublikanischen Phase war die Auseinandersetzung mit der andersartigen westlichen Weltanschauung und Denkweise unvermeidlich. Der bis in das 18. Jahrhundert zurück zu verfolgende Verwestlichungsprozeß wurde bereits in vielerlei Hinsicht untersucht. In der vorrepublikanischen Phase existierten nicht nur die konventionellen islamischen Anschauungen über Religion, sondern auch schon solche der neuen Weltanschauung, für die die Religion nicht dem mehr als selbstverständliche Grundlage menschlichen Denkens galt. Sie stellte vielmehr neu die Frage, was denn unter Religion überhaupt zu verstehen sei.
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Im Rigveda, der altindischen Sammlung von Gesängen des Heiligen, heißt es über Vishnu: "Mögen die Götter uns vor dem Ort, von dem aus Vishnu über die sieben Bereiche der Erde schritt, bewahren. Vishnu schritt über (das Universum); dreimal setzte er seinen Fuß auf; die Welt war in seinem Staub eingehüllt; Vishnu, der unbesiegbare Bewahrer, den niemand täuscht, tat drei Schritte; von da an setzte er seine hohen Gesetze in Kraft." Vishnu durchmaß die Welt mit drei Schritten und richtete seine Ordnung, seinen Dharma, auf. Welches aber war der Sinn des Dreischritts? Von Vishnu heißt es dazu im Rigveda: "Welcher (sc. Vishnu) wahrhaftig allein die Dreiheit Erde, Himmel und Lebewesen trägt."Und das, was er bewahrt, ist ein Dreifaches: Erde, Himmel und die lebenden Wesen. Aber der entscheidende Grund für Lobwürdigkeit Vishnus besteht denn auch darin, daß er nicht nur seine Werke bewahrt, sondern durch seinen Dreischritt überhaupt erst Lebensräume für alle Wesen geschaffen hat. Daß Lebensraumbeschaffung der Sinn der drei Schritte war, wird an anderer Stelle nochmals betont: "Über diese Erde schrittt mit mächtigem Tritt Vishnu, bereit sie als Heim dem Menschen zu geben. / Seinem Schutz vertraut das einfache Volk sich an, er, der Edelgeborene, hat ihnen weiträumige Wohnstatt bereitet." Von diesen drei Lebensräumen weiß der rigvedische Sänger sogar zu berichten, daß in ihnen Milch und Honig fließt. Lob sei daher Vishnu "dessen drei Weltenräume voll von Süße sind." Vishnu hat die irdische Welt den Menschen als Paradies erworben, denn süß ist sie, nicht ein Tal der Tränen, des Elends und der Bitterkeit. Süße verweist auf einen Zustand der Zufriedenheit und Erfülltheit. Vishnu erwirbt sich das Vertrauen des einfachen Volks, weil er ihm durch seinen Dreischritt eine erfüllte und gesicherte Existenz verschafft hat.6 In den wenigen rigvedischen Manifestationen Vishnus leuchtet bereits ein grundlegender Wesenszug Vishnus auf: Er liebt und umsorgt die irdische Welt. ...
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In diesem Artikel werden vier Themen aus dem BG-Kommentar Swami Bhaktivedantas behandelt: Seine Meinung über Sankara und -Anhänger (Abschnitt I), sein Textverständnis (Abschnitt II), Grundzüge seiner Varnasrama-Theorie (Abschnitt III) und sein Verhältnis zur sog. Orthodoxie (Abschnitt IV). Obwohl in erster Linie der BG-Kommentar Swami Bhakti-vedantas berücksichtigt wird, ist es zuweilen doch hilfreich, auf die Kommentare zum Bhag-Pur und Cc Bezug zu nehmen, wenn sich daraus mehr Klarheit zu einem bestimmten Thema ergibt. Inwieweit die Ansichten Swami Bhaktivedantas schon durch seine Pararampara und die diversen Vaisnava-Texte vorgegeben sind, bleibt weitgehend unbeachtet.
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Gläubigkeit und Todesfurcht : mystische Traditionen und die Anschauungen von Studierenden heute
(2001)
Der Tod ist ein Ereignis, das uns nicht fremd ist. Es ist eine unvermeidliche und universelle Tatsache, der wir aus irgendwelchen Gründen immer wieder gegenüberstehen und die in uns gemischte Gefühle erweckt. Um die negativen Wirkungen von Gefühlen wie Furcht und Angst einer solchen Realität gegenüber zu vermindern und nach Möglichkeit zu beseitigen, bedient sich der Mensch kultureller, philosophischer bzw. geistlicher Mittel. Im Gegensatz dazu wird behauptet, dass philosophische und geistliche Systeme als Mýttel dienen, mit deren Hilfe der Mensch mit der Furcht vor dem Tod umgehen kann. Aufgrund von Forschungen auf den Gebieten der Anthropologie und Ethnologie wurde festgestellt, dass die Begriffe Tod und Glauben miteinander zusammenhängen und dieser Zusammenhang genauso alt ist wie die Geschichte der Menschheit. Tod und Glaube sind zwei Begriffe, auf die sich das Interesse der Menschen, an erster Stelle das der Philosophen, Wissenschaftler, Dichter, Schriftsteller und Geistlicher, in jeder Epoche konzentriert hat. (Yildiz, 1999) ... Diesem Artikel liegt die Dissertation des Verf. “Studie über den Zusammenhang zwischen dem religiösen Leben und der Furcht vor dem Tod” (Izmir Dokuz Eylül Universität, sozialwissenschaftliches Institut, 1998) zu Grunde. Die Interpretationen stützen sich auf die Daten der Gruppen von Probanden, die in der Dissertation verwendet worden sind. Es handelt sich um 555 studentische Probanden (Frauen = 195, Männer = 360) aus sieben verschiedenen Fakultäten der Dokuz Eylül Universität (Bildung, ÝÝBF, Medizin, Jura, Ingenieurswesen, Theologie und Kunst), die nach dem Zufallsverfahren ausgewählt wurden. Das Durchschnittsalter der Studenten, die zwischen 16 und 42 Jahre alt waren, betrug 21,02 (ss 3.01). Zur Auswertung der Daten wurden die Fragebögen “Religiöses Leben” und “Die Furcht vor dem Tod” verwendet. Die erfaßten Daten wurden entsprechend der Hypothesen nach statistischen Berechnungen analysiert und bewertet.
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Die grundlegende Neuklärung der Beziehungen zwischen den beiden großen in Indien entstande-nen Religionskulturen Hinduismus und Buddhismus wird im neuen Jahrhundert zu einem der vordringlichsten interreligiösen Projekte werden. Das Anwachsen der weltpolitischen Bedeutung Asiens im allgemeinen und die sich intensivierenden Kontakte der buddhistisch-hinduistisch geprägten Länder untereinander schließen den überkommenen religiösen Isolationismus künftig aus - es sei denn der Bürgerkrieg in Sri Lanka soll Schule machen. Schon aus Gründen einer friedlichen Gestaltung der Beziehungen der Staaten indoasiatischer Kultur sollte die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Hinduismus und Buddhismus stärker in den Vordergrund religionswissenschaftlicher Studien gerückt werden. Die Klärung der hinduistisch-buddhistischen Beziehungen ist so alt wie der Buddhismus selbst. Die Formen der Klärung waren und sind vielschichtig. Das Spektrum der Klärungsversuche und Klärungen reicht u.a. von kontroversen wissenschaftlichen Theorien, integrativen und abgren-zenden religiösen Dogmatiken und Ideologien, über fromme und oft unorthodoxe Massenbewegungen, kalkulierende und konfessorische Machtpolitik bis hin zu sakralen Institutionalisierungen. Um auf diese Komplexität einzugehen, wird das Thema an ganz unterschiedlichen Materien abgehandelt. Doch wird die Untersuchung insoweit vorstrukturiert, als sie unter die theoretische Leitfrage nach Nichtdifferenz und Differenz als Grundzug der Beziehungen von Buddhismus und Hinduismus gestellt wird. ...
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Das Thema "Frauen und Islam" löst bei vielen Menschen in westlichen Gesellschaften eine Assoziationskette aus, in der unweigerlich Stichworte wie "Harem", "Patriarchat", "Verschleierung" und "Unterdrückung" vorkommen. Titelseiten von Romanen, reißerischen Berichten oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen über muslimische Frauen werden stets mit denselben stereotypen Wort- und Bildkombinationen versehen, die Verschleierung und Abschließung als vorherrschende Merkmale weiblichen Lebens in islamischen Gesellschaften darstellen. Der Islam erscheint als eine ausgeprägt patriarchale Religion, die von Frauen nur erduldet und nicht gestaltet wird. Frauen werden als passive Objekte islamisch geprägter religiöser und gesellschaftlicher Normen, nicht als handelnde Subjekte aufgefaßt. Die Position von Frauen in islamischen Gesellschaften wird entweder an westlichen Gesellschaften oder an normativen Aussagen religiöser Schriften gemessen, was in beiden Fällen wenig Raum für die Ansichten der muslimischen Frauen selbst läßt.
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Noch vor einem Jahrzehnt war es nicht selbstverständlich, sich ernsthaft mit den Ideen des einstigen Marburger Theologen und Religionswissenschaftlers Rudolf Otto (1869-1937) auseinanderzusetzen. Bis in die achtziger Jahre waren sie mehr eine Angelegenheit religionshistorischer Forschung oder Marburger Fakultätsgeschichte. Dies hat sich geändert; nunmehr wird Rudolf Ottos Religionstheorie wieder diskutiert, wenn auch durchaus kontrovers. Diese neuerliche Entdeckung Rudolf Ottos, die nicht nur in Deutschland, sondern auch auf internationaler Ebene stattfindet und im Internet sogar umfassend und systematisch vorangetrieben wird, ist kein Zufall. Sie reflektiert das unerwartete Auferstehen der von funktionalistischen Ideologien als pathogene Illusion denunzierten, vom säkularistischen Kulturmanagement als Motivation zum 'rechten' Handeln mißbrauchten und von atheistischen Gewaltherrschaften und Massenbewegungen des vergangenen Jahrhunderts planmäßig und brutal unterdrückten Religion. ...
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Die Katharer, deren Namen vom griechischen katharoi (gr., die Reinen) hergeleitet wird, waren im 12. und 13. Jahrhundert eine so einflußreiche religiöse Bewegung im Abendland, daß sie in der allgemeinen Bezeichnung Ketzer fortleben. Ihr in gnostisch-manichäischer Tradition stehendes Gedankengut war vielleicht vom 11. Jahrhundert an über die bulgarischen Bogomilen nach Westen vermittelt worden. Die katholische Kirche hatte sich seit der gregorianischen Reform aus der Unterordnung unter den weltlichen Adel befreit und war zu einer eigenständigen Feudalmacht herangewachsen, die autonom über Grundeigentum verfügte und die Herrschaft über das Abendland beanspruchte. Die katharischen Vollkommenen (lat., perfecti) hingegen lehnten für ihre Kirche den Besitz von Grundeigentum ab und erstrebten für sich persönlich ein Leben in Armut und untadeliger Askese. Unter ihren Anhängern waren Kräfte unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft, die aus vielfältigen Motiven heraus mit der römischen Feudalkirche in Konflikt gekommen waren. In Südfrankreich etwa wurden die Katharer unterstützt von großen Teilen des Adels, der durch das dort geltende Erbrecht gegenüber den katholischen geistlichen Einrichtungen ökonomisch stark ins Hintertreffen geraten war. ...
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„Meine Herren – Es wackelt alles“. Mit diesen berühmten Worten hatte Ernst Troeltsch die kirchliche, die religiöse und die theologische Situation der Zeit vor gut 100 Jahren umrissen: Es war 1896, auf einem Kongreß der „Freunde der Christlichen Welt“, einer Gruppe liberal denkender Professoren aus allen Fakultäten. Troeltsch hatte dabei beides im Blick: den Zustand der Kirche und die Sache der Theologie. „Es wackelt alles.“ Genau diese Empfindung war es, die vielen von uns jüngeren Theologen in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu schaffen machte. Was „wackelte“, war zunächst die Sache der Theologie selbst, die damals häufig, beispielsweise auf dem Stuttgarter Kirchentag von 1969, als „Streit um Kaisers Bart“ in Frage gestellt und lächerlich gemacht wurde. Und zwar keineswegs von Atheisten oder anderen Gegnern der Kirche, sondern von jungen Theologen, von Studenten und Vikaren. Verunsichert waren sie vor allem durch die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibel-Exegese, die gar nicht mit den Ursprungsmotivationen für ihr Theologiestudium zusammenpassen wollten. Verunsichert waren sie zusätzlich durch die marxistische Religionskritik, die damals ihre große Renaissance erlebte. Und „es wackelte“ nicht nur die Theologie; sondern es begannen auch die nach 1945 so kräftig restaurierten Funktionen und Rollen der Kirche zu wackeln. Als verunsichernd wurde vor allem die ungewohnte und scharfe (dabei de facto unwissenschaftlich einseitige) sozialkritische Analyse des Handelns der Kirche und seiner Folgen in 2000 Jahren Christentumsgeschichte empfunden. „Vom Elend des Christentums“ hieß die polemische Kampfschrift des jungen Marburger Dr. theol. Joachim Kahl. Das kleine Rowohlt-Büchlein fand reißenden Absatz unter den theologischen und nichttheologischen Kritikern der Kirche. ...
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Mystik im Protestantismus
(2000)
Ob die wenigen Protestanten Rüdesheims, denen die nassauische Landesregierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im säkularisierten Eibinger Kloster einen Raum für ihre Gottesdienste überlassen hatte, ob der Urgroßvater meiner Frau, der von 1870-1904 evangelischer Pfarrer in Bingen war, die Mystik als mögliche Form einer protestantischen Frömmigkeit anerkannt hätten? Schon Friedrich Schiller war da skeptisch! Im ersten Band seiner „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“ (Leipzig 1788) schrieb er, spätere religionssoziologische Positionen vorwegnehmend: „Einem romantischen Volke ... war eine Religion angemessener, deren prächtiger Pomp die Sinne gefangen nimmt, deren geheimnisvolle Rätsel der Phantasie einen unendlichen Raum eröffnen, deren vornehmste Lehren sich durch malerische Formen in die Seele einschmeicheln. Einem Volke im Gegenteil, das, durch die Geschäfte des gemeinen bürgerlichen Lebens zu einer undichterischen Wirklichkeit herabgezogen, in deutlichen Begriffen mehr als in Bildern lebt und auf Unkosten der Einbildungskraft seine Menschenvernunft ausbildet - einem solchen Volke wird sich ein Glaube empfehlen, der die Prüfung weniger fürchtet, der weniger auf Mystik als auf Sittenlehre dringt, weniger angeschaut als begriffen werden kann. Mit kürzeren Worten: Die katholische Religion wird im ganzen mehr für ein Künstlervolk, die protestantische mehr für ein Kaufmannsvolk taugen“. ...
36 a
Die zentrale theologische Frage der kanonischen und apokryphen Überlieferungen der tamilischen Shrivaishnavas lautet: Hat der Herr den Heilsprozeß in Gang gesetzt, um die Menschen zu retten, wie die anthropozentrische Soteriologie lehrt, oder um sich Liebhaber zu verschaffen, wie eine theozentrische Soteriologie lehren würde? Zur Beantwortung dieser Frage wird die theozentrische Erlösungsreligion im besonderen zu untersuchen sein, weil sie apokryph gehalten wurde und aus Quellen, die allesamt anthropozentrisch überdeckt sind, erst noch rekonstruiert werden muß. ..
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Der „Berufs-Ordnung für die Diakonissinnen des westfälischen Diakonissenhauses zu Bielefeld“ in Bethel aus dem Jahr 1882 ist der Diakonissenspruch Wilhelm Löhes (1808-1872) vorangestellt. Löhe hatte in den 1850er Jahren im bayrisch-fränkischen Neuendettelsau das dortige lutherische Diakonissenhaus gegründet. Sein Spruch fasst das Essentiales evangelischer Diakonissenschaft im 19. Jahrhundert zusammen: „Was will ich? Dienen will ich. – Wem will ich dienen? – Dem Herrn Jesu in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich darf!“ Dann folgt die Aussage, der das Zitat im Titel dieses Vortrages entstammt: „Und wenn ich dabei umkomme? Komme ich um, so komme ich um, sprach Esther, die Königin, die doch Ihn nicht kannte, dem zu lieb ich umkäme, und der mich nicht umkommen läßt. – Und wenn ich dabei alt werde? – So wird mein Herz doch grünen wie ein Palmbaum [Anspielung auf Ps 92, 13: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum.“, M.B.] und der Herr wird mich sättigen mit Gnade und Erbarmen. Ich gehe in Frieden und fürchte nichts.“ Mit den Worten „Komme ich um, so komme ich um“ wird die Heldin des alttestamentlichen Buches Esther (4, 16 Ende) zitiert. Sie war als Jüdin zur Lieblingsfrau und Königin des Perserkönigs Ahasveros (alias Xerxes) erkoren worden und hatte von einem Mordkomplott gegen ihr im persischen Exil lebendes Volk erfahren. Um Fürbitte für ihr Volk zu leisten, erschien sie ungerufen vor ihrem König, ein Verhalten, auf das eigentlich die Todesstrafe stand. Aber das Wagnis gelang; der König hörte sie gnädig an, bestrafte die Verschwörer mit dem Tod und erlaubte dem Volk Israel, grausame Rache an seinen Feinden zu nehmen. Das jüdische Purim- Fest erinnert daran; das Buch Esther enthält die zum Fest gehörige Kultlegende. So wie Esther, die doch Christus, der vom Tod errettet, nicht einmal kannte, soll die Diakonissin in ihrem beruflichen Einsatz den Tod nicht fürchten, weil sie ihren Herrn kennt. ...
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"Mit Hinduismus bezeichnet man im Abendland die dritte und letzte geschichtliche Entwicklungsphase in der indischen Religionsgeschichte, ... deren Beginn um 400 v.Chr. anzusetzen ist. Die Anhänger des H. werden erstmals von den nach Indien eindringenden Moslems als 'Hindus' bezeichnet. Das mittelalterliche persische Wort 'Hindu' – abgeleitet vom arabischen 'hendava' (Ableitung aus dem Sanskrit: 'sindhu') – ist eine Kennzeichnung für die Landschaft und deren Bewohner am Indus."1 Der Hinduismus - als demnach religionswissenschaftlich ungenauer Sammelbegriff für alle nachbuddhistischen Religionen des indischen Subkontinents - umfasst somit die vielfältigen Glaubens- und Lebensformen der heutigen Inder, die durch besondere Sozial- und Kastenordnungen in gleichsam heiliger Verbindung untereinander stehen. Die geschätzte Zahl aller Hindus (mehr als 719 Millionen Menschen) macht momentan ca. 13,4% der Weltbevölkerung aus, Tendenz steigend. Somit ist der Hinduismus, als Ganzes betrachtet, die drittgrösste Weltreligion nach Islam und Christentum. Nicht zuletzt der Blick auf die Bevölkerungsstatistik des inoffiziellen Einwanderungslandes Bundesrepublik Deutschland am Ende des Jahrtausends4 macht deutlich, wie überaus notwendig in der Schule eine fundierte Auseinandersetzung mit jenem Glaubens- und Gedankengut der unter uns lebenden MitbürgerInnen aus dem indo-asiatischen Raum sein sollte. Geprägt durch Gedanken an einen Dialog auf kulturellen wie auch interreligiösen Ebenen, waren diese Fakten für mich Anlass genug, die schulische Behandlung des Hinduismus im Zusammenhang mit einer von den Hessischen Rahmenrichtlinien festgelegten, verbindlichen Einführung in die grossen (monotheistischen) Weltreligionen bereits in der Sekundarstufe I des Gymnasiums zu erwägen. Ein wo immer möglicher Bezug zu bzw. ein Vergleich mit der reichhaltigen Glaubenstradition des abendländischen Christentums war in diesem Zusammenhang erwünscht wie religionspädagogisch unumgänglich. ...