ZfL Blog : Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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13.07.2023
12.06.2023
02.06.2023
Spiele und ihre Räume
(2023)
Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.
08.05.2023
Hans Jonas im Radiointerview
(2023)
Am 10. Mai 2023 jährt sich der Geburtstag des Philosophen Hans Jonas zum 120. Mal, der 5. Februar war sein 30. Todestag. Dies soll Anlass sein, auf ein Interview mit ihm hinzuweisen, das 1988 erstmals im Radio ausgestrahlt wurde und seit kurzem wieder zugänglich ist. Geführt wurde das Gespräch von dem Journalisten Harald von Troschke (1924–2009), der für die Aufzeichnung einen Besuch des aus den USA angereisten Hans Jonas' in Heidelberg nutzte.
24.04.2023
Ende 1972, vielleicht war es auch Anfang 1973, lief im Hauptgebäude der Moskauer Lomonossow-Universität eine Voraufführung von Andrej Tarkovskijs Spielfilm "Solaris". Auf einer Forschungsstation über dem riesigen Ozean des Planeten Solaris soll der Psychologe Chris Kelvin dabei helfen, seltsame Vorgänge aufzuklären. Die Wissenschaftler werden dort von menschlichen Wesen 'besucht', die Projektionen ihrer eigenen quälenden Erinnerungen sind. Ohne die Aussicht, das Rätsel des Ozeans je zu lösen und ins Vaterhaus auf der Erde zurückzukehren, bleibt Kelvin schließlich auf der Station. [...] Andrej Tarkovskij (1932–1986) zählt heute zu den großen, weltweit bekannten russischen Filmregisseuren des 20. Jahrhunderts. Unter Cineasten war er 1972 schon längst kein Geheimtipp mehr; "Solaris" war sein dritter abendfüllender Spielfilm. Der Sohn des Dichters Arsenij Tarkovskij hatte bis 1960 am Moskauer Staatlichen Filminstitut in der Regieklasse von Michail Romm studiert. Seine Anfänge als Regisseur fielen in die sogenannten Tauwetter-Jahre, als sich der sowjetische Film von der heroischen Ästhetik der Stalinzeit befreite, individuelle Schicksale stärker in den Blick nahm und in Anlehnung an den Avantgardefilm der 1920er Jahre teils mit subjektiver Kameraführung experimentierte. [...] Das Drehbuch zu "Solaris" schrieb Tarkovskij gemeinsam mit dem Schriftsteller Fridrich Gorenstejn (1932–2002). Später bekannte Tarkovskij, dass ihn Lems eigentliche Science-Fiction-Geschichte über das Aufeinandertreffen von menschlicher Vernunft und einem so unergründlichen kosmischen Phänomen wie dem schweigenden, aber offenbar lebendigen Ozean auf dem Planeten Solaris wenig interessiert habe. Deshalb verschober im Film die Perspektive auf die ethische Dimension jeglichen Handelns des Menschen - sowohl gegenüber seinen Mitmenschen als auch gegenüber der Zukunft der Erde.
19.04.2023
Neulich nahm ich ein Buch von Sigrid Weigel in die Hand, das 1982 erschienen ist. Normalerweise bleiben alle Buchtitel auf einer Publikationsliste brav in einer chronologischen Reihe, und selbst wenn die Schlange sehr lang ist, was bei Weigel zweifellos der Fall ist, springt keiner von ihnen aus der Reihe und rennt nach vorne, in Richtung Zukunft. Aber es kommt doch vor, dass man, zum Beispiel bei einem Umzug, eines der Frühwerke in die Hand nimmt und darin blättert. Man wird überrascht von schillernden Denkbildern, die von heute sein könnten. Ansätze und Zusammenhänge, die man einer späteren Phase zugeordnet hätte, oder solche, die man jetzt erst begreift, stehen bereits in den älteren Büchern schwarz auf weiß. Gerade im digitalen Zeitalter, in dem die historischen Rahmen verschwimmen, gefällt mir die Unbestechlichkeit des Papiers, das die Zeit nie schleichend verfälscht. In der Forschung gibt es stets Fortschritt, aber wenn ich mir erlaube, Weigels Schriften nicht nur als wissenschaftliche Texte, sondern als Texte in ihrer gattungsfreien Nacktheit zu lesen, gibt es keinen Satz darin, der überholt ist. Die zeitliche Ordnung bleibt, verliert aber ihren hierarchischen Charakter. Wo ich eine alte Erinnerung erwarte, entdecke ich eine neue Möglichkeit, die Gegenwart zu verstehen. So entstand in mir der Wunsch, die jüngere Vergangenheit durch das Fenster der älteren zu betrachten. Ich rede hier nicht von der magischen Glaskugel einer Wahrsagerin, sondern von einer soliden Relektüre.
03.04.2023
Das ZfL dürfte die einzige Institution gewesen sein, der er je nähergetreten ist. Als Senior Fellow schätzte er vor allem den Zugang zur Bibliothek des Hauses, wo man ihn häufig im Gespräch fand mit den Bibliothekarinnen oder anderen Besuchern, stets neugierig, mitteilungsfreudig, und meistens heiter. Manche Jüngere haben erst im Laufe der Zeit erfahren, dass der muntere ältere Herr so berühmt war. Ansonsten pflegte er gewissenhaft Abstand zu allem Institutionellen. Die Position des nicht direkt involvierten Beobachters war ihm schon während des Studiums in Frankfurt a.M. und Berlin zur zweiten Natur geworden. Sie befähigte ihn zeitlebens zu oft überraschenden, häufig provozierenden Ansichten, die sich mit Eitelkeit nicht vertrugen. Wolfgang konnte sehr charmant sein, aber er war vollständig uneitel. [...] Als Ein-Mann-Forschungsinstitution hat Wolfgang ein denkbar breites Themenfeld bearbeitet. Es reicht von der Geschichte der Eisenbahnreise (1977) über die Bedeutung der Genussmittel (1980) und die Elektrifizierung der Großstädte (1983) bis zu Analysen über die Kulturpolitik in Berlin in der kurzen Spanne nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs (1995), die Kultur der Niederlage (2001) und das Verschwinden des geordneten Rückzugs aus der Geschichte der Kriege (2019). In Technik-, Mentalitäts-, Intellektuellen- oder Militärgeschichte und auch im wohlfeilen Label der 'Kulturgeschichte' geht keines auf - wenngleich die Frage nach Gewinnern und Verlierern der Geschichte eine Konstante im Werk darstellt.
07.03.2023
In the retrospect of almost a decade, the year 2015 seems to offer at least two openings which can help us better understand and localize the "end of theory" narratives that began to take hold sometime around the end of the millennium. Rita Felski's much-discussed and much-maligned 2015 book, "The Limits of Critique", construed the long history of "critique" as largely continuous with the more recent (postwar) idea of "theory," which allowed her to question the presupposed progressivity and utility of the dominant critical-theoretical discourses of late 20th-century North American academia. In the same year, Philipp Felsch's "Der lange Sommer der Theorie" (which was recently published in English as "The Summer of Theory") went so far as to assign specific dates, 1960–1990, and tended to define theory not as a purely academic product, but as a much wider cultural movement. Between the two books, questions of the difference between theory and critique, their specific institutional locus within and beyond academia, became objects of acute concern.
28.02.2023
In present-day Germany, research on postwar academia, up through the 1960s and beyond, requires no special justification. But from the North American side, the point of this scholarly activity - including the many new editions and a flood of archive-based publications - is much less obvious. For the most well-established figures of the period, the primary international canonizations were already part of the first waves of the reception, the theoretical tectonics established themselves accordingly, and the theories were established as theories - which are in many quarters presumed to be just as reliable today as they were decades ago. One might say that the international and North American reception of European theory has manifested an overall tendency toward sedimentation, while the dynamic of scholarly research about theory, including the archival unearthing of new sources, tends to complicate and undermine the established corpus of "primary texts."
22.02.2023
Diversität, philatelistisch
(2023)
Seit mehr als 40 Jahren erscheinen in Deutschland Briefmarken, die sich dem widmen, was wir heute gesellschaftliche Vielfalt oder Diversität nennen. Im November 2022 wurde unter dem Titel "Vielfalt in Deutschland" eine neue Marke präsentiert. An deren Motiv, vor allem aber ihrer Präsentation durch die Deutsche Post DHL Group (wie die Deutsche Post heute offiziell heißt) wird deutlich, wie schwer es ist, zeitgemäße Bilder für 'Diversität' zu finden. [...] Das Massenmedium Briefmarke hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass Menschen weniger Briefe und Postkarten schreiben und folglich immer weniger Marken verklebt werden. Seit der Privatisierung der Post in den 1990er Jahren hat die Briefmarke zudem als Teil der staatlichen Selbstdarstellung und damit der politischen Ikonographie an Bedeutung eingebüßt. So wird nur noch ein Teil der Marken vom Finanzministerium und dem Kunstbeirat für Postwertzeichen verantwortet, der andere wird von der Deutschen Post herausgegeben. In der Konsequenz bedeutet dies, dass manche Motive aus primär kommerziellen Gründen gewählt werden und nicht mehr, um spezifischegesellschaftliche Anliegen zu repräsentieren, die der Staat sich zu eigen macht. Infolge dieser Kommerzialisierung haben sich neue Motivgruppen und Darstellungsstile etabliert, die offenbar als marktgängiger empfunden werden. Schließlich hat die Einführung eines individuellen Matrixcodes, der seit 2021 in Deutschland auf allen neuen Briefmarken zu finden ist, dem Design der Marken ein neues Element hinzugefügt. Dieses mag zwar der Nachverfolgung von Postsendungen dienen und Fälschungssicherheit garantieren, gestalterisch indessen bringt es dieses Kunstwerk in Miniaturformat, als das es Walter Benjamin einst ansah, in die Bredouille. Doch trotz des nicht zu leugnenden Prestigeverlusts: Die Briefmarke ist und bleibt ein Massenmedium, mit dessen Hilfe sich die Staaten dieser Welt nach innen wie nach außen ein bestimmtes Image geben wollen. Was also sagen uns die Marken zur Diversität?
07.02.2023
Rethinking smartness
(2023)
Like many metropolitan centers around the world, Berlin aspires to be a "smart city." Making a city smart usually involves constructing a dense net of sensors, often embedded in and around more traditional infrastructures throughout the urban environment, such as transportation systems, electrical grids, and water systems. The process also requires the city to solicit the distributed input of its inhabitants through active technological means, such as smart phone apps. Finally, the city employs high-end computing and learning algorithms to analyze the resulting data, with the goal of optimizing urban technical, social, and political processes. Yet, perhaps counterintuitively, a smart city is not synonymous with a utopian - or even a specific - form of the city, which would then remain stable for the foreseeable future. In this sense, the smart city is quite unlike utopian cities as they were imagined in the past, when it was presumed that a specific form - such as Le Corbusier's "Radiant City" or the concentric circles of Ebenezer Howard's garden cities - would enable a specific goal, such as integration of humans into natural processes, or economic growth, or an increase in collective happiness, or democratic political participation. Rather, a city is "smart" when it achieves the capacity to adjust to any new and unexpected threats and possibilities that may emerge from the city's ecological, political, social, and economic environments (a capacity that is generally referred to in planning documents with the term "resilience"). In short, a smart city is a site of perpetual learning, and a city is smart when it achieves the capacity to engage in perpetual learning.
26.01.2023
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik - und später Rettungsflugzeugen - wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Radius der Einsätze erheblich auszuweiten. Weniger offenkundig ist, in welcher Weise diese Entwicklungen auf das Gefüge der Normen und Werte zurückwirken, das der humanitären Seenotrettung zugrunde liegt, und inwiefern sie daran beteiligt sind, den Schiffbruch als einen bestimmten "Situationstyp" zu definieren. Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich die Herausbildung von Normen und normsetzenden Paradigmen alternativ zu den großen Erzählungen des Humanitarismus beschreiben lässt.
21.12.2022
Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der "begriffsgeschichtlichen Methode" befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 "Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft" in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien. Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten, ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff 'Chassid' (Frommer) sowie den Chassidismus anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.
19.12.2022
Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von 'Rettung'. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, 'whatever it takes', wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, während sie doch zugleich unterlassene Hilfeleistungen ebenfalls strafrechtlich verfolgten. Über lange Zeit hatten Schiffbrüchige im öffentlichen Diskurs die Stelle als privilegierte Zielobjekte unbedingter Rettungsimperative besetzt, die sogar das Risiko eines Selbstopfers in Kauf zu nehmen verlangten. Nun schien es, als sei diese Stelle umbesetzt worden. Dass eine solche Umbesetzung aber überhaupt möglich war, warf nicht zuletzt die Frage danach auf, wie es eigentlich um die Geschichtlichkeit derartiger Imperative insgesamt bestellt ist. Diesem Problemzusammenhang geht das Forschungsprojekt "Archipelagische Imperative.Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800" nach, indem es unter anderem untersucht, wie die Schiffbrüchigen überhaupt dazu gekommen waren, die fragliche Stelle zu besetzen.
06.12.2022
Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren. [...] Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen.
25.11.2022
24.11.2022
Die Rettung von Menschenleben ist eine von vielen Aktivitäten, deren Regelung souveränen Staaten obliegt. Historisch betrachtet gibt es verschiedene Definitionen von Souveränität. Seit dem 19. Jahrhundert bedeutet sie jedoch überwiegend die Kontrolle von Grenzen und die Verabschiedung von Gesetzen innerhalb derselben. So lassen sich die vielfältigen Verbindungen des Begriffs der Souveränität mit der Geschichte des Schiffbruchs und der Lebensrettung im 19. Jahrhundert auf zweierlei Weise untersuchen: Erstens ausgehend von der Souveränität als einer Form der rechtlichen, (bio)politischen, diplomatischen, territorialen bzw. maritimen Kontrolle, die zunehmend mit humanitären, kommerziellen und sicherheitspolitischen Fragen verknüpft wurde; zweitens anhand der Figur des Souveräns, der als Schirmherr und Förderer humanitärer Initiativen, einschließlich der Seenotrettungsgesellschaften, fungierte und für die Entstehung und das Selbstverständnis dieser Gesellschaften von zentraler Bedeutung war.
21.11.2022
Wir sind heutzutage mit Bildern menschlichen Leids mehr als vertraut. [...] Doch was sind die historischen Ursprünge dieses Topos? Wie lassen sich die diskursiven Tropen, die unsere moralischen und affektiven Begegnungen mit dem humanitären Bild bestimmen - die 'Mitleidsmüdigkeit', der Zwang hinzusehen -, durch die Geschichte der Ikonographie des Leidens verfolgen? Die Darstellung gefährdeter Seeleute nimmt in dieser Geschichte einen besonderen Platz ein. [...] Wie hat sich diese Ikonographie im Laufe der Zeit entwickelt? Welche Art von moralischem Subjekt setzen solche Darstellungen als Betrachter voraus und welche Art von Reaktion lösen sie bei diesem aus? Diese Bilder entstanden parallel zur Entwicklung der sozialen und kulturellen Hegemonie des Bürgertums und der des 'modernen' Subjekts, der Privatperson im Sinne des Liberalismus. Das Selbstverständnis dieser Figur (und ihre Klassenzugehörigkeit) hingen zunehmend von einer Reihe von Annahmen über ihre moralische Weltanschauung ab. Bilder von Schiffbrüchigen können uns also viel über die Entstehung dieses modernen Subjekts, die Geschichte der Emotionen und ihre Beziehung zur Moral erzählen.
10.10.2022
Viel Lärm um alles : über das Romanfragment "Guerre" aus dem Nachlass Louis-Ferdinand Célines
(2022)
Der Nachlass des 1961 gestorbenen Louis-Ferdinand Céline war das Ereignis im literarischen Frankreich der letzten Monate. Neben der Tatsache, dass Célines Vulgarität und sein Antisemitismus unverändert zum Skandal taugen, dürften dazu auch die absonderlichen Begleitumstände beigetragen haben, unter denen dieser Nachlass ans Licht kam. Als zeitweiliger Nazi-Sympathisant hatte Céline 1944 die Flucht aus Paris ergriffen und dabei umfangreiche Manuskriptkonvolute zurückgelassen, die jahrzehntelang als verschollen galten. Céline selbst war fest davon überzeugt, sie seien ihm gestohlen und möglicherweise auf dem Flohmarkt verkauft worden. Im Jahr 2005 wurden dem Journalisten Jean-Pierre Thibaudat nach eigener Aussage von einer von ihm selbst lang geheim gehaltenen, erst vor wenigen Wochen effektvoll namhaft gemachten Person Originalmanuskripte Célines im Umfang von ca. 6000 Seiten überantwortet. [...] Erschienen ist bisher ein einziges, etwa 120-seitiges Romanfragment mit dem Titel "Guerre". Céline hat den Text höchstwahrscheinlich zwischen seinen beiden ersten, längst zu Klassikern der Weltliteratur aufgestiegenen Romanen "Reise ans Ende der Nacht" (1932) und "Tod auf Raten" (1936) verfasst. Guerre bildet eine Art Scharnier zwischen ihnen. [...] Wenn "Guerre" unter werkgenetischem Gesichtspunkt auch als bahnbrechender Fund gelten darf, so geht die Bedeutung des Romans hierin nicht auf. "Guerre" ist ein Buch nicht allein für die Céline-Philologie, sondern einer der wichtigsten Romane über den Ersten Weltkrieg und damit einer der wichtigsten europäischen Kriegsromane überhaupt.
04.10.2022
Das Streben nach Unsterblichkeit durchzieht die gesamte Geschichte der Menschheit, doch in Zeiten des beschleunigten gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Wandels zeichnet es sich durch eine gesteigerte Intensität aus. Immer wieder wurde das Verständnis von Immortalität hinterfragt (physische vs. metaphysische Unsterblichkeit, todloses Leben vs. Auferweckung nach dem Tod, Langlebigkeit vs. ewiges Leben usw.), wurden ihre Spielarten neu definiert. Die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften in der westlichen Welt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die Erfolge der Immunologie, Juvenologie und Gerontologie eingeschlossen, sind hinlänglich bekannt. Auch dem radikalen Utopismus der russisch-sowjetischen Avantgarde wurde bereits viel Aufmerksamkeit zuteil. [...] Allgemein ist festzustellen, dass bisherige historische Darstellungen die Einbeziehung des slawischen Osteuropas vermissen lassen. Gibt es Parallelen zwischen den bedürfnislosen, arbeitsamen Unsterblichen, die gemäß einem fiktionalen Entwurf des in den 1920er Jahren als Ingenieur für Elektrifizierung tätigen Schriftstellers Andrej Platonow in einem Labor für Anthropotechnik dank einer neuartigen Elektrosphäre hervorgebracht werden, und den Robotern oder dem Absolutum bei Karel Čapek? Ist angesichts der möglichen Existenz unsterblicher kybernetischer Organismen die anthropologische Neuerzählung der Schöpfungsgeschichte überzeugend, die Borislav Pekić 1980 vornahm, wohlgemerkt mit einem weiblichen Cyborg als Protagonistin, die sich biblisch als "Ich bin, die ich bin" zu erkennen gibt? Spiegeln programmatische Selbstentwürfe, die sich auf sogenannte höhere, esoterisch anmutende mathematisch-naturwissenschaftliche Konzepte stützen, regionale Formen wissenschaftlicher Religiosität oder den Versuch, die globale Logik des materialistischen Daseins zudurchbrechen, wider? All diese Fragen harren noch einer Antwort.
20.09.2022
Die Zeitdiagnostik der Moderne hat einen Hang zur Totalisierung und Defizitorientierung: Die 'Diagnose' war in den vergangenen Jahrhunderten dazu da, die Krankheit der gesamten Gesellschaft festzustellen, um im besten Falle in einem nächsten Schritt Therapiemöglichkeiten vorzuschlagen, auf jeden Fall aber durch die Kritik am Ist-Zustand verborgene Missstände und auch Fehlmedikationen zu entlarven. Diese Form der Kritik ist heute zunehmend in Verruf geraten. So unterzog Bruno Latour den modernen Gestus der kritischen Entlarvung einer grundlegenden Revision. Indem die Gesellschaftstheorie in einem selbstgerechten Herrschaftsmodus die Bedeutsamkeit, die Menschen den Dingen verleihen, entweder als Fetisch oder als physiologischen Zwang abgetan habe, sei sie ihrer sozialen Geltung verlustig gegangen: "Is it so surprising, after all, that with such positions given to the object, the humanities have lost the hearts of their fellow citizens, that they had to retreat year after year, entrenching themselves always further in the narrow barracks left to them by more and more stingy deans? The Zeus of Critique rules absolutely, to be sure, but over a desert." Für andere Stimmen, vornehmlich aus den Gender, Postcolonial und Queer Studies, ist es an der Zeit, die Kombination aus Verdacht, Selbstvertrauen und Entrüstung, die die Tradition der Kritik mit sich bringt, zugunsten einer stärkeren Involviertheit und Nähe zu den besprochenen Gegenständen abzuschwächen, emotionale Reaktionen zuzulassen und Überforderungen einzugestehen. Nicht nur die der Kritik inhärente Differenz von Subjekt und Objekt, sondern auch der Versuch einer Gesamtansicht muss heute - angesichts der gesteigerten Sensibilität für die gewaltsame Seite von Homogenisierung und Repräsentation - mit starkem Gegenwind rechnen. Wie ist, so kann man fragen, Zeitdiagnostik im 'Zeitalter der Postkritik' überhaupt noch möglich?
26.08.2022
Performance. Oper. Feminismus : Bemerkungen zu "7 Deaths of Maria Callas" von Marina Abramović
(2022)
Auf der Bühne der Deutschen Oper liegt eine Frau in einem Bett. Wir blicken, so ist dem Programmheft zu entnehmen, in die Rekonstruktion eines historischen Schlafzimmers. Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou soll hier gewohnt haben, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Callas. [...] Bevor Abramović in Kalogeropoulous Schlafzimmer erwacht, gab es sieben Kurzfilme zusehen, die als filmische Kommentare auf sieben Bühnentode des klassischen Opernrepertoires konzipiert wurden. In der Reihenfolge ihres Ablebens treten auf: Violetta, Tosca, Desdemona, Cio-Cio-San, Carmen, Lucia und Norma. In den Filmen lässt sich Abramović von deren jeweiligen Todesarten inspirieren: Abramović stürzt von einem Turm, Abramović wird von einer Schlange erwürgt, Abramović zertrümmert im Wahnsinn Mobiliar usw., alles bei ununterbrochenem Einsatz der Zeitlupe. Den Filmen wird die sie jeweils inspirierende Szene live musikalisch zur Seite gestellt, jede Figur dabei von einer anderen Sängerin verkörpert. Allerdings kommen in den meisten Fällen nicht die tatsächlichen Todesszenen der betreffenden Dramatis Personae zur Aufführung, sondern ein Potpourri ihrer vermeintlich schönsten Melodien. [...] Das fundamentale dramaturgische Problem der "7 Deaths of Maria Callas" erklärt sich aber erst mit Blick auf eine Installation, die Abramović auf Grundlage derselben Zusammenstellung von Film und Musik, allerdings unter Zuhilfenahme von historischen Aufnahmen von Kalogeropoulou präsentiert hat. In dieser Version, unter dem Titel "7 Deaths" in der Londoner Lisson Gallery gezeigt, entfaltet sich ein intimer Dialog zwischen deutlich voneinander zu unterscheidenden Medien und Stilen. Die Autonomie der musikalischen Darbietung geht in der Bühnenversion verloren, der Charakter der Installation verschiebt sich in Richtung Stummfilm mit Live-Musik. Letztere hat nur noch begleitende Funktion und kann weder von der Aura des Historischen noch von den stilbildenden Interpretationen der Callas profitieren. Noch in ihrer Abwesenheit stellt Kalogeropoulou aber an performativer Intensität alles zur Aufführung Kommende in den Schatten. Denn während Abramović bei dem Versuch scheitert, sich mit ihrer physischen Präsenz gegen ihren eigenen Celebrity-Status zu behaupten, treten die Sängerinnen des Abends mit dem Medienphänomen Maria Callas in Konkurrenz. Eine Übermacht völlig anderen Kalibers.
17.08.2022
In early 1944, shortly after the liberation of Kyiv, the Yiddish poet Dovid Hofshteyn (1889–1952) returned home from evacuation and was confronted firsthand with the horrors of the Holocaust. This encounter moved him to pen the passionate essay "Muzeyen fun shand" ("Museums of Shame"). [...] He suggested gathering pictures, documents, and tools of this terrible time that were to be displayed in so-called museums of shame in "every major city in the world and in every point of German population." [...] Before the Russian invasion of Ukraine in February 2022, there were plans to fully open the Babyn Yar Holocaust Memorial Center by 2023 - though those plans have certainly been hindered by the latest war of aggression on the territory of Ukraine. [...] However, even prior to the Russian war against Ukraine, the Memorial Center was already shrouded in controversy. Some critics were wary that certain funders - Russian oligarchs with ties to Putin - would seek to turn the site into an outlet for Kremlin propaganda with an anti-Ukrainian bias that focused predominantly on Ukrainian collaborators. While a number of Ukrainians were indeed collaborators during the Holocaust, even more Ukrainians became victims of the Nazis. Other critics thus argue that a sober look at the crimes committed by Ukrainians as well as by the German occupiers is a sign of the mature civil society which has emerged in Ukraine.
01.08.2022
In his article "The End of History?", originally published in the journal "The National Interest" in Summer 1989, Frances Fukuyama argued that 'the triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systemic alternatives to Western liberalism.' It was in this respect that history had reached its 'end': the course of history in the sense of 'mankind's logical evolution' had arrived at 'the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government'. [...] A look at some of the historical fiction written in the 1980s might suggest ways out of this potential imaginative impasse, offering up alternative possibilities, or 'Gegenwelten', in place of the dispiriting spectacle of history-on-repeat. Fukuyama himself does not mention literature. In fact, the historical fiction of the 1980s reveals a space in which the meaning of 'history' is still very much contested and where the threat of the 'end of history' in its more obvious sense - in the form of nuclear war or climate apocalypse - emerges as a force that speaks powerfully to the anxiety of our present moment. Two evocative novels that have much to tell us in these respects are Christa Wolf's "Kassandra" and Jeanette Winterson's "Sexing the Cherry". Published in 1984 and 1989, these two texts challenged the idea of rational progress and 'mankind's logical evolution' by raising the prospect of a distinctive feminist poetics - of 'écriture féminine' and 'what it will do' as Hélène Cixous had put it in her 1975 essay "The Laugh of the Medusa". The 'Gegenwelten' they propose suggest ways out of the macho strait jacket of violence, destruction and impending nuclear war.
20.06.2022
Jameson argues that in 'a society bereft of all historicity', 'what used to be the historical novel can no longer set out to represent the historical past'. The 'postmodern fate' of the historical novel is to be forced to come to terms with 'a new and original historical situation in which we are condemned to seek History by way of our own pop images and simulacra of that history, which itself remains forever out of reach. Salman Rushdie's "Midnight's Children" (1981) and Patrick Süskind's "Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders" (1984) stand out as two hugely successful novels from this period that raise questions about historical representation within the space of the popular. They might therefore be used as test cases for Jameson's concerns. "Midnight's Children" is a sprawling story of Indian and British imperial and post-imperial history across the twentieth century. "Das Parfum" tells the tightly framed tale of a murderous perfumer in eighteenth-century France. Seemingly very different texts, they bear one curious similarity: both feature a protagonist with an unusually sensitive sense of smell.
09.06.2022
In der Geschichte moderner Gesellschaften sind Zeitschriften und Öffentlichkeit so eng aufeinander bezogen, dass sie nahezu synonym erscheinen. Schließlich soll Öffentlichkeit derjenige Raum sein, in dem freie Menschen sich als Gleiche begegnen und über Belange kommunizieren, die von allgemeinem Interesse sind. In Gemeinwesen, in denen gesellschaftliche Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung nicht durch unmittelbaren Kontakt garantiert sind, helfen Zeitschriften dabei, Öffentlichkeit - oder ausdifferenzierte Teilöffentlichkeiten - herzustellen. Sie tun dies, indem sie Texte und Bilder, Gattungen und Disziplinen, Stimmen und Stimmungen versammeln und bündeln, und indem sie in mal mehr, mal weniger regelmäßiger Folge öffentlichen Austausch auf Dauer stellen.
01.06.2022
Leicht lässt sich das Nachträgliche und Artifizielle an Konstruktionen wie 'French Theory' herausstellen: Sie unterstellen eine Einheit, wo es keine gibt, scheren Theoretiker*innen verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichsten Interessen über einen Kamm. Dennoch bietet die Rede von einer 'French Theory' - im Gegensatz zu den ebenfalls außerhalb von Frankreich entstandenen und popularisierten Sammelbegriffen Poststrukturalismus oder Postmoderne - einige Vorteile. Sie verpflichtet die disparaten Theorien erstens nicht auf ein gemeinsames Programm und verweist zweitens darauf, dass die Produktion von Theorie an einem bestimmten Ort geschieht, in diesem Fall im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre, und ihre Entstehung an einen gesellschaftlich-politischen Kontext sowie an institutionelle Rahmenbedingungen gebunden ist. In jüngerer Vergangenheit drängt sich zunehmend die Frage nach einer möglichen 'Brazilian Theory' auf. Bereits 2014 erschien in Deutschland, allerdings in englischer Sprache, unter dem Titel "The Forest and the School" eine erste Anthologie. In den folgenden Jahren nahm das Interesse an Theorie aus (und über) Brasilien spürbar zu, was sich nicht zuletzt in einer Reihe von Übersetzungen niederschlug. Als Timo Luks diese Entwicklung 2020 unter dem Titel "Brasilianische Interventionen" im Merkur reflektierte, konnte er bereits feststellen: "Brasilen ist Gegenstand unseres Nachdenkens und Provokation für unser Denken". Selbst von einer sich andeutenden "Brasilianisierung der Theorie" ist hier die Rede. Doch lässt sich angesichts der zunehmend vernetzten, internationalen und multilingualen Welt, in der diese Theorie entsteht, überhaupt noch sinnvoll das Label eines Nationalstaats verwenden?
23.05.2022
Am zweiten Wochenende des Oktobers 1913 versammelten sich weit über zweitausend junge Frauen und Männer auf dem Hohen Meißner in Hessen. Eingeladen zu diesem Treffen hatte eine lose Vereinigung von Jugendbünden, die den patriotischen Auswüchsen des Kaiserreichs etwas entgegensetzen wollten. Denn im gleichen Monat fanden die offiziellen Festakte zum hundertjährigen Jubiläum der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig statt, in der die napoleonischen Truppen ihre entscheidende Niederlage erlitten hatten. Anlässlich des Rückblicks auf dieses historische Ereignis sollte ein monumentales Denkmal eingeweiht werden. Zu den jugendlichen Gegnern der Reichspolitik gehörten Gruppierungen der Wandervögel und Lebensreformer, die sich für einen fundamentalen Wandel einsetzten. Ihr politisches Ziel war es, die Geschlossenheit einer Jugendbewegung zu demonstrieren, die nichts mehr mit den alten Feindschaften zu tun hatte. Die Alternativveranstaltung war als ein "Fest der Jugend" gedacht, das die Sehnsucht nach einem anderen Leben zum Ausdruck bringen sollte. Die Bewegung forderte unter anderem ein neues Naturverhältnis, das den Ausgangspunkt einer sozialen und ökologischen Gegenwelt zur modernen Gesellschaft mit ihren zerstörerischen Tendenzen bilden sollte. [...] Im Kontext der zweiten Umweltbewegung, die zeitgleich mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit entstand, hat die Biologin Lynn Margulis in ihrem Buch "Symbiotic Planet" (1998) eine Sicht auf die Evolution entfaltet, bei der ebenfalls nicht die Konkurrenz der Lebewesen maßgeblich ist, sondern deren Verbundenheit.
13.05.2022
Die spezifisch französische Sicht auf die Schlacht von Poitiers hat die periphere Position des damaligen Europas unkenntlich werden lassen. Verdrängt wurde damit vor allem, dass zu diesem Zeitpunkt südlich von Poitiers islamische Herrscher nicht nur Nordafrika, sondern auch weite Teile Europas erreicht hatten. Al-Andalus, das islamische Spanien (711–1492), war zum Zeitpunkt der Schlacht weit mehr als ein islamischer Außenposten auf europäischem Boden. Nicht nur, dass sich die Grenzen zwischen al-Andalus und dem kastilischen Spanien im Zuge der jahrhundertelangen Reconquista ständig verschoben, sie waren auch ausgesprochen durchlässig für Sprachen, Wissen und Literatur. Diese inter- und transkulturelle Gegenwelt von al-Andalus hat in der philosophischen und literarischen Tradition Europas vielfältige Spuren hinterlassen.
04.05.2022
Gegenwelten, so eine sozialwissenschaftliche Definition, entstehen, wenn sich Teile der Gesellschaft von "etablierten Denk- und Verhaltensweisen" abwenden und "alternative Vorstellungen über bestehende politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten" entwickeln. Häufig verweist das Wort auf das viel diskutierte und schwer fassbare Phänomen des 'Postfaktischen'. Zugleich legt die Rede von 'Gegenwelten' die Frage nahe, ob jene Teile der Gesellschaft tatsächlich nur "alternative Vorstellungen" entwickeln oder nicht vielmehr 'in ihrer eigenen Welt leben'.
26.04.2022
11.04.2022
Eine Woche lang trafen sich Vertreter*innen des Cinema Spaces Network (CSN) im Berliner Humboldt Forum. Abend für Abend gab es eine Cine Lecture, in der nichtstaatliche Initiativen aus Burkina Faso, Kenia, DR Kongo, Sudan und Südafrika ihre Anstrengungen vorstellten, dem Kino in ihrem Land Raum und Publikum zu verschaffen; sie sind alle auf der Website des CSN archiviert. Im Anschluss an die Lectures wurde ein von den Aktivist*innen ausgesuchter Film gezeigt, wodurch eine Art Zufallspanorama des afrikanischen Kinos entstand. Durchgehend trat dabei die Spannung zwischen politischem Anspruch und den filmkünstlerischen Entscheidungen der hier vertretenen Regisseure zutage. Deutlich wurde bei all dem nicht zuletzt, dass die Realitäten, die unter dem Schlagwort 'Afrikanisches Kino' verhandelt werden, zwar extrem unterschiedlich sein können, aber alle Akteur*innen doch wie selbstverständlich daran festhalten.
23.03.2022
Vor gut zehn Jahren rückte der NSU-Komplex ins Licht einer ahnungslosen Öffentlichkeit. Mit jedem neuen Detail der Mordserie, die bis zu diesem Punkt in den hinteren Mediensegmenten ein belangloses Dasein als 'Dönermorde' fristete, sandte eine Terrororganisation, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte und die Morde nun öffentlich für sich reklamierte, nachträglich Schockwellen ins öffentliche Bewusstsein. Als Antwort auf den Terror, der sich direkt vor ihren Augen und doch jenseits ihrer Aufmerksamkeit abgespielt hatte, eröffnete die Gesellschaft, vertreten durch die Bundesanwaltschaft, dann am 6. Mai 2013 einen Prozess. Den Strafprozess als jenes öffentliche Verfahren, das die Ausübung legaler Gerechtigkeit verspricht - Gerechtigkeit durch Prozess und Gesetz -, nennt die amerikanische Literaturtheoretikerin Shoshana Felman "die angemessenste und wesentlichste, letztlich bedeutsamste Antwort der Zivilisation auf die Gewalt, die sie verwundet". Das Verfahren dieser Antwort verfolgt aber nun einen dezidiert eigenen Zweck, mit einem durchaus anderen Fokus als dem der gesellschaftlichen Aufarbeitung. Die Spannung zwischen dem innerrechtlichen Ziel einerseits - der Feststellung individueller Schuld - und dem gesellschaftlichen Bedarf an Aufarbeitung andererseits durchzieht den gesamten NSU-Prozess und prägt nicht zuletzt die Art, wie der gesamte NSU-Komplex dabei in Erscheinung und auf die Bühne der Welt tritt. Die Frage, wer wann, wo und wie in Erscheinung treten und teilhaben kann, betrifft den Kern des NSU-Terrors selbst. Der Prozess, der diesen Terror verhandelt, partizipiert gleichzeitig selbst performativ an der Frage des Erscheinens. Als eine eigene Miniaturbühne der Welt entscheidet das Gericht nicht nur über Schuld und Unschuld als Ergebnis des Prozesses, sondern eben auch darüber, wer wo und wie zu diesem Zweck erscheinen und durch seine Rede daran teilhaben kann. Während im Prozess einerseits alle Scheinwerfer auf die Hauptangeklagte gerichtet waren, um deren individuelle Schuld es in dem Verfahren primär ging - eine Hauptangeklagte, die sich dem Auftreten aber gerade verweigerte -, hat das Verfahren andererseits die Opfer und Hinterbliebenen an den Rand gedrängt, von dem her diese aber nun die gesellschaftlich entscheidenden Fragen aufwerfen. Diese doppelte Asymmetrie des Erscheinens im Prozess prägt bis heute das, was wir den NSU-Komplex nennen.
10.03.2022
16.02.2022
Es kommt wieder vermehrt zu Tragödien durch das Kentern von Flüchtlingsbooten. Mindestens 1.500 Menschen starben so 2021 allein im Mittelmeer. Angesichts dieser bestürzenden Realität sprach der Papst in seiner Ansprache, wie schon fünf Jahre zuvor, von einem "Schiffbruch der Zivilisation". Das Mittelmeer als Wiege verschiedener Zivilisationen dürfe sich nicht in einen "Spiegel des Todes", das "Mare Nostrum" dürfe sich nicht in ein "trostloses Mare Mortuum" verwandeln. Die Verwendung von Seefahrtmetaphern hat in der Geschichte des europäischen Denkens Tradition und mag daher nicht besonders originell erscheinen. Im Zusammenhang mit den im Mittelmeer und im Ärmelkanal ertrinkenden Menschen entfaltet sie dennoch große Wirkung. Dem physischen Untergang der Flüchtlingsboote durch unterlassene Hilfeleistung wird der moralisch-zivilisatorische Untergang Europas, ja, der ganzen Menschheit an die Seite gestellt - denn wie der Papst betont, ist Migration nicht nur ein regionales, sondern ein globales Thema. Aufgrund ihrer Prägnanz wurde deshalb wohl auch genau diese Metapher aus der Rede des Papstes weltweit in die Titel der Zeitungsberichte gehievt. Aber was soll durch die Verwendung der Schiffbruchmetapher ausgedrückt werden? Welche Funktion erfüllt sie? Und was ist überhaupt mit Zivilisation gemeint?
07.02.2022
Die Literatur blickt dem Tod ins Auge, indem sie die Lügen derjenigen (Figuren) entlarvt, die es sich außerhalb der Kunst in einer verlogenen Realität eingerichtet haben. Verlogen ist diese Realität, weil sie die Augen vor dem Tod verschließt, indem sie Erfindungskraft und künstlerischen Ausdruck - als Weg, der tödlichen Realität entgegenzutreten - zur Krankheit stilisiert. Zugleich sind beide Texte sanft und solidarisch mit ihren zentralen Figuren, da sie nicht abschließend urteilen. Das ist konsequenterweise literarisch auch gar nicht anders möglich, denn vor dem Tod sind alle gleich. Die Romane selbst dürfen für diesen Effekt gerade nicht Realität sein. "[D]ie Realität ist nur das Ausgangsmaterial ['la réalité n’est qu’un matériau de départ']" (V, 617; A, 733), heißt es im Houellebecqs Roman nachgestellten Dank. Um bei der Bewältigung der Schrecken des Sterbens zu helfen, müssen Romane wie auch die intradiegetischen literarisch erwähnten Texte "erfunden ['inventées']" und "anders ['autres']" sein (V, 559; A, 667).
26.01.2022
Als 2011 der 50. Jahrestag von Juri Gagarins Weltraumflug vom 12. April 1961 gefeiert wurde, fiel der "hohe Grad der Ratlosigkeit" auf, der bei den Feierlichkeiten rund um den Globus vorherrschte. Zwar gab es eine Vielzahl von Veranstaltungen, Ausstellungen und anderen medialen Events, doch sei das Gedenken, bei dem "unterschiedliche Sinngebungen und Politisierungen" sich kreuzten, insgesamt eher ungeordnet und gedankenlos verlaufen. Seither ist einiges passiert, vor allem bei den alten Konkurrenten des Wettlaufs im All und der aufstrebenden Industriemacht China. Die Volksrepublik hat erfolgreich ihr eigenes Weltraumprogramm mit bemannten und unbemannten Flügen sowie einer eigenen Raumstation aufgelegt, und in den USA entfalten die NASA mit ihren Marsmobilen und Privatunternehmen wie SpaceX des Elektroautobauers Elon Musk wieder stärkere Aktivitäten. Selbst Russland hat sich nach dem "verkorksten Gagarin-Jahr"] 2011 wieder ambitioniertere Ziele gesetzt. Juri Gagarin als Kulturheros und Erinnerungsfigur kommt dabei eine zentrale, symbolträchtige Rolle zu, wie ein Blick auf das Gedenken an Gagarins Pionierleistung zum 60. Jubiläum im vergangenen Jahr zeigt.
10.01.2022
Am 17. Januar 2022 jährt sich der Todestag des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zum vierzigsten Mal. Mit seinen sechs Zyklen umfassenden "Erzählungen aus Kolyma" setzte er den Tausenden Toten in den Zwangsarbeitslagern des GULag ein bleibendes literarisches Denkmal. Der Jahrestag bietet nicht nur Anlass, sich mit Schalamows Ringen um eine literarische Aufarbeitung des staatlich organisierten Massenterrors gegen die eigene Bevölkerung auseinandersetzen. Ein Archivfund rückt auch seine Sorge um die Rezeption seiner Texte ins Blickfeld. Da in der Sowjetunion die Erinnerung an Terror und Gewalt tabuisiert wurde, kursierten diese zu Lebzeiten nur in Abschriften des Samisdat ('Selbst-Verlag') und blieben für das breite sowjetische Lesepublikum unzugänglich. Die ersehnte Anerkennung blieb ihm verwehrt. Mittlerweile werden seine Werke in Russland gedruckt und aus Anlass des Todestages würdigen Konferenzen seine literarische und menschliche Lebensleistung. Doch Schalamows Imperativ des Erinnerns, der Wahrung des Gedächtnisses an die stalinistischen Verbrechen trifft heute zugleich auf das Bestreben der russischen Machthaber, dieses Gedächtnis erneut mit repressiven Mitteln auszulöschen.
03.01.2022
Als das ZfL 1996 unter dem Namen Zentrum für Literaturforschung seine Arbeit aufnahm, gehörte der jüngst verstorbene Rainer Rosenberg zu den ersten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Bis zu seiner Pensionierung 2001 leitete er das Projekt "Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945 - Veränderungen des Literaturbegriffs", an dem auch Petra Boden mitarbeitete. In ihrem Nachruf erinnert sie an einen in der DDR sozialisierten Germanisten, der besonders mit seinen Arbeiten zur Literatur des Vormärz und zur Geschichte der Germanistik bekannt geworden ist.
17.12.2021
First as a student of comparative literature with a focus on German and then as a professor of German Studies, I’ve been traveling back and forth to Germany for three decades, almost exactly the age of the reunified German state. I have stayed for weeks, for months, or for more than a year at a time. I have lived in Leipzig, in Cologne, and in Munich, but I have spent by far the most time in Berlin, a place that I have come to consider a second home. Throughout that time, Germany has changed enormously, both demographically and attitudinally. In relation to diversity in general and in its relationship to Jews.
08.12.2021
17.11.2021
"Calderón als religiöser Dichter" ist einer von Krauss' interessantesten Aufsätzen der frühen Jahre, von denen "einige zur Zeit ihres Erscheinens wissenschaftlich bahnbrechend waren", wie Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Porträt von Werner Krauss in "Das Leben und Sterben der großen Romanisten" konstatiert. [...] Erwartbar wäre gewesen, in Calderón das Ende des mittelalterlich geprägten Kosmos zu sehen, des imperialen 'Goldenen Zeitalters' Spaniens (ca. 1550 bis 1680), in dem es im barocken Schauspiel zu Exzessen der illusionistischen Überwältigung und Massenspektakeln des Glaubens kam. Doch für Krauss ist Calderón vielmehr ein Weg, der direkt in die Dialektik der Aufklärung führt. Das Rettbare, das auf die Praxis des konkreten Handelns Beziehbare muss bei Calderón das Widerständige sein, das auch Carlo Barck an Krauss' Studie faszinierte. [...] Zwei Gedanken lassen sich aus seinem Artikel filtern, die sich an aktuell stark diskutierte Probleme anschließen lassen. Zum einen geht es um Materialität, zum anderen um humanistische Anliegen, die sich in den Kulturtechniken einer Religionskultur wie der des spanischen Katholizismus des 17. Jahrhunderts auffinden und aktualisieren lassen, etwa im Bilderhandeln oder im Umgang mit Schuldempfinden. Es spricht für Krauss' weitreichendes Verständnis religiöser Phänomene, dass er an ihnen Dinge wie Präsenz, Immersion und Liminalität auf den Punkt bringen konnte.
08.11.2021
'Haben Sie heute schon über das Wetter geredet? Gestern oder vorgestern vielleicht? Und was wollten Sie damit sagen?' - Würden wir so auf der Straße angesprochen, wären wir vermutlich einigermaßen irritiert. Nicht nur wüssten wir das nicht so genau anzugeben, sondern wären auch von der Frage überrumpelt. Ein unbehagliches Schweigen weckte den Wunsch, eine Bemerkung über das Wetter zu machen, aber das ginge in dem Fall ja nicht. Und dann ist da noch der Trivialitätsverdacht: der Verdacht, im fraglichen Moment nichts anderes zu sagen gehabt zu haben; der Verdacht, eine Person zu sein, die redet, obwohl sie nichts zu sagen hat. Ernstlich fürchten muss man solche Fragen natürlich nicht. Aber interessant sind sie doch. Was und wie wir kommunizieren, wenn wir über das Wetter sprechen, scheint ebenso offen, wie die Frage, was dieser Kommunikationsakt über uns aussagt. Um dem Sprachspiel namens Wettergespräch nachzugehen, lohnt der Blick in den Fundus der Literatur- und Geistesgeschichte. Dort sind unterschiedliche Antwortmöglichkeiten eingelagert, oft in Gestalt von Aperçus, die es zugleich charakterisieren und konterkarieren.
12.10.2021
In den Literaturwissenschaften ist der Begriff des Digitalen bislang vor allem dort in Erscheinung getreten, wo jüngere literarische Phänomene der letzten ca. 30 Jahre verhandelt werden - Phänomene also, wie sie im Zuge der elektronischen Textverarbeitung am PC und der Nutzung des Internets entstanden sind. Zu denken ist hier etwa an die Diskussionen um neue narrative Strukturen im Kontext von 'hypertext fiction', um die multimediale Zusammenführung von Bild, Ton und Schrift im Rahmen von sogenannter 'net poetry' oder um die Transformation von Leser-Text-Beziehungen durch die (interaktiven) Rezeptionsbedingungen des 'reading on screen'. Auch wo Literatur- und Medienhistoriker eine archäologische Rekonstruktion der Vorläufer bzw. historischen Wurzeln von (heute so bezeichneter) "digitaler Literatur" unternommen haben, galt das Interesse vornehmlich früheren Formen von "Computer-Dichtkunst" oder "Maschinenpoesie", die sich ab den späten 1950er Jahren zu entwickeln begannen.
02.09.2021
Als Stanisław Lem am 27. März 2006 im Alter von 85 Jahren in Krakau starb, schien sein Stern bereits im Sinken zu sein. Seine Bücher hatten Millionenauflagen erzielt und er war neben Ryszard Kapuściński der weltweit erfolgreichste polnische Autor, mit Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen. Aber angesichts des Zusammenbruchs des Realsozialismus, einer krisenhaften neuen Weltordnung sowie der sich abzeichnenden Klimakatastrophe wirkten seine Spekulationen über die fantastischen Irrungen der Menschheit seltsam anachronistisch. [..] Die unzähligen Veranstaltungen, Publikationen und Projekte zu seinem 100. Geburtstag am 12. September dieses Jahres wollen seinen Stern noch einmal zum Strahlen bringen. [...] Abseits aller tagespolitischen Konflikte und globalen Krisen bietet das Jubiläum Anlass, noch einmal grundsätzlich über das Verhältnis von Mensch und Maschine, Geist und Materie, Wissenschaft und Kultur, Technologie und Gesellschaft, Zufall und Fortschritt nachzudenken.
30.06.2021
Acht Pistolenkugeln werden aus nächster Nähe abgefeuert, aber keine trifft ihr Ziel. Denn der Superheld Quicksilver kann sich im Film "X-Men: Days Of Future Past" (2014) mit einer Geschwindigkeit bewegen, die es ihm erlaubt, die Flugbahn der Kugeln mit kleinen kinetischen Impulsen zu manipulieren. Antizipiert wurde diese Figur der legendären Marvel-Autoren Stan Lee und Jack Kirby bereits im Jahr 1860, als der Naturforscher Karl Ernst von Baer ein Gedankenexperiment anstellte. Baer spekulierte darüber, wie sich die Welt für einen Menschen darstellt, der zwar ebenso viele Sinneseindrücke pro Pulsschlag hat wie ein normaler Mensch, dessen Puls aber 1.000 Mal schneller schlägt. Ein solcher Mensch würde einer vorbeifliegenden Kugel sehr leicht folgen können, schreibt Baer, hätte allerdings aufgrund seines anderen Metabolismus auch eine deutlich geringere Lebensdauer von nur einem Monat.
21.05.2021
Sensibel auf Abstand
(2021)
Abstand kann schwer zu ertragen sein, vor allem dann, wenn er unfreiwillig eingehalten werden muss. Sollten Abstandsregeln und Masken in näherer Zukunft fallen, gibt es trotzdem gute Gründe, immer wieder auf Distanz zu seinen Nächsten zu gehen. Das lässt sich zum Beispiel nachlesen bei Nietzsche. Unter dem Titel "Von der Nächstenliebe" fällt Zarathustra ein wenig schmeichelhaftes Urteil über jene Motive, die die Menschen zueinander treiben.
07.05.2021
Rezension zu Peter Salmon, "An Event, Perhaps. A Biography of Jacques Derrida", London / New York: Verso, 2020.
20.04.2021
Archivieren in die Zukunft
(2021)
Eva Geulens Text dokumentiert ihren Beitrag zu der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am 24. März 2021 virtuell veranstalteten Tagung "#LiteraturarchivDerZukunft". Er wurde ursprünglich als Replik auf die dort diskutierte These 3 entworfen: "Literaturarchive schaffen den literarischen und intellektuellen Kanon mit: Das Archivieren in die Zukunft setzt die stetige Diskussion der Entwicklungen in Literatur und den öffentlich wirksamen Bereichen von Wissenschaft und ein Diskutieren der Kriterien dessen voraus, was es zu archivieren gilt - und was nicht."
26.03.2021
Der Stil erlebt derzeit eine neue Konjunktur bis in die Essayistik und das Feuilleton hinein. Dies zeigt allein das umfangreiche und viel beachtete Buch Michael Maars, das sich über weite Strecken in Stiluntersuchungen deutschsprachiger Autor*innen ergeht (Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur, Hamburg: Rowohlt, 2020). Während Maar den Bonvivant gibt, der anhand stilistischer Eigenschaften opulente und kennerische Werturteile über die moderne Literatur fällt, hat sich in der Literaturwissenschaft mit der sogenannten Stilometrie demgegenüber eine prosperierende Forschungsrichtung etabliert, die als korpusbasiertes quantitatives Verfahren zu den asketischsten geisteswissenschaftlichen Spielarten überhaupt zählen dürfte. Die stilistischen Usancen, die Maar und die Stilometrie ihrerseits an den Tag legen, wenn sie über Stil schreiben, verraten neben ungenannten Animositäten dabei auch manch geheime Komplizenschaft.