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Goethes Werther im gesellschaftlichen Kontext : Rezeptionsdokumente als Interpretationshilfen
(2009)
In seinem Werther-Aufsatz von 1936 hat Lukács ein bis heute häufig wiederholtes Interpretationsmuster skizziert: Werther als »Repräsentant einer >progressiven Bourgeoisie< in der >revolutionären Periode< ihrer frühen ideologischen und ökonomischen Entwicklung«. Das Werk wird von der DDR-Germanistik einem umfassenden Geschichtsprozeß eingeordnet, der Aufklärung, Sturm und Drang und Klassik umfaßt, und bei dem es »um den Aufstieg bürgerlichen Selbstbewußtseins, das Wachstum gesellschaftlicher Einsichten und die Eroberung immer neuer poetischer Provinzen« geht. Reuter betrachtet den Roman in diesem Sinn als »Brennspiegel des gesamten sozialen und politischen Zustandes in Deutschland« des späten 18.Jahrhunderts, wobei Werther im Streben nach allseitiger Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ein »fortgeschrittenes bürgerliches Selbstbewußtsein« vertritt.
Die neuen Leiden des jungen W. wurden »bewußt auf Auslegbarkeit geschrieben« und irritierten die Kritiker durch »die ungeheure Breite der Assoziationsmöglichkeiten«. Durch die vier »strukturtragenden Schichten« oder Informationsebenen des Textes kommt es zu interferierenden Perspektiven: 1. die voranstehenden Dokumente (Zeitungsnotiz, drei Todesanzeigen), 2. »die szenisch-dialogisch objektivierte Erinnerungsperspektive der Eltern und Arbeitskollegen«, 3. die Kommentare Edgars »von jenseits des Jordans«, 4. »die Brechung und Verfremdung der gesellschaftlichen Beziehungen des Helden im Spiegel des Werther-Zitats und der Werther-Fabel«. Plenzdorf führt »seinen Edgar Wibeau gegen Edgar Wibeau« vor, indem er ihn aus dem Jenseits kritisch und ironisch zu sich Stellung nehmen läßt. Der Leser / Zuschauer wird vom Autor geschickt in »eine Mittelstellung zwischen Identifikation (Verständnis) und Distanz (Kritik)« manövriert, sein »Beurteilungs- und Wertungspotential« wird aktiviert.
Vom Recht des naiven und von der Notwendigkeit des historischen Verstehens literarischer Texte
(1982)
Die Szene ist originell, aber vielleicht nicht ganz unwahrscheinlich: Ein siebzehnjähriger Lehrling, der im finsteren Klo einer Gartenlaube nach Papier sucht, findet dort ein Reclamheft, benutzt einige Deck- und Nachblätter für den ortsüblichen Zweck und beginnt danach aus Langerweile das Buch zu lesen, das nun nichts weiter enthält als einen, als den Text. Es sind die Briefe eines gewissen Werther, die ihm so in die Hände kommen, aber der Name sagt ihm nichts, so daß er weder besondere Erwartungen noch Vorbehalte gegen die Lektüre hat, sondern sich wirklich unvoreingenommen und in seiner Lage auch frei von Ansprüchen auf sie einlassen kann. Für eine Rezeptionsforschung, die herausfinden möchte, was im Akt des Lesens und Verstehens literarischer Texte ,eigentlich' geschieht, ist die Dokumentation eines solchen Falles fraglos ein Beispiel, das dem sonst üblichen testmäßigen Abfragen von Leserreaktionen an Zuverlässigkeit überlegen ist.
Dass dem abschließenden Lessing-Triptychon in Heiner Müllers "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" eine eminent biographische bzw. autobiographische Dimension eigen ist, wurde von Müller betont. Die Forschung hat das gerne wiederholt. Wesentlich für diese Deutung sind die biographischen Parallelen zwischen Lessing und Müller.
1932 befindet sich die Weimarer Republik an ihrem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tiefpunkt. Was ließe sich angesichts des angeschlagenen Selbstbewußtsein der Nation besser instrumentalisieren als der hundertste Todestag des Olympiers Goethe, als die Epiphanie des Unsterblichen, als ein "Ehrenjahr des deutschen Menschen und der deutschen Kultur". Nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Goethes Werk und den gigantischen staatlichen Feierlichkeiten, mehr noch in den populären Medien, in allen Radiosendern, in sämtlichen Zeitungen, in allen politischen Lagern, von Nationalsozialisten und Katholiken, von Juden und Kommunisten wird Goethe auf fatale Weise ideologisch vereinnahmt.
Warum Wezel?
(2004)
Ziel der folgenden Ausführungen ist es, Hölderlins Verarbeitung des Fichteschen "Wechsel"-Begriffs sowohl in seiner Tragödientheorie wie auch in der Tragödie selbst kenntlich zu machen. Ausgehend von Fichtes philosophischer Konzeption ist zunächst zu zeigen, in welcher Weise Hölderlin die ‚Wechselwirkung’ im Grund zum Empedokles poetologisch funktionalisiert. Vor diesem Hintergrund soll danach die dichterische Umsetzung der "Wechselwirkung" im Tod des Empedokles verfolgt werden.
Die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der eher zufälligen Entstehung der Spinoza-Studie und insbesondere die Interpretation des zweiten Teils dieser Schrift als ironische, jedoch entschiedene Distanzierung von den im ersten Teil formulierten Prinzipien vermag nun abschließend auch eine wenigstens plausible Antwort auf die nicht nebensächliche Frage zu geben, warum Goethe Zeit seines Lebens nicht nur nie an eine Veröffentlichung dieses angeblich so wichtigen Zeugnisses seiner Naturauffassung gedacht, sondern diesen Text auch an keiner Stelle je erwähnt hat.
Goethe und die Musik seiner Mit- und Nachwelt: das ist ein weites, ja eines der weitesten Felder seiner Wirkungsgeschichte. Wohl kein Dichter in der Geschichte der Weltliteratur hat einen vergleichbaren Einfluß auf die Musik gewonnen hat wie er. Fast keiner der großen Komponisten - zumindest in Deutschland - von der Schwelle des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist ohne ihn ausgekommen, ja in vielen Fällen - es seien nur die Namen Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Mahler, Strauss, Busoni oder Webern genannt - stehen die Lektüre und musikalische Auseinandersetzung mit Goethe so sehr im Zentrum ihres ästhetischen Kosmos, daß man beinahe behaupten kann: ohne ihn hätte ihr Werk eine andere geistige, ja vielfach eine andere künstlerische Gestalt. Vor allem eine bestimmte musikalische Gattung, die außerhalb Deutschlands heute mehr denn je als Inbegriff deutscher Kultur gilt, hätte sich ohne ihn niemals in dieser Form und zu dieser Höhe entwikelt: das Kunstlied, "le lied", wie die Franzosen sagen, ein Wort, das niemals im Dictionnaire stünde, hätte es Goethe nicht gegeben, dessen Gedichte seit fast zweihundert Jahren nach den Worten von Friedrich Blume "die bei weitem am häufigsten komponierten Texte der Weltliteratur" sind.
Obwohl Goethes Bedeutung als größter deutscher Dichter - bei aller Polemik gegen ihn zu seiner und späterer Zeit - kaum je umstritten war, wurde ihm doch von den Deutschen nach der Überzeugung Nietzsches kaum je wirklich normative Kraft zugeschrieben. "Goethe that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen", bemerkt er in einem anderen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches: "Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, - nicht haben können." Er stehe "zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens noch des Neuseins noch des Veraltens", heißt es wieder im Aphorismus "Giebt es >deutsche Classiker<?". "Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst."
Im Sinne der "lectio difficilior" soll im folgenden die Spur der metaphora audax verfolgt und die These vertreten werden, die Parallelführung zwischen göttlichem und poetischem Schöpfungsakt gelte für die ganze Kosmogonie; sie impliziere damit auch zwei grundsätzlich verschiedene poetische Schaffenstypologien, und Goethe kontrastiere in Wiederfinden über die beiden Schöpfungsphasen der Weltwerdung den einen Typus des dichterischen Schaffensprozesses mitsamt dem ihm innewohnenden Leidensdruck mit seinem Gegentypus, der freilich deutlichen Wunschbildcharakter trage.
Goethe (1749 - 1832)
(2003)
Goethe: den "wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden" hat Novalis ihn einst in der Romantiker-Zeitschrift "Athenäum" genannt. Es dürfte keine Nation geben, in der ein einziger Name zum Synonym für ihre Kultur geworden ist - die wichtigste kulturpolitische Institution Deutschlands trägt bezeichnenderweise seit dem Ende der Weimarer Republik den Namen Goethes -, keine Nation, die ein halbes Jahrhundert ihrer Literaturgeschichte nach einem einzigen Autor: als "Goethezeit" bezeichnet hat. Den Deutschen gilt Goethe mit fast noch größerer Selbstverständlichkeit als Homer den Griechen, Dante den Italienern, Cervantes den Spaniern, Shakespeare (mit langer Verzögerung) den Engländern oder Puschkin den Russen als ihr größter Dichter.
Für Lessing [...] war die Epoche der Nationalliteratur [...] an der Zeit gewesen; und er hat in Hamburg nicht wenig für den "süße[n] Traum" gewirkt, "den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind". Gleichwohl operierte er als Autor wie als Kritiker schon früh und je später desto mehr im Horizont der Weltliteratur. Um diesen literarischen Ausgriff in die "große Welt" besser zu verstehen, muß man sich zunächst seine ursprüngliche "kleine Welt" vergegenwärtigen.
Yin und Yang im Klassenzimmer? : China-Moden der 80er Jahre – mit einem kurzen Rückblick auf Brecht
(1985)
In zwei Beiträgen der Zeitschrift Diskussion Deutsch (Heft 84/1985) wurde ein Denkmodell ins Licht der Diskussion gestellt, das bis dahin eher in kleinen Zirkeln sich verborgen hatte: die Sucht, Rettung beim >Uralten< zu finden. Es war nicht, wie bei gestandenen Konservativen, das >Klassische<, es waren nicht >die Alten<, nein, das UR-Alte musste es sein, nämlich die Geheimnisse des Fernen Ostens, das Tao und Yin und Yang. Nun, zwanzig Jahre später, sind Tai Chi, Qi Gong, Bachblüten, Gaia, Heilenergien, Rebirthing, Reiki, Karmaarbeit etc. pp. zum esoterischen Alltag bzw. ist Esoterik alltäglich geworden. Das war ein Anlass, diese Miszelle wieder hervorzuholen, die damals – offensichtlich vergeblich – versuchte, jenes Denkmodell ins Licht der Kritik und damit in seiner Unreflektiertheit bloß zu stellen: westliches Denken spiegelt hier das Licht des Ostens gleichsam blind, nämlich ohne es zu reflektieren.