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Paradoxes Gedächtnistheater: Dreitausend Jahre Kulturgeschichte – vom trojanischen Krieg bis zur industriellen Revolution – läßt Goethe in seinem Faust II Revue passieren, doch der Protagonist durchläuft dieses Panorama der Denkwürdigkeiten nicht als Erinnernder, sondern als Vergessender. Fausts "Cursum" durch die "große Welt" (V. 2052ff), der ihn aus der kleinen Welt des ersten Teils herausführt, beginnt mit einem Lethebad, und endet in einem Läuterungsprozeß, der "Alles Vergängliche", mithin die gesamte Memorialkultur des Abendlands, zum bloßen "Gleichnis" (V. 12104f) verflüchtigt. Auch, ja gerade dort, wo Faust sich im kulturellen Gedächtnis zu verewigen sucht – etwa in einer theatralischen Reanimation des antiken Schönheitsideals oder einem grandiosen Landgewinnungsprojekt – erweist er sich um so mehr als selbstvergessen: Kaum hat er die Bühnenexistenz Helenas herbeigezaubert, verpufft sie ihm in einer Explosion, die ihn bewußtlos zurückläßt; und der vermeintliche Entwässerungsgraben, an dem der blinde Kolonisator seine Arbeiter zu schaufeln wähnt, ist in Wirklichkeit nur sein eigenes Grab. Alles Bemühen um Fixierung des eigenen Tuns im Monument befördert es nur um so gründlicher in den Abgrund der Vergessenheit. ...
"Die Kritik der Politik", schreibt Johannes Agnoli, "stellt [...] die Frage nach dem herrschaftssichernden Charakter aller Reformen und vergißt also die Frage nach dem cui bono nicht und nach der Zweckrationalität irrationalen Verhaltens der politischen Macht. Im Mittelpunkt steht nicht die Klage und das Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens [...]; sondern die Anklage gegen das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei; und als Schlußerkenntnis [...], daß Herrschen, daß das autokratische oder oligarchische oder parlamentarische Bestimmen über Gesellschaft allemal zu negieren sei - möge "die Form des Staates sein wie sie wolle" (Hölderlin)." Doch dies, so fügt Agnoli hinzu, "wäre immer noch Gesinnung, kein Bewußtsein." Es genüge nicht festzustellen, "daß sich die Form Staat inzwischen als falsches Projekt erwiesen, als gescheiterter Versuch in die Geschichte eingegangen ist [...] Alle Kritik - will sie mehr sein als Gesinnung - hat ein Kriterium auszuweisen, an dessen Kategorie die Übersetzung des richtigen Denkens in die Anleitung zum Handeln möglich wird." Es gehe "weder um die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit noch um die Lobpreisung des Gemeinwohls als Ziels allen politischen Handelns. Will man [...] andere Verhältnisse schaffen und nicht bloß verbesserte Herrschaft, so wird die Kategorie von vornherein selbst keine formale (bonum commune) noch eine normativ-moralische (gute Verfassung gegen schlechte Politik) sein können, sondern eine materielle." Aus der Frühzeit der Form Staat stammen die ersten großen Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten der Politik und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens der Demokratie. Im Unterschied jedoch zum späteren demokratischen Gejammer verschleiern sie die Frage nach dem cui bono und nach der Zweckrationalität des Verhaltens der politischen Macht noch kaum. So wenig sie auch das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei, in Frage stellen und sosehr sie im Grunde nur die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit einklagen, sie beschränken sich keineswegs auf formale oder normativ-moralische Kategorien - und was damit unmittelbar zusammenhängt: sie gewähren ästhetischen Genuß. In der Frühzeit des Staats konnte dessen Kritik eben noch tragische oder komische Form annehmen.