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Allwissendes Erzählen
(2004)
›Allwissendes Erzählen‹ und ›allwissender Erzähler‹ gehören zu den literaturwissenschaftlichen Begriffen, die viel gebraucht, aber selten definiert werden. Wer in den einschlägigen erzähltheoretischen Hand- und Einführungsbüchern nach diesen Stichworten sucht, tut es häufig vergebens. [...] Einerseits wird der Begriff des allwissenden Erzählens im literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch offenbar in einem erkenntnistheoretischen Sinne verwendet – es geht um ein durch keine empirischen Bedingungen begrenztes Wissen. Wenn allwissendes Erzählen aber in systematischer Verknüpfung (oder gar synonym) mit auktorialem Erzählen gebraucht wird, dann steht in der Regel ein anderer Aspekt im Vordergrund […]. Der Ausdruck ›auktorialer Erzähler‹ bezeichnet seit Stanzel einen persönlichen heterodiegetischen Erzähler, d.h. 'einen Erzähler, der zwar nicht der erzählten Welt angehört, aber eine individuelle Einschätzung und Bewertung des Erzählten zum Ausdruck bringt und dadurch ein bestimmtes ideologisches oder moralisches Profil gewinnt.' […] Trotz [einer] zeitweisen historischen Koppelung von allwissendem und auktorialem Erzählen handelt es sich jedoch um zwei systematisch voneinander unabhängige Aspekte, die in der Literaturgeschichte keineswegs immer gemeinsam auftreten. Im folgenden gehe ich nicht auf die moralischen Aspekte auktorialer Erzählerfiguren ein, sondern beschränke mich auf die erkenntnistheoretischen Besonderheiten allwissenden Erzählens.
Der Titel meines Beitrags mag die Befürchtung erzeugen, es gehe hier wieder einmal darum, ein essenzialistisches Verständnis der Nation als Fantom, Fiktion, Konstruktion oder ›imagined community‹ zu entlarven. […] In der Tat möchte ich den Fall einer geradezu emphatisch imaginierten Nation und Nationalliteratur erörtern. Nun gibt es zweifellos unabweisbare erkenntnistheoretische, kognitionspsychologische und neurobiologische Gründe dafür, unsere Erfahrung und Darstellung von Wirklichkeit insgesamt als Konstruktion zu verstehen. Literaturwissenschaftlern liegt es besonders nahe, Dinge wie Nationen und Nationalliteraturen als ›Fantome‹ zu betrachten – schließlich beschäftigen sie sich vor allem mit sprachlichen Imaginationen. Gerade die Universalität des Konstruktionscharakters lässt es aber ratsam erscheinen, Binnendifferenzierungen vorzunehmen, damit Begriffe wie ›Nation‹ und ›Nationalliteratur‹ informativ bleiben. […]Befriedigende Antworten […] werden durch einen pauschal verwendeten Konstruktivismus eher erschwert. Wenn es mir im Folgenden dennoch nicht um Realhistorisches, sondern um eine von Rudolf Borchardt imaginierte Tradition von Nation und Nationalliteratur geht, so geschieht das in der Annahme, dass für diese ›Nation‹ der Begriff des Imaginären in besonderem Maße gerechtfertigt ist. Selten ist ein Konzept von deutscher Nation und deutscher Nationalliteratur in so selbstbewusst idiosynkratischer Weise gegen die realen Gegebenheiten erdacht worden.
[E]in genauerer Blick auf 'Schindler's List' [kann] den skizzierten Tenor der deutschen Rezeption, es handele sich um einen ,,zutiefst unideologischen Film" […] von quasi-dokumentarischer Authentizität, nicht bestätigen […]. Weder ähnelt der Film in seiner Gestaltung einem dokumentarischen Darstellungsstil, noch ist er historisch getreu. Vielmehr versucht Spielberg das Dilemma einer künstlerischen Gestaltung des Holocaust zu lösen, indem er das historische Material […] zu schematisierten Formen von Erfahrung [bündelt], deren stereotype Prägnanz und kalkulierte Wirkungskraft zu einer gewissen Enthistorisierung des dargestellten Geschehens führen. [Dies] zielt auf eine kathartische Teilnahme am Schicksal der Protagonisten, auf identifikatorischen Jammer und anteilnehmenden Schauder […], eine besondere, ästhetische Form der Lust. […] Einige Kritiker des Films haben ihn deswegen als "seelische Schnell-Reinigung, als Instant-Absolution, als Gefühls-Quickie" kritisiert […], andere sahen darin gerade den "Geniestreich" Spielbergs, weil so "das von Schindler Vorgelebte und im Film Vorgeführte zum Vorbild wird". […]. Man kann diesen Konflikt […] als Ausdruck einer allgemeineren kulturellen Situation beschreiben: Der weltweite Erfolg der Authentizitätsfiktion von 'Schindler's List' wäre dann Folge einer distanzierteren kulturellen Haltung gegenüber dem Holocaust, die nicht den Authentizitätskriterien solcher Zuschauer genügt, die persönliche Erfahrungen mit dem Holocaust verbinden.