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Mehrere Werke Christian Boltanskis zitieren das Arrangement der Photowand mit den Bildern von Familienangehörigen. Ein Beispiel dafür ist die Installation "Album de photos de la famille D. entre 1939 et 1964" (1971): Rund 180 Schwarzweiß-Familienaufnahmen aus dem Besitz von Boltanskis Freund Marcel Durand wurden abphotographiert, geordnet und ohne Kommentar aufgehängt. Doch wer diese Installation betrachtet, kennt – anders als die korsischen Trauernden in der Gesellschaft ihrer photographierten Ahnen-Gespenster – die dargestellten Personen nicht. Sie haben für uns keine Namen, keinen Status, keine Geschichten. Die Installation steht metaphorisch für ein beliebiges Familien-Gedächtnis, hat eben darum aber keine memoriale Kraft. In einem Selbstkommentar bekräftigt der Künstler, dass es ihm nicht darum ging, einer bestimmten Familie ein Denkmal zu errichten, die Gesichter bestimmter Personen aus der Vergangenheit in die Gegenwart ›blicken‹ zu lassen. Im Gegenteil stehe hier eine Familienphotosammlung für alle möglichen anderen, und Voraussetzung dafür sei die Unbestimmtheit der Abgebildeten: »Warum es gerade dieses Album sein musste? Durand ist ein echter Franzose, trägt den geläufigsten Namen Frankreichs und hat eine total normale Kindheit erlebt – anscheinend. Natürlich hätte ich auch mein eigenes Fotoalbum nehmen können. Aber das wäre viel zu speziell gewesen. Deshalb habe ich ein völlig austauschbares Album ausgewählt.«
„[...] Goethe [liebte] die Herzogin Anna Amalia [...] und [blieb] ihr ein Leben lang treu“, so lautet die zentrale Hypothese des in Weimar lebenden Juristen und Schriftstellers Ettore Ghibellino, mit der sich angeblich sämtliche „Widersprüche“ in Goethes Leben und Werk erklären ließen. In seinem Buch „J. W. Goethe und Anna Amalia / Eine verbotene Liebe“, zuerst 2003 erschienen, unternimmt der Autor nichts Geringeres als den Versuch, die Goethe-Forschung auf eine ‚neue Grundlage‘ zu stellen. [...] Ghibellionos Ansatz ist historisch so fragwürdig, das zugrunde liegende Kunst- und Literaturverständnis derart einseitig biographistisch, der Umgang mit den Quellen so unreflektiert, ja manipulativ, die Kenntnisnahme und Einbeziehung der aktuellen Forschungsliteratur so selektiv, dass sich eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung eigentlich verbietet. In der Fachwelt hat Ghibellinos Veröffentlichung daher weder Interesse noch Unterstützung gefunden. Allerdings vermarktet der Autor mit seinem Buch geschickt das große allgemeine Interesse an der Person Goethes, dabei auch voyeuristische Bedürfnisse des Publikums bedienend. Inzwischen sind bereits zwei Nachauflagen (2004 und 2007) und eine englische Übersetzung (2007) erschienen. Aus diesem Grund muss diese neue ‚Weimar Legende‘ in aller Deutlichkeit als das benannt werden, was sie tatsächlich ist, nämlich eine Erfindung des Autors.
Im Internet findet sich unter dem Titel Goethe als Muslim ein Aufsatz von Schaikh 'Abdalqadir Al-Murabit, der ursprünglich 1995 in der Islamischen Zeitung erschienen ist. Der Verfasser führt dort den Nachweis, »dass sich Goethe als aufgeschlossener und toleranter Mensch - nicht ›nur‹ fair und gerecht gegenüber dem Islam verhielt, sondern vielmehr zweifellos ein Muslim war, der sich [mit] aller Offenheit und Zivilcourage zum Islam bekannte und seine Eigenschaft als Muslim nie verleugnete«. Keine Sorge, bitte: diese These ist ganz sicher stark übertrieben und wir brauchen nichts davon zu glauben. Die einschlägigen Standardwerke - allen voran Katharina Mommsens große Untersuchung Goethe und die arabische Welt von 1988 - sind sich in dieser Hinsicht völlig einig und zeichnen ein wesentlich differenzierteres Bild.
Genaueste Lektüre der Zeichen, "mit denen die Welt zu uns spricht wie ein großes Buch", und vernünftige Schlussfolgerungen daraus − das ist die Methode, mit der William von Baskerville im frühen 14. Jahrhundert arbeitet. Der Franziskanerbruder stützt sich insofern - auch bei den Todesfällen, die später im Kloster geschehen und um deren Aufklärung er sich bemüht - auf die Methode der so genannten 'Abduktion'. Dieses Verfahren ist durch den amerikanischen Wissenschaftstheoretiker Charles S. Peirce (1839-1914), auf den der Begriff 'Abduktion' zurückgeht, als Vorgang definiert worden, "in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird". Die Besonderheit der Abduktion liegt dabei darin, dass sie das einzige Verfahren einer Schlussfolgerung darstellt, das eine tatsächliche Erweiterung des Wissens zur Folge hat - um den Preis allerdings, dass man sich auch irren kann. Alle anderen logischen Schlüsse decken demgegenüber immer nur auf, was in ihren Prämissen bereits enthalten ist.
Bei einem Künstler, über den man, von seinen Werken abgesehen, kaum etwas weiß, und dessen eigene Äußerungen oft eher kreatürlichen Rülpsern gleichen, ist man auf das Wenige angewiesen, das mit einiger Gültigkeit über ihn gesagt wird. Es stammt, wie könnte es anders sein, von Heiner Müller. Dennoch soll von Müllers Bemerkung, die Gotscheff, wie er selbst sagt, „für eineinhalb Tage berühmt gemacht hat", hier nicht die Rede sein. Denn alles, was Müller anläßlich von Gotscheffs „Philoktet“- Inszenierung (Sofia 1983) schreibt, stimmt, und doch ist es - das ist das Schicksal unendlich oft zitierter Bemerkungen – in Gefahr, zur Hohlformel zu gerinnen. Das ist nicht Müllers Schuld, sondern die derjenigen, die sie aus Alternativlosigkeit bis zum Abwinken wiederholen. Dabei ist die Schwierigkeit, zu Begrifflichkeiten vorzudringen, mehr als verständlich: Theaterabende zu beschreiben ist eine eigene Kunst. Zwanzig Jahre mit Gotscheff, über dreißig gesehene Inszenierungen, Mitarbeit an einigen, und nun die als Einladung verkleidete Drohung, darüber etwas schreiben zu sollen. Wo und wie anfangen? Ich will versuchen, Gotscheffs Arbeit inhaltlich und ästhetisch in einen größeren Zusammenhang zu stellen.