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"Wiederholte Spiegelungen" heißt die neue Ständige Ausstellung im Goethe-Nationalmuseum. Sie wurde durch die politische Wende Anfang der neunziger Jahre nötig und zum Weimarer Kulturstadtjahr 1999 fertig und eröffnet, ist damit nun seit sieben Jahren zu sehen. Der Titel geht - natürlich - auf Goethe selbst zurück, auf ein kurzes Dankesschreiben an einen Bonner Professor, der ihn im Jahre 1822 durch ein kleines Büchlein über Sesenheim an seine eigene Jugendzeit und Jugendliebe dort zurückerinnert hatte. ...
„[...] Goethe [liebte] die Herzogin Anna Amalia [...] und [blieb] ihr ein Leben lang treu“, so lautet die zentrale Hypothese des in Weimar lebenden Juristen und Schriftstellers Ettore Ghibellino, mit der sich angeblich sämtliche „Widersprüche“ in Goethes Leben und Werk erklären ließen. In seinem Buch „J. W. Goethe und Anna Amalia / Eine verbotene Liebe“, zuerst 2003 erschienen, unternimmt der Autor nichts Geringeres als den Versuch, die Goethe-Forschung auf eine ‚neue Grundlage‘ zu stellen. [...] Ghibellionos Ansatz ist historisch so fragwürdig, das zugrunde liegende Kunst- und Literaturverständnis derart einseitig biographistisch, der Umgang mit den Quellen so unreflektiert, ja manipulativ, die Kenntnisnahme und Einbeziehung der aktuellen Forschungsliteratur so selektiv, dass sich eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung eigentlich verbietet. In der Fachwelt hat Ghibellinos Veröffentlichung daher weder Interesse noch Unterstützung gefunden. Allerdings vermarktet der Autor mit seinem Buch geschickt das große allgemeine Interesse an der Person Goethes, dabei auch voyeuristische Bedürfnisse des Publikums bedienend. Inzwischen sind bereits zwei Nachauflagen (2004 und 2007) und eine englische Übersetzung (2007) erschienen. Aus diesem Grund muss diese neue ‚Weimar Legende‘ in aller Deutlichkeit als das benannt werden, was sie tatsächlich ist, nämlich eine Erfindung des Autors.
Es liegt nahe, in dieser ebenso kurz wie prägnant auftretenden literarischen Figur der "Wahlverwandtschaften" ein konkretes historisches Vorbild zu vermuten. Bereits im 1916 veröffentlichten Registerband der Weimarer Ausgabe wurde sie mit dem Engländer Charles Gore identifiziert, eine Annahme, die seitdem mehrfach wiederholt wurde, freilich ohne auf ihren Erkenntnisgehalt hin geprüft worden zu sein. Gore, ein kultivierter Privatier, Schiffskonstrukteur und begabter Amateurzeichner, lebte mit seinen beiden Töchtern Eliza und Emilie von 1791 bis zu seinem Tode 1807 in Weimar und pflegte engen Kontakt zu dessen Gesellschaft. Vorausgegangen war ein fast zwanzigjähriges Reise leben, das 1773 mit einem durch den angeschlagenen Gesundheitszustand der Gattin bedingten mehrmonatigen Aufenthalt in Lissabon begonnen und die Familie seitdem durch weite Teile des europäischen Kontinentes geführt hatte. Die Konvergenz beider Figuren ist in der Tat höchst bemerkenswert. Sie soll im Folgenden näher untersucht werden, wobei vor allem der ästhetische wie pädagogische Nutzen ihres Wirkens herauszuarbeiten sein wird. Ein Verfahren, das den literarischen Text und den historischen Sachverhalt gleichermaßen in den Blick nimmt – wohlgemerkt unter Voraussetzung der jeweiligen Eigengesetzlichkeiten –, erlaubt dabei zweierlei: zum einen Einsicht in die Werkstatt des Dichters, der, vom Eindruck einer zeitgenössischen Persönlichkeit ausgehend, diese literarisch verarbeitet. Zum anderen vermag eine quellengestützte Untersuchung jene faszinierende Wirkung zu rekonstruieren, von der in den "Wahlverwandtschaften" nur eher andeutungsweise die Rede ist, erlaubt mithin eine kommentierende Deutung des Textes. Wie zu zeigen sein wird, vermögen beide Perspektiven das Phänomen ›Gore‹ auf aufschlussreiche Weise zu konturieren.
Als Goethe im Oktober 1807 [...] an seinen Verleger Cotta schrieb, sah er sich genötigt, politische Schadensbegrenzung zu betreiben. Herabwürdigende Kolumnen aus der Feder seines Intimfeindes Karl August Böttiger in Cottas Augsburger "Allgemeiner Zeitung" waren in der für Weimar noch kritischen Situation nach dem gerade zu Ende gegangenen Krieg das letzte, dessen man bedurfte. Cotta möge, so bat Goethe dringend, "alles, was unsre politische Existenz betrifft und nicht von mir kommt", von seinen Blättern abweisen. Goethes Intervention zeigt nicht nur, daß die Rolle des Kulturellen damals weit wichtiger gewesen ist, als man mit den üblichen Vorstellungen über fürstliches Mäzenatentum und Forderung von Literatur, Kunst und Wissenschaften an Weimars "Musenhof" zu verbinden gewohnt ist. In einer Situation, in der die Katastrophe von Jena und Auerstedt 1806 die regulären Politikinstanzen nahezu blockiert hatte, erwiesen sich der Ruf Weimars und das internationale Ansehen seiner Dichter und Literaten als unschätzbares politisches Kapital, und die von ihnen in Jahrzehnten aufgebauten personellen Beziehungs- und Kommunikationsnetze bildeten in den chaotischen Tagen nach dem 14. Oktober 1806 den einzigen noch verfügbaren Handlungsraum, um Weichenstellungen einzuleiten, die den drohenden Untergang des kleinen Herzogtums abzuwenden und ihm einen Platz in Napoleons Rheinbund zu verschaffen vermochten. Verständlich also, daß Goethe diesen Nimbus unbeschädigt erhalten wollte. Mit anderen Worten: Die Kultur ersetzte in dieser besonderen historischen Situation gleichsam die Politik, genauer gesagt das, was man damals unter Staatspolitik verstand, das Handeln der Regenten, Regierungen und Diplomaten. Daß Weimar in der Krisensituation von 1806 in der Lage war, auf ein solches Potential zurückzugreifen, war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung. In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, deren wichtigste Etappen und Aspekte nachzuzeichnen.
Am 1. Mai 1796 schrieb Carl Friedrich Zelter an Friederike Unger, die Frau des Verlegers Johann Friedrich Unger: "Hiermit, meine verehrungswürdige Freundin, übersende ich Ihnen meine neuesten Lieder <...>. Es sind zwei Exemplare. Eins davon soll für Sie sein und das andere haben Sie die Güte, dem vortrefflichen Verfasser des W. M. zuzuschicken <...>. Ich wünschte daß ihm meine Lieder nicht so fremd sein mögten als ihm mein Name sein muß." - Mit diesen Worten veranlaßte der Berliner Maurermeister, Bauunternehmer - und auch Komponist - die Übersendung von einigen seiner Lied-Kompositionen an Goethe. Die neuesten Lieder waren - nach einzelnen Publikationen in Almanachen - eine erste, bescheidene Ausgabe mit dem Titel "Zwölf Lieder am Klavier zu singen componirt von Carl Friedrich Zelter"; sie enthielt, neben anderen, fünf Vertonungen von Goethe-Texten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren. Aus Goethes Antwortbrief vom 13. Juni 1796 an Friederike Unger spricht nicht nur seine Freude über das musikalische Geschenk, sondern auch der Wunsch, den Komponisten kennenzulernen: "Sie haben mir, werteste Frau" - so schrieb er - "durch Ihren Brief und die überschickten Lieder sehr viel Freude gemacht. Die trefflichen Kompositionen des Herrn Zelter haben mich in einer Gesellschaft angetroffen, die mich zuerst mit seinen Arbeiten bekannt machte. Seine Melodie des Liedes: "ich denke dein" hatte einen unglaublichen Reiz für mich, und ich konnte nicht unterlassen selbst das Lied dazu zu dichten, das in dem Schillerschen Musenalmanach steht. <...> und so kann ich von Herrn Zelters Kompositionen meiner Lieder sagen: daß ich der Musik kaum solche herzliche Töne zugetraut hätte. Danken Sie ihm vielmals und sagen Sie ihm daß ich sehr wünschte ihn persönlich zu kennen, um mich mit ihm über manches zu unterhalten".
Mit Interesse habe ich den "Spiegel" Nr. 39/08 gelesen und war besonders angetan vom Beitrag "Goethes allmächtige Fee" über Ghibellino sowie dessen Interview. 2003 war sein inzwischen so gelesenes wie umstrittenes Buch "Goethe und Anna Amalia - Eine verbotene Liebe?" erschienen (3. Aufl., Weimar 2007); die akademische Wissenschaft, besonders die wie immer weltfremden Weimarer jener Institute mit den stets wechselnden Namen, protestierte. Ulrike Krenzlin wertet Ghibellinos Buch in den "Weimarer Beiträgen" 4/2007 als zumindest debattenwürdig und ernstzunehmend. So denke ich auch. Sehr ernst sogar!...
1932 befindet sich die Weimarer Republik an ihrem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tiefpunkt. Was ließe sich angesichts des angeschlagenen Selbstbewußtsein der Nation besser instrumentalisieren als der hundertste Todestag des Olympiers Goethe, als die Epiphanie des Unsterblichen, als ein "Ehrenjahr des deutschen Menschen und der deutschen Kultur". Nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Goethes Werk und den gigantischen staatlichen Feierlichkeiten, mehr noch in den populären Medien, in allen Radiosendern, in sämtlichen Zeitungen, in allen politischen Lagern, von Nationalsozialisten und Katholiken, von Juden und Kommunisten wird Goethe auf fatale Weise ideologisch vereinnahmt.
Die Forderung nach mehr und besserer Bildung zu stellen, hieß im Neuhumanismus um 1800 bekanntlich, auf eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu drängen. Weniger bekannt ist indessen, mit welchem Nachdruck zur Zeit der Weimarer Klassik Bildungsfragen in Anknüpfung an Schriften Platons als ein im Kern erotisches Problem erörtert wurden. Obgleich meist sorgfältig camoufliert, läßt sich die Thematisierung des Eros als Bildungstrieb von Winckelmanns "Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke" über Arbeiten Wilhelm von Humboldts bis hin zu Goethes "Faust"-Tragödie rekonstruieren. In diesem Zusammenhang erweist sich letztere als eine fundamentale Kritik am „klassischen“ Bildungskonzept: Während von Humboldt im Eros eine schöpferische Urkraft und fortschrittstiftende Dynamik sieht, von der schon die Griechen geahnt hätten, daß sie das Chaos zum Kosmos ordne, präsentiert Goethe den Eros als eine Macht, welche zu vermeintlich Großem drängend ins Chaos zurücktreibt. Ebenso wie das sich bildende Individuum bei von Humboldt streben auch Faust und seine Parallelfiguren eine Ganzheit ihrer individuellen Vermögen an, wobei es auch ihnen im Kern darum geht, sich mit autonomen Geburtsakten den Traum der Unsterblichkeit zu erfüllen. Goethe allerdings deckt mit seinem Trauerspiel die Nachtseite solchen Ganzheitsanspruches auf, indem er zeigt, daß die Aneignung der Lebenserzeugung durch den Mann einhergeht mit einer Verleugnung des Lebenserzeugenden in der Frau sowie einem – in der Moderne zunehmend zerstörungsmächtigen – Menschenhaß überhaupt.
In einem böhmischen Gasthof empfing der 70-jährige Goethe aus der dortigen Hausbibel die Inspiration zu dem hier betrachteten Gedicht, das er dem West-östlichen Divan einfügte, seinem größten lyrischen Zyklus, in dem er die westliche Welt und den islamischen Orient miteinander zu versöhnen suchte, hier aus christlicher Perspektive.