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Das schöne Wort "Weltliteratur" verdanken wir zwar nicht Goethe, wie immer wieder behauptet wird, sondern Wieland. Goethe aber verdanken wir einen Begriff von Weltliteratur, der sich nicht auf den Kanon ihrer Meisterwerke beschränkt, wie es sowohl bei Wieland als auch im heutigen Sprachgebrauch konnotiert wird. Seine Verwendung des Begriffs umfaßt alles, was durch die Beschleunigung von Handel und Verkehr an Gedrucktem grenzüberschreitend Verbreitung findet. Dazu gehört sowohl die mit der Internationalisierung der Märkte unvermeidlich ausufernde Massenware als auch das Pretiose; die "englische Springflut" genauso wie der chinesische Sittenroman des Yü-chiao-li. Das entscheidende Definitionskriterium für Goethes Begriff der Weltliteratur ist die weltweite Rezipierbarkeit. Und was das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet, ist dennoch von denselben kommunikativen Voraussetzungen abhängig. ...
Wasser, Wolken und Steine formieren das Landschaftserleben nicht nur der europäischen Kulturen. Zwar bestimmen einzelne Steine, Findlinge oder Basaltsäulen, nur gelegentlich das Bild der Landschaft. Doch immer sind es steinerne Formationen, welche der Landschaft Halt und Gestalt verleihen – als ragende Gebirgszüge, wellige Hügel, in die Ferne ziehende Täler, dunkle Schluchten und Gründe, strebende Gipfel oder auch als schroffe Felsküsten, die sich dem Meer entgegenstemmen, das aufschäumend sich an ihnen bricht. Das Steinerne ist, vom Typus der Hochgebirgs-Malerei abgesehen, zumeist verhüllt vom Mantel der Pflanzen, der Felder und Wiesen, der Wälder und Büsche. Leonardo nannte, noch ganz im Bann der leibmetaphorischen Deutung der Terra, die Felsen das Skelett der Erde, das vom Gewebe des Erd- und Pflanzenreichs bedeckt wird, doch diesem erst die morphologische Stabilität verleiht. Die Flüsse und Bäche, ober- wie unterirdisch dahinströmend, sind die Adern des Erdleibs, ein ewiger Kreislauf des Wassers. Und mächtig atmet in Ebbe und Flut die Lunge der Erde, die auch die Zirkulation der Ströme und Rinnsale antreibt. So werden für Leonardo Landschaften zu beredten Zeugnisse des lebendigen Organismus der Erde – und seiner Geschichte. Auf dieser Linie ist Landschaftsmalerei ist immer auch Bio-Graphie des Erdkörpers. Und vielleicht gilt von aller Landschaftskunst, daß sie sich mit der Geschichte der objektiven Natur verwebt – auch wenn sich gerade in ihr die subjektiven Stimmungen des Betrachters oder Malers verkörpern. ...
Die Überlieferung mittelhochdeutscher Lyrik hält für unterschiedliche Fragen unterschiedliche Antworten parat. (...) Ganz konkret gesprochen: Uns fehlt ein Kommentar der Walther-Überlieferung, in dem die Walther-Corpora der Handschriften analysiert, der Bau der Töne kommentiert, die Lieder in ihrer unterschiedlichen Strophenfolge interpretiert und der Wortbestand sowie die Syntax in ihren Differenzen und Wandlungen dargestellt sind. Wenn die Frage nach dem autornahen Text die divergente Überlieferung gewissermaßen auf einen Text fokussiert, dann hält die Frage nach der Überlieferung den Blick auf die Differenzen als historisch belegte Möglichkeiten der Entfaltung eines Textes offen. Beide Fragen müssen im Blick des Faches bleiben, auch wenn sich die Paradigmen verschieben, denn beide Fragen sind, wie gesagt, nicht miteinander zu verrechnen. Das schließt freilich nicht aus, daß in einer zukünftigen Walther-Ausgabe Antworten auf beide Fragen gegeben werden.
Im Frühjahr 1998 lief in New York eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischen Videokünstlers Bill Viola. Die Ausstellung wurde zuvor in Los Angeles gezeigt. 1999 ist sei in Europa zu sehen (Amsterdam, Frankfurt/M.), sodann in San Francisco und Chicago: ein Programm bis zum Jahr 2000. Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York hatte das Whitney Museum of American Art seine beiden oberen Stockwerke freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. Man betrat vollständig abgedunkelte Stockwerke, in welche die Installationsräume labyrinthisch eingebaut waren. Es gab kein anderes Licht als dasjenige, das von den Installationen selbst ausging. Man konnte sich auch von den Tönen der Installationen leiten lassen. Das Aufsichtspersonal war von Viola geschult worden, mit etwaigen Verirrten und Verwirrten im Dunkel helfend umzugehen. Die Irritationen des Orientierungssinnes waren beabsichtigt. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräumen als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. Zwar richten alle Kameras ihr Objektiv immer auf irgendein Ensemble der Außenwelt und insofern ist ihnen Referenzialität technisch eingebaut. Die Ausstellungsfolge der 'Bildkammern' Violas jedoch schien so arrangiert, daß man diese Referenz zunehmend verlor. Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. Das machte den Besuch der Ausstellung zu einem Abenteuer, aber auch zu einer Art Intimität: es war eine Art visueller Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen, ebenso aufregend wie gelegentlich auch Scham oder das Gefühl wachrufend, man sei jemandem zu nahe getreten. Beides, Abenteuer wie Intimität, hat mit Grenzen und ihrer Überschreitung zu tun. Tatsächlich sollten die Besucher diesen Eindruck gewinnen: daß sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage. ...
Während Fausts letzte Worte seit je den Kommentierungswillen der Interpreten herausfordern, macht sie die anschließende, das Drama erst abschließende Szene Bergschluchten vergleichsweise sprachlos. Schon das opernhafte Arrangement und die überschwenglichen Reime entziehen sich dem zugreifenden Gedanken, mit dem das Gemüt sich sonst wappnen mag. Zweifellos handelt es sich hier, wo es aus schwer erfindlichen Gründen mit Fausts Unsterblichem himmelan geht, um die abgründigste Szene der ganzen Dichtung. Scheu befiel schon ihren Autor bei der Abfassung vor jenen "übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen", denen gegenüber man sich "sehr leicht im Vagen hätte verlieren können". Daß er diese Scheu überwunden und die Gefahr der Verschwommenheit "durch die scharf umrissenenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen" zu bannen gesucht hat, wurde von den Interpreten jedoch erst recht als Verständnisbarriere erlebt. ...
Textualität der mittelalterlichen Literatur : eine Problemskizze am Beispiel des "Wartburgkrieges"
(1999)
[Dieser Aufsatz versucht], am Beispiel des in der Großen Heidelberger Liederhandschrift tradierten „Wartburgkrieges“ einen Begriff des Textes als Wiedergebrauchsrede, als durch sprechsituationsübergreifende Stabilität gekennzeichneten Modus der Rede, hier der poetischen Rede, durchzuspielen und historisch zu spezifizieren. Dabei (...) ist einerseits zu skizzieren, wie der Status dieses einzelnen Textes sich weiterhin als spezifisch schrifttextueller darstellt: Es handelt sich um einen Text, der eine distinkte Balance von Situationalität und Situationsabstraktheit gerade darin wahrt, daß er Performancemomente schriftlich repräsentiert, körpergebundene Kommunikationshandlungen im multisensorischen Zeigfeld also als abwesende gegenwärtig hält.
'Tanzen und Singen': Dies soll hier also nicht auf die Texte verweisen, die sich etwa aufgrund formaler Tonmerkmale als Tanzlieder verstehen ließen, oder auf solche, in denen einmal ein Tanzmotiv begegnet; dies übrigens ist, wie man weiß, vor Walther ausgesprochen selten. Ausgeschlossen habe ich aus systematischen Gründen schließlich auch den Tanz in der dörperlichen Anderwelt bei Neidhart und in seiner Tradition. Mein Textfeld sind vielmehr solche Lieder, in denen der Tanz thematisch – und möglicherweise auch strukturell – dominierend ist, die sich vielleicht gar selbst als Tanzlieder inszenieren. So ist es der Fall bei einigen – aufs Ganze gesehen jedoch eher wenigen – Kanzonen und in den sogenannten Tanzlaichs des 13. Jahrhunderts, und natürlich ist der prominenteste Autor hier der Tannhäuser. Es geht im folgenden um seinen III. Leich und zuvor um Leich IV Ulrichs von Winterstetten sowie den Leich Heinrichs von Sax.
Die Auffassung, der Autor sei für die Erklärung der Bedeutung seiner Texte relevant, wurde in den letzten Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen theoretischen Haltungen heraus in Zweifel gezogen. […] Vor dem Hintergrund dieser Positionen und ihrer aktuellen Fortführungen ist die Verwendung des Autorbegriffs bei der Interpretation literarischer Texte heute dem Vorwurf theoretischer Naivität ausgesetzt. Gleichzeitig ist der Autor in der Interpretationspraxis der Literaturwissenschaft weiterhin von großer Bedeutung. […] Diese Diskrepanz mag hie und da in einer Ignoranz gegenüber vergangenen und aktuellen Theoriedebatten begründet sein oder in einer mangelnden Konsequenz, als richtig akzeptierte Theoriepostulate auch de facto für die eigenen Textlektüren zu berücksichtigen. Aber solche Erklärungen reichen nicht aus. Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion über den Autor zentralen Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Texten nicht gerecht wird. Die Praxis der Interpretation(en) literarischer Texte demonstrieren vielmehr legitime, ja notwendige Verwendungsweisen des Autorbegriffs. die von der Theoriediskussion nicht angemessen wahrgenommen werden. Diese Verwendungsweisen lassen sich nicht nur historisch rekonstruieren. Sie können und sollten, so meinen wir, auch systematisch gerechtfertigt werden.
Als ein Werk des Deutschen Ordens wurde die 'Mitteldeutschen Hiob-Paraphrase' im Jahre 1338 vermutlich in PreuBen vollendet. Die Hiobgeschichte wird hier Vers um Vers nacherzählt, wohl mit dem Ziel, das schwierige Bibelbuch dem noch lateinunkundigen Klosternachwuchs zugänglich zu machen. Alle 42 Kapitel des biblischen Hiobbuches werden hier vollständig in deutsche Verse übersetzt und ausgelegt. Unser Dichter hatte eine lateinische Bibel vor sich mit der 'Glossa ordinaria' am Rand, und die Glosse ist stellenweise mitparaphrasiert worden. Teilweise steht die Exegese in deutlich abgegrenzten, den Text unterbrechenden Einschüben, in denen die Stimme des Dichters den Leser unmittelbar unterrichtet, teilweise aber verschmilzt sie mit den Bibelworten, wobei Hiob und seine Freunde sich selbst kommentieren. Der Text ist aus mehreren Gründen wesentlich länger geworden als die biblische Vorlage. Fast jedes Wort des Bibeltextes wird übersetzt, und die Versform erschwert eine knappe Formulierung. Wichtiges wird zwei- oder dreimal wiederholt und neuer Stoff hinzuefügt. Aber vor allem die Erklärungen und Auslegungen des Dichters tragen dazu bei, daB sich das Werk zu einer Länge von mehr als 15 000 Zeilen ausdehnt und an die Stelle der Poesie des hebräischen Werkes, die noch die lateinische Fassung prägt, ein durchaus lehrhafter Ton tritt. Die außerordentliche Vielfalt des Wortschatzes mit seinem relativ hohen Anteil an 'hapax legomena' macht das Werk für Sprachwissenschaftler besonders interessant, ein Charakteristikum übrigens, das es mit dem hebräischen Urtext gerneinsam hat. Der langatmige didaktische Stil hat jedoch dazu geführt, daß es von Literaturwissenschaftlern kaum untersucht worden ist.
In welchem Sinn haben Texte […] eine räumliche Dimension - in welchem Sinn können Texte Räume sein oder die »Durchsehung« (Dürer) in ein Dahinter erschließen? […] Die Frage, was die Rede von einer Räumlichkeit der Texte bedeuten könnte, scheint sinnvoller gestellt, wo und insofern es um das geht, wovon Texte sprechen, was sie »darstellen«, wovon sie »erzählen«, »berichten«, »handeln«, also in Bezug auf die (vom Leser imaginativ zu rekonstruierende) »Referenz« des Textes. Literarische Texte sprechen oft und ausführlich von Räumen. Vielfach handeln sie von deren Erkundung und Erschließung; vielfach beschreiben sie Räumliches. Die Eroberung von Räumen ist ein klassisches literarisches Thema. Manche Texte konzentrieren sich - zumindest streckenweise - sogar auf die Schilderung von Räumlichkeiten, von Interieurs, von Landschaftlichem, von städtischen oder ländlichen Topographien, von besonderen Orten und Schau-Plätzen. Die Protagonisten durchschreiten Gebäude, durchstreifen Landschaften, treiben sich in Räumlichkeiten aller Art herum - bis hinein in den Weltraum. Mit dem Befund, daß Räume in Texten »vorkommen«, ist allerdings die Frage nach der Räumlichkeit von Texten keineswegs schon abschließend beantwortet.