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Diese Studie konfrontiert zwei prominent angelegte, epistemisch komplexe Perspektiven auf den Handlungsverlauf von Storms "Schimmelreiter" und den Charakter seines Protagonisten, Hauke Haien, miteinander: eine medizinische und eine theologische. Bei der Rekonstruktion dieser beiden Sichtweisen werde ich in drei Schritten argumentieren:
I. möchte ich, die virtuelle Perspektive eines (in Bezug auf Storm) zeitgenössischen Lesers mit psychiatrischen Kenntnissen bzw. Interessen einnehmend, eine Art Diagnose Hauke Haiens vorführen. Von diesem Blickpunkt aus gesehen ist der junge Deichgraf (trotz der Storm-typischen ruralen Atmosphäre) ein Neurastheniker, wie er im (Lehr-)Buche steht.
II. werde ich, der genannten medizinischen Perspektive weiter folgend, auf die hereditären Belastungen zu sprechen kommen, denen Hauke und noch mehr seine schwachsinnige Tochter Wienke ausgesetzt sind: In der über drei bzw. vier Generationen angelegten Degenereszenz - mit dem Neurastheniker Hauke Haien in zentraler Mittelstelle - kann, wie ich zeigen möchte, ein Ordnungsprinzip der Novelle gesehen werden.
III. werde ich die (scheinbare) Gegenperspektive, nämlich die eines protestantisch vorgebildeten und/oder gläubigen zeitgenössischen Lesers, einnehmen. Von dieser Warte aus gesehen ist der Tod Haukes und seiner Familie eine Konsequenz des alttestamentlichen Gottesfluchs, der die Übertretung der Zehn Gebote bis in die dritte und vierte Generation hinein
sanktioniert.
Seit gut zwanzig Jahren sind keine Zweifel mehr erlaubt: Heinrich Heine ist in seine deutsche Heimat wieder definitiv heimgekehrt, und die große Heine-Ökumene scheint angebrochen. Denn wohl erstmalig in der Geschichte herrscht heute im deutschsprachigen Raum ein universeller und ungebrochener Konsens zu dem Dichter, daß er jedem, der die wechselhafte Geschichte dieses ungezogen Lieblings der Grazien in seinem Vaterlande kennt, fast verdächtig anmuten muß: Traut man doch gerade als alter Heine-Kämpe da dem Frieden, ja bisweilen den Augen nicht. Und so triumphal der Einzug - und selbst sein Heros Napoleon hat in Düsseldorf wohl keinen triumphaleren gehalten - , den der inzwischen allseits Gefeierte beispielsweise 1997 zum zweihundersten Jubiläum in seiner Geburtstadt hielt, das mit allem gebührenden Glanz und Gloria als mediale Event und internationales wissenschaftliches Happening, gar als germanistisches Love-In begangen wurde, überkam den eingefleischten Heine-Verehrer bei aller Genugtuung dabei doch fast ein leichtes Unbehagen, ein fast nostalgisches Heimweh nach jener nicht allzu fernen, doch nun versunken
anmutenden Äone, wo, wie die verklärende Erinnerung es suggeriert, um und über den Dichter noch so aufwühlend wie aufschlußreich gestritten wurde.
Natürlich wäre es ein vergebliches, möglicherweise unzulässiges Unterfangen, dem Bekenntnis der Kolmar, Rilke habe sie "vielleicht" durch die "Plastik" seiner "späteren Gedichte" und mit "Einzelheiten aus [seinem] Werk beeinflußt", nun nachzugehen und es gar belegen zu wollen. Allein und dennoch: legitimiert wäre man mit jenem Eingeständnis schon und sich selbst der Subjektivität bei solchem Versuch durchaus bewußt.
Die Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in Rilkes Dichtung sind vor allem ein Echo seiner 'Confessiones'-Lektüre. Mit diesem Werk hat sich Rilke, wie er berichtet, intensiv befaßt und 1911 sogar begonnen, es ins Deutsche zu übersetzen. Äußerlich faßbare Spuren seiner Augustinus-Lektüre treten wohl erstmals in der Rodin-Monographie von 1902 hervor. Dort spielt Rilke auf eine Stelle aus dem Proömium der 'Confessiones' an, die zusätzlich auf die Untersuchung des Seins der Zeit in deren elftem Buch hindeutet. Die Passage, die mit der Feststellung beginnt, Rodin sei ein Greis, dessen Leben einmal "begonnen" habe, nun "tief in ein großes Alter" hineingehe und für uns so sei, "als ob es vor vielen hundert Jahren vergangen wäre", verbindet Rilke mit einem charakteristischen Gedanken Augustins. Am Beginn seiner Betrachtungen zu Rodin mutmaßt er über dessen Leben: "Es wird eine Kindheit gehabt haben, irgendeine, eine Kindheit in Armut, dunkel suchend und ungewiß. Und es hat diese Kindheit vielleicht noch, denn -, sagt der heilige Augustinus einmal, wohin sollte sie gegangen sein?" Damit klingt schon Rilkes große Sehnsucht nach einem Bleiben an, die zugleich als Nachklang der Zeitauslegung in Augustins 'Confessiones' zu lesen ist und auch seine in vielen Abschattungen immer wiederkehrende Frage bestimmt, die den Titel der vorliegenden Untersuchung bildet: "Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?" Rilkes Dichtung war trotz mancher Distanz zum christlichen Dogma tief in den Themen und Antworten des christlichen Glaubens beheimatet. Dies neu zu beachten, mag eine Aufgabe der Rilke-Forschung wie der Theologie sein.
Richtete sich das lange unter der Federführung von J.-Ph. Genet un d W. Blockmans betriebene Forschungsunternehmen zur »Entstehung des modernen Staates« vor allem auf die Epoche des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit aus, so nimmt der vorliegende Band einen strukturellen Vergleich ausgewählter Aspekte der Staatlichkeit des antiken Rom und des spätmittelalterlichen Europas in den Blick. Wie D. Nicolet in seiner Zusammenfassung treffend hervorhebt (S. 419–426, hier S. 420), wird dieser Vergleich ganz im Sinne der programmatischen Vorgaben des spiritus rector Genet (S. 3–14) vorrangig als Kontrastierung durchgeführt. Zwar verweisen einige Autoren auf mögliche Resultate einer Zusammenschau, grundsätzlich bleibt die komparative Synthese aber weitgehend dem Leser überlassen. Dieser kann sich zu ausgewählten "Strukturbereichen" – der Zeit(-wahrnehmung/-rechnung), der Raum(-ordnung), der Verwandtschaft, der (schriftlichen) Kommunikation und dem Recht – in jeweils gedrängten Synthesen und zuweilen auch in Fallstudien informieren. ...
Rezension zu Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen (Niemeyer) 2006 (= Communicatio, Bd. 36). 764 S.
Die Studie Christian Mosers gilt einer für die abendländische Literatur- und Wissensgeschichte grundlegenden Verfahrensfigur, die in der antiken Kultur ihren Anfang nimmt: der Erkundung des Selbst auf dem Weg über die Lektüre des Buchs bzw. der Bücher.
Daß in die Visionen des Jorge Luis Borges Reminiszenzen an Werke der bildenden Kunst eingeflossen sind, erscheint evident, wenn man etwa die Beschreibung der 'La biblioteca de Babel' (Borges 1989a, 465-471) mit den Kerkerphantasien Giovanni Battista Piranesis ('Carceri', 1745-1750) oder auch mit der Darstellung des Babylonischen Turmbaus (1563) durch Pieter Breughel d.Ä. vergleicht. Auch bestehen vielfaltige Beziehungen der Borges'schen Labyrinth-, Spiegel- und Doppelgängerphantasien zu Gemälden der Surrealisten sowie zu anderen Werken, insbesondere der modernen Kunst. Inzwischen hat Borges der bildenden Kunst gleichsam mit Zinsen zurückerstattet, was er ihr verdankt. Bildende Künstler verschiedener Stilrichtungen haben aus seinen Werken Anregungen bezogen, Borges'sche Visionen visualisiert, mit Gemälden, Photographien und Graphiken auf die Denkbilder des Argentiniers geantwortet.
Die Parallelen zwischen Cortázars 'Rayuela' und Musils 'Mann ohne Eigenschaften' wurden von wissenschaftlicher Seite schon mehrfach untersucht. Die Frage, ob und inwieweit sich die Berührungspunkte der Romane auf einen direkten Einfluss Musils zurückführen lassen, ist dabei weitgehend ausgeklammert geblieben. Einen ersten Schritt dahingehend soll hier durch die Aufarbeitung von Umständen und Umfang von Cortázars Musil-Rezeption, die bisher ebenso wenig beachtet wurde, getan werden. Ein weiterer Schritt ist die Analyse von Kontext und Funktion, die den Nennungen Musils in 'Rayuela' zukommt. Die im Zuge der Rezeptionsaufarbeitung durch die Durchsicht von Cortázars Exemplaren der Musilschen Werke gewonnenen Kenntnisse über jene Passagen, die ihm bedeutend erschienen sein dürften, erleichtern es außerdem, Musilsche Intertexte in 'Rayuela' aufzuspüren, die als Indiz eines Einflusses gewertet werden können. Dass es davon mehr gibt, als bisher angenommen, soll an einer exemplarischen Analyse des 71. Kapitels von 'Rayuela' verdeutlicht werden.
In dieser Betrachtung wird versucht, die Besonderheiten und Schwächen von Ehrensteins 'Pe-Lo-Thien' zu erläutern und aus einer chinesischen Perspektive zu bewerten, ob seine Nachdichtungen den ursprünglichen Stil und Wert von Pe Lo Thiens Gedichten beibehalten, ferner: durch die Analyse der Hauptthemen und des Sprachgebrauchs herauszufinden, ob seine Nachdichtungen expressionistische Elemente enthalten. Außerdem wird Pe Lo Thiens Gedicht 'In der Nacht einen Singenden hören. Übernachten in E Zhou' mit Ehrensteins Nachdichtung 'Ein Mensch weint in der Nacht' und mit Klabunds Nachdichtung 'Das nächtliche Lied und die fremde Frau' verglichen, um die Mehrdeutigkeit von Pe Lo Thiens Gedicht aufzuzeigen und einige Unterschiede zwischen der westlichen und der chinesischen Dichtung zu verdeutlichen.