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Mit 457 Codices zählt Gießen zu den Standorten, die einen mittelgroßen Bestand an mittelalterlichen Handschriften vorweisen können. Es gibt allerdings zwei Besonderheiten, die die Handschriftenabteilung der Gießener Universitätsbibliothek gegenüber vergleichbaren Sammlungen auszeichnen: Das ist zum einen die so gut wie geschlossen überlieferte spätmittelalterliche Bibliothek der Fraterherren oder Brüder vom Gemeinsamen Leben zu Butzbach, die 1771 auf Befehl Landgraf Ludwigs IX. von Hessen-Darmstadt der Universitätsbibliothek Gießen übergeben wurde. Die intensivere Beschäftigung mit und die sorgfältige Arbeit an den Texten wird erst jetzt umfassend möglich. Die 221 Handschriften (von den ebenfalls an die Universitätsbibliothek gelangten Wiegendrucken soll hier nicht die Rede sein) sind durch moderne Kataloge (verfasst von Wolfgang Georg Bayerer und Joachim Ott) seit 2004 in Gänze erschlossen. Zum anderen ist es der hohe Anteil von fast einem Drittel (genauer 137) volkssprachiger Handschriften, die das weltweite Interesse der germanistischen Mediävistik, Rechtsgeschichte und Spätmittelalter-Geschichtsschreibung am Standort Gießen geweckt haben.
Sie werden, meine Damen und Herren, diese Bilder "2001 – A Space Odyssey" von Stanley Kubrick erinnern. Dieser Film, 1968 gedreht, also noch vor der ersten bemannten Mondlandung und noch vor dem takeoff des Computerzeitalters – dieser Film ist nicht nur eine Inkunabel eines ganzen Filmgenres, sondern er hat unsere Bilder von Weltraum und Computer maßgeblich geprägt. Er vermochte dies auch deswegen, weil Kubrick hier technische Phantasien und religiöse Motive, psychodelische Zeitreisen und metaphysische Sinnsuche, Urgeschichte und Endgeschichte, Angst vor der Technik und Sehnsüchte nach einer Entgrenzung jenseits von Zeit und Raum in maßstabsetzende Bilder brachte, verbunden mit einem niemals zuvor derart ungeheuren Einsatz von Musik und einer so noch niemals zuvor gesehenen Herabsetzung des Mediums, das seit alters her als die Sphäre des Menschlichen überhaupt angesehen wurde, nämlich die Sprache. Von 141 Minuten Film sind nur 40 Minuten von Dialogen begleitet. Kubrick erweist den Film als dasjenige Medium, in welchem die visuellen Mythen unserer Zeit kreiert werden. ...
Ein Blick auf die gegenwärtige Lage der literaturwissenschaftlichen Germanistik weckt den Eindruck, daß ihre Dauerkrise, deren sie sich seit 1966 erfreut, durch zwei völlig entgegengesetzte Therapien gelöst werden soll. Die eine Lösung besteht in einer radikalen Engführung der Literaturwissenschaft, die andere in deren rückhaltloser Erweiterung. Die Frage ist, ob man zugleich ein- und ausatmen kann. Die weitere Frage ist, ob es überhaupt wünschbar ist, die sog. Dauerkrise zu beenden. Wollen wir überhaupt eine Germanistik, die von einem homogenen Theorie-Paradigma zusammengehalten und damit in der Lage wäre, zwischen den zerstrittenen Positionen Konsens zu stiften? Ich denke, wir sollten es nicht wollen. Wenn es eine Lehre von 1945 und 1989 gibt, dann die, daß man schiasmatische Wissenschaftsentwicklungen nicht bedauern, sondern begrüßen sollte. Nicht Einheit, sondern Vielheit, nicht Identität, sondern Differenz, nicht Homogenität, sondern Heterogenität schaffen das Klima für eine kreative Wissenschaft. ...
Raymond Radiguet starb 1923 an Typhus, gerade zwanzigjährig. Er hinterließ zwei furiose Romane, "Le Diable au corps" und "Le bal du Comte d'Orgel", und ein paar Dutzend Gedichte. Jean Cocteau, selbst jugendverliebt und älter werdend, schreibt später im Nachwort zum ersten Roman: "Radiguet verabscheute die Oscar Wildesche Vorstellung von der Jugend. Er wäre so gern alt geworden. Heute wäre er fünfzig. Doch mit seinen unerbittlichen Händen hat der Tod ihn in der Gestalt eines Zwanzigjährigen festgebannt, ein für allemal." ...
Humboldt hat von früh an in unmißverständlicher Klarheit gesagt, was er wollte. Nämlich die Mannigfaltigkeit, die unabsehbaren Ketten, die ungeheure Verstreutheit, die überwältigende Heterogenität der Naturerscheinungen zu einer qualitativen Totalität, zu einer Idee und zu einem Ganzen zusammenzufassen, das auch noch anschaulich sein soll. Dieses Konzept liegt schon den "Ansichten der Natur" von 1808 zugrunde, ist aber viel älter und geht auf die 90er Jahre zurück. Es hat sich auch im letzten Werk, dem "Kosmos", nicht geändert. Im Konzeptuellen herrscht bei Humboldt eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit. Dieser 'Wille zum Ganzen' ist das nunc stans in dem sonst so überaus bewegten Leben Humboldts, in dessen Verlauf er häufig genug die realen Ziele zu ändern gezwungen war, ohne doch seine Grund-Idee aus dem Auge zu verlieren. ...
Hegel hat endlos vielen Interpretationen von Tragödien, und so auch solchen der "Antigone" das Schema vorgegeben, wenn er den tragischen Konflikt als die Kollision zweier sittlicher Ansprüche bezeichnete, die beide in sich selbst gerechtfertigt sind. Für die "Antigone" hieß dies, daß die Sittlichkeit der Familie, durch Antigone repräsentiert wie erlitten, auf die Sittlichkeit des Staates stoße, die in Kreon resümiert ist. Und da beide Sittlichkeiten in sich notwendig seien, müsse die Kollision einen tragischen Terminus finden. Dies umso mehr, als zur tragischen Kollision gehöre, daß beide Positionen jeweils Momente der Gegenposition enthielten, die aber jeweils implizit und unausgedrückt blieben, so daß weder Antigone noch Kreon die Berechtigung der jeweils anderen Auffassung auch nur ansatzweise teilen könne. Unversöhnlich prallen beide Positionen aufeinander, weil die Protagonisten innere Ambivalenzen nicht zuließen. ...
Deutschland 1932: die Erfahrungen des Amerikanismus und des Fordismus waren gerade verarbeitet; man hatte die neuen Geschwindigkeiten und die Vermassung der Millionenstädte ebenso studiert wie das Industrieproletariat und die frischen Angestelltenschichten; der Funktionalismus hatte in allen Bereichen der Moderne, auch im Design und in der Architektur, seinen Siegesszug angetreten; man hatte an der Metropole Berlin erstmals auch die Wahrnehmungs-Modalitäten von Big Cities ästhetisch durchbuchstabiert; man hatte indes auch mit dem schwarzen Freitag die Konsequenzen globalisierter Wirtschafts- und Börsenverflechtungen erlitten – in diesem Jahr 1932 also bildet der österreichische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" die "soziale Zwangsvorstellung" einer "überamerikanischen Stadt", "wo alles mit der Stopuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwerkketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allegemeinen Rhythmus mit einander ein paar Worte. ...
Erotische Anatomie : Fragmentierung des Körpers als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock
(2001)
1536 erscheinen die danach vielfach neuaufgelegten und erweiterten "Blasons anatomiques du corps féminin", eine Sammlung von Preisgedichten jeweils auf einzelne "Körperteile". Die Blasons sind zunächst im Anhang zur "Hécatomphile" des LéonBattista Alberti versteckt, bevor sie 1543 auch seperat gedruckt werden. Der Dichterfürst Clément Marot (1496-1541) hatte mit dem Gedicht "Le beau tétin" (Das schöne Brüstchen) das Modell vorgegeben und seine Poetenkollegen brieflich eingeladen, über schöne, sprich: reizende Teile zu schreiben – weibliche, versteht sich. Wir sind mitten im Thema. ...
Wer nach Paris kommt, sollte nicht versäumen, die Stiegen auf das Dach der Kathedrale Notre-Dame zu klettern und dort die steinernen Monstren, Fabeltiere und Dämonen zu besichtigen, durchaus Meisterwerke gotischer Steinmetz-Kunst. Noch immer kann man die Blicke imitieren, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Künstler Charles Meryon (1821-1868) zu seinen Radierungen inspirierte: mit ihnen versetzte er die "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (Walter Benjamin) unter die Zeichen eines fremdartigen und unheimlichen Tierkreises, der nicht die Ordnung des Himmels, sondern das nächtliche Gewimmel einer dämonischen Gegenwelt wiedergab. Seltsam genug ragten seit Jahrhunderten die Lamien und Empusen, die Keren und Chimären, die Teufelsfratzen und Basilisken, Drachenköpfe und Kynokephalen über das Häusermeer der Metropole, die sich gerade anschickte, zum Labor der urbanindustriellen Moderne zu werden. Die steinernen Monstren, die oft auch die Westportale besetzt hielten, weil von dort der Angriff der Dämonen zu erwarten war, dienten im Mittelalter als Wächterfiguren, welche den heiligen Raum des Kirchenbaus vor dem Eindringen der satanischen Rotten zu behüten hatten. ...