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Während Fausts letzte Worte seit je den Kommentierungswillen der Interpreten herausfordern, macht sie die anschließende, das Drama erst abschließende Szene Bergschluchten vergleichsweise sprachlos. Schon das opernhafte Arrangement und die überschwenglichen Reime entziehen sich dem zugreifenden Gedanken, mit dem das Gemüt sich sonst wappnen mag. Zweifellos handelt es sich hier, wo es aus schwer erfindlichen Gründen mit Fausts Unsterblichem himmelan geht, um die abgründigste Szene der ganzen Dichtung. Scheu befiel schon ihren Autor bei der Abfassung vor jenen "übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen", denen gegenüber man sich "sehr leicht im Vagen hätte verlieren können". Daß er diese Scheu überwunden und die Gefahr der Verschwommenheit "durch die scharf umrissenenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen" zu bannen gesucht hat, wurde von den Interpreten jedoch erst recht als Verständnisbarriere erlebt. ...
Goethes Faust kann im doppelten Sinne als "Drama der Verzeitlichung" gelesen werden: Das Werk problematisiert den in ästhetischer wie außerästhetischer Hinsicht dramatischen Wandel der kulturellen Anschauungsformen vom Raum zur Zeit, von der Naturalisierung der Geschichte bis zur Historisierung der Natur. Diese Feststellung, die im folgenden konkretisiert werden soll, gründet sich auf die Beobachtung einer bemerkenswerten Korrelation. In der über sechzigjährigen Entstehungsgeschichte des Faust hat Goethe es vermocht, den jeweils aktuellen Stand seiner Auseinandersetzung mit den Akzentverschiebungen und Umwälzungen im naturgeschichtlichen Denken seiner Zeit dramaturgisch zu verarbeiten, ohne das früher Gestaltete durch das später Hinzugekommene zu ersetzen. ...
Wissenschaft, so heißt es, sei ein Projekt, das auf Erkenntnis zielt. Damit verbunden ist die Vorstellung, daß wir heute mehr wissen als gestern und morgen mehr wissen werden als heute. Die Frage ist nur, ob sich das zu Erkennende auch in diese Gedankenfigur fügt. Wie müßten wir vorgehen, wenn jene weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens, welche zu besetzen und zu füllen ein konsti-tutiver Bestandteil wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist, eo ipso als Wirklichkeiten anzuerkennen sind, die unerkannte Möglichkeiten in sich bergen? Wie können wir diesen virtuellen Realitäten (im emphatischen Sinne der Prägung, nicht dem geläufigen, der auf einem technizistischen Mißverständnis beruht) gerecht werden, ohne sie durch den fixierenden Zugriff, das Aussagen und Ausmalen, Aufschreiben und Aufzeichnen ihrer Virtualität zu berauben? ...
Ein Spaziergang im Wald: Die Baumkronen wiegen sich im Sommerwind, unser Weg ist in ein animierendes Wechselspiel von Licht und Schatten getaucht, dazu zwitschern die Vögel. Hier und dort treffen wir auf andere Spaziergänger, die ebenfalls der Stadt entflohen sind – zum Familien-Picknick in Waldlichtungen, zum verliebten Zwiegespräch, zum einsamen Grübeln. Auf unseren Gruß reagieren manche freundlich und offen, andere unwirsch. Hier werden wir zum Wein geladen und zum Versteckspiel mit den Kindern, dort fühlt man sich gestört, ja einmal werden wir sogar bedroht, weil man unsere Kontaktaufnahme als Einmischung in fremde Angelegenheiten mißversteht. ...
Als ich meinen achtjährigen Sohn wieder einmal in televisionärer Trance versunken fand und mir aus seinem verglasten Blick das ganze Elend unserer Infotainment-Kultur zu starren schien, verfiel ich auf eine fragwürdige pädagogische Maßnahme. Ich streute in den nächsten Werbeblock die Information, zu meinem bevorstehenden Geburtstag könne ich mir nichts Schöneres vorstellen, als daß er mir ein Gedicht aufsage. Freilich sind Gedächtnisaufgaben Routinesache für ihn. Tapfer schluckt er seine Schulspeisung an dem, was man für kindgerechte Lyrik hält und als Stärkungsmittel gegen den heutigen Bildungsverfall durch Bildkonsum verabreicht. Und auch mich hat er schon durch eine Rezitation von Goethes Gefunden beglückt, da sie die Anschaffung eines größeren Gameboy begünstigte. Mit meinem Geburtstagwunsch aber hatte ich den Ehrenpunkt berührt. Nun mußte er zeigen, was er aus intrinsischen Motiven zu memorieren bereit war. ...
Auch wenn es in der Regel eilt: bevor man ein Kunstwerk erhalten kann, muss man es angemessen zu beschreiben wissen, sonst läuft man Gefahr, grobe Fehler zu begehen. Dies gilt für ein Werk auf Basis "alter" Materialien wie Stein, Holz, Leinwand, Fasern, Bindemittel und Pigmente, dies gilt in nicht geringerem Masse für ein Werk, das moderne Materialien enthält: Kunststoffe, synthetische Farben, Halbleiter und elektromagnetische Felder. Die Definition dessen, was eigentlich das elektronische Kunstwerk ausmacht, führt mitten in die Thematik, was zu berücksichtigen und was zu unternehmen ist, wenn das Werk vom Neuzustand in die Alterungsphase eintritt. ...
Verzeitlichung, das Leitmotiv dieses Buches, ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis unserer kulturhistorischen Situation. Ohne die Ablösung der Zeit vom Raum, ohne die Emanzipation temporaler Prozesse von topischen Bindungen wäre die Fortschrittsdynamik der Moderne nicht durchsetzbar gewesen. Deren Errungenschaften, das Aufbrechen starrer Ordnungsstrukturen, wie auch ihre Kehrseite, das Herausfallen aus lebensweltlichen Orientierungsrahmen, sind Resultate desselben Vorgangs. ...
As editor of the next iteration of the Köchel Catalogue, I have to deal with the current (sixth) edition’s Appendix C, devoted to "Doubtful and Misattributed Works." My goal is to reduce the potentially vast dimensions of that appendix to only those works for which some connection to Mozart cannot be ruled out. In the decades since 1964, when the current edition of Köchel was published, many of the works listed in Appendix C have been convincingly attributed to other composers. Other works therein can confidently be dismissed as never having had any meaningful connection to Mozart. Yet even after removing the reattributed and trivially misattributed works from the appendix, we are left with a handful of works that may possibly have had something to do with Mozart, even if clear evidence one way or the other remains elusive. One must, of course, be cautious in removing questionable and doubtful works from the catalogue, as the present case-study will illustrate. The work under consideration, catalogued as K6 Anh. C 9.07, is an unaccompanied piece for three or four voices with the text "Venerabilis barba capucinorum." ...
"Die Kritik der Politik", schreibt Johannes Agnoli, "stellt [...] die Frage nach dem herrschaftssichernden Charakter aller Reformen und vergißt also die Frage nach dem cui bono nicht und nach der Zweckrationalität irrationalen Verhaltens der politischen Macht. Im Mittelpunkt steht nicht die Klage und das Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens [...]; sondern die Anklage gegen das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei; und als Schlußerkenntnis [...], daß Herrschen, daß das autokratische oder oligarchische oder parlamentarische Bestimmen über Gesellschaft allemal zu negieren sei - möge "die Form des Staates sein wie sie wolle" (Hölderlin)." Doch dies, so fügt Agnoli hinzu, "wäre immer noch Gesinnung, kein Bewußtsein." Es genüge nicht festzustellen, "daß sich die Form Staat inzwischen als falsches Projekt erwiesen, als gescheiterter Versuch in die Geschichte eingegangen ist [...] Alle Kritik - will sie mehr sein als Gesinnung - hat ein Kriterium auszuweisen, an dessen Kategorie die Übersetzung des richtigen Denkens in die Anleitung zum Handeln möglich wird." Es gehe "weder um die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit noch um die Lobpreisung des Gemeinwohls als Ziels allen politischen Handelns. Will man [...] andere Verhältnisse schaffen und nicht bloß verbesserte Herrschaft, so wird die Kategorie von vornherein selbst keine formale (bonum commune) noch eine normativ-moralische (gute Verfassung gegen schlechte Politik) sein können, sondern eine materielle." Aus der Frühzeit der Form Staat stammen die ersten großen Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten der Politik und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens der Demokratie. Im Unterschied jedoch zum späteren demokratischen Gejammer verschleiern sie die Frage nach dem cui bono und nach der Zweckrationalität des Verhaltens der politischen Macht noch kaum. So wenig sie auch das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei, in Frage stellen und sosehr sie im Grunde nur die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit einklagen, sie beschränken sich keineswegs auf formale oder normativ-moralische Kategorien - und was damit unmittelbar zusammenhängt: sie gewähren ästhetischen Genuß. In der Frühzeit des Staats konnte dessen Kritik eben noch tragische oder komische Form annehmen.
Im Frühjahr 1998 lief in New York eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischen Videokünstlers Bill Viola. Die Ausstellung wurde zuvor in Los Angeles gezeigt. 1999 ist sei in Europa zu sehen (Amsterdam, Frankfurt/M.), sodann in San Francisco und Chicago: ein Programm bis zum Jahr 2000. Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York hatte das Whitney Museum of American Art seine beiden oberen Stockwerke freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. Man betrat vollständig abgedunkelte Stockwerke, in welche die Installationsräume labyrinthisch eingebaut waren. Es gab kein anderes Licht als dasjenige, das von den Installationen selbst ausging. Man konnte sich auch von den Tönen der Installationen leiten lassen. Das Aufsichtspersonal war von Viola geschult worden, mit etwaigen Verirrten und Verwirrten im Dunkel helfend umzugehen. Die Irritationen des Orientierungssinnes waren beabsichtigt. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräumen als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. Zwar richten alle Kameras ihr Objektiv immer auf irgendein Ensemble der Außenwelt und insofern ist ihnen Referenzialität technisch eingebaut. Die Ausstellungsfolge der 'Bildkammern' Violas jedoch schien so arrangiert, daß man diese Referenz zunehmend verlor. Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. Das machte den Besuch der Ausstellung zu einem Abenteuer, aber auch zu einer Art Intimität: es war eine Art visueller Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen, ebenso aufregend wie gelegentlich auch Scham oder das Gefühl wachrufend, man sei jemandem zu nahe getreten. Beides, Abenteuer wie Intimität, hat mit Grenzen und ihrer Überschreitung zu tun. Tatsächlich sollten die Besucher diesen Eindruck gewinnen: daß sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage. ...