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Der Kreis des Wissens kann schon lange nicht mehr geschlossen werden. Zur Zeit der Aufklärung und im wissenschaftsverrückten 19. Jahrhundert schien das noch möglich zu sein, jedenfalls glaubte man fest daran, und die Enzyklopädien und Dictionnaires encyclopédiques kamen massenhaft von der Druckerpresse auf die Welt. Im 20. Jahrhundert ging die diktionnarische Produktion zwar unvermindert weiter, doch war das Ganze der Welt, auch partikularer Welten, unfassbar geworden. Die vielen Weltteile zersetzten die Einheit des Wissens. Das Alphabet der Enzyklopädie, die Fragmente der Information, die Teilchen des Ganzen, zerstörten den Kreis des Wissens, also die Möglichkeit der Enzyklopädie. ...
Für die Erforschung der spätantiken Herrscherideologie hat Andreas Alföldi (1895-1981) Grundlegendes geleistet. Ihm gelang es, bildliche Darstellungen zum Sprechen zu bringen und ihre Bedeutung für die Repräsentation der Kaiser zu verdeutlichen. In dieser Tradition bewegt sich der Tübinger Althistoriker (und zeitweilige Assistent Alföldis) Frank Kolb mit seinem hier anzuzeigenden Buch. Darin führt er die verstreuten, von verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vorangetriebenen Forschungen zur spätantiken Herrscherideologie zusammen, die er durch eigene Beiträge wesentlich beeinflußt hat. ...
Die Erinnerung ist eine seltsame Macht und bildet den Menschen um, schreibt Erich Kästner. Wie sich Menschen und insbesondere der sogenannte "gemeine Mann" in der Vergangenheit an die Vergangenheit erinnerten und wie sie soziale Wirklichkeit und deren Veränderung wahrnahmen, ist Thema eines Sammelbandes von – meist jüngeren – Historikern. Als Dokumente der Wahrnehmungen des "einfachen Mannes" werten sie Zeugenverhörprotokolle aus. Derartige Protokolle liegen für den Bereich nördlich der Alpen erst seit der Frühen Neuzeit in großer Zahl und Ausführlichkeit vor, weswegen alle Beiträge zum deutschen Raum sich diesen Untersuchungszeitraum gewählt haben. Allerdings vernachlässigen die meisten Einzelbeiträge eine konsequente Analyse ihrer Quellenbeispiele anhand rechtshistorischer Kategorien. Anscheinend erinnern sich heutige Historiker nicht daran, wie starke juristische Wurzeln gerade die frühe Geschichtswissenschaft hatte. Nur so lässt sich erklären, warum in vielen Beiträgen staunend empirische Befunde aus Zeugenverhörprotokollen mit teilweise erheblichem, sozialwissenschaftlichem Theorieaufwand "erklärt" werden, statt sie zunächst konsequent an den zeitgenössischen normativen Vorstellungen zu messen. Diese waren von Juristen seit Jahrhunderten in der Doktrin des gelehrten Prozessrechts bis hin zu einfachen Praktikerleitfäden präzisiert worden. Im Untersuchungszeitraum wurden sie zunehmend auch in den verschiedenen Prozessordnungen mit der Sanktion des Gesetzgebers versehen. ...
"Die Jurisprudenz ist eine philologische Wissenschaft", wusste schon Friedrich Carl von Savigny. Die Zeit, in der sich juristische Auslegungslehre und literarische Philologie in enger wechselseitiger Beziehung entwickelten, liegt aber nun schon mehr als hundert Jahre zurück; seither haben sich Sprach- und Rechtswissenschaft so sehr verselbständigt, dass von einer Diskussion zwischen den Disziplinen kaum mehr die Rede sein kann. Der Geschichte der Rechtssprache ist es dabei ergangen wie allen anderen zwischen den Disziplinen liegenden Gegenständen: Weder die Juristen noch die Linguisten haben es gewagt, sie anzufassen. Den Offenbarungseid der Rechtsgeschichte leistet insoweit das Coingsche Handbuch, das der Gesetzessprache gerade einmal neuneinhalb Zeilen widmet und damit nur allzu deutlich macht, dass es sich in der Tat um ein "gänzlich unerforschtes Problem" handelt. ...
Durch diese Studie beabsichtigt Vanda Fiorillo, die deutsche Naturrechtslehre der frühen Neuzeit auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen, um damit ein Modell zu identifizieren, das uns auch dabei helfen kann, unsere Gegenwart, d. h. den historischen Zustand der polyarchischen Demokratien, zu verstehen und zu beherrschen. Das erwünschte allgemeine Prinzip findet die Verfasserin in der Theorie des Pflichtenstaats, die sich dadurch auszeichne, dass sie in der Konstruktion des Gemeinwesens nicht vom Recht des Einzelnen, sondern von dessen Pflichten ausgehe, und so ein besonderes Modell (7), einen "sittlichen und vernunftmäßigen Archetyp in der deutschen Auffassung von der Politik" (8) darstelle. Am eindeutigsten lasse sich die Idee des Pflichtenstaats bei den Autoren der Kant-Zeit rekonstruieren, deren theoretische Voraussetzungen auf Wolff und Pufendorf zurückgingen. Die Idee der Pflicht sei bei allen Autoren des späten 18. Jahrhunderts so grundlegend, dass auch Schriftsteller aus entgegengesetzten Lagern wie der preußische Liberale Johann Adam Bergk und der radikale Demokrat Ernst Ferdinand Klein gleichermaßen berücksichtigt werden können. ...
Wenn in Romanen Gerichte vorkommen, geht es meistens um Prozesse. Bei den populären Varianten halten diabolische Staatsanwälte gnadenlose Plädoyers gegen unschuldige Angeklagte (jung und weiblich), gutaussehende Strafverteidiger (jung und männlich), die immer gerade ihren ersten Fall haben, fallen ihnen heroisch ins Wort und tragen am Ende den Sieg und die Angeklagte davon. Bei den weniger populären gehen die Prozesse oft schlecht aus. Menschen werden verurteilt, ohne dass sie etwas Böses getan hätten, oder Rosshändler enden auf dem Schafott. ...
Kaum auf dem Markt, hatte Simon Coles Buch Suspect Identities schon einigen Wirbel verursacht. Cole, in Harvard in Science and Technology Studies promoviert, beschäftigt sich mit der Geschichte des Fingerabdrucks und anderer Identifizierungsverfahren. Sein Buch schildert die Revolution der Kriminaltechnik ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und endet in der Gegenwart: Auf die Begeisterung für die Polizeifotografie folgen Versuche mit dem Fingerabdruckverfahren (Daktyloskopie) sowie der "anthropometrischen Bertillonage", die eine Person anhand ihrer Knochenlängen und anderer körperlicher Merkmale identifizieren wollte. Aus der Konkurrenz und Koexistenz geht schließlich das Fingerabdruckverfahren ob seiner Einfachheit in der Datenerhebung und -archivierung als eindeutiger Sieger hervor. Mittlerweile wird es zunehmend vom genetischen Fingerabdruck ergänzt, der eine historisch nie dagewesene Zuverlässigkeit bietet, aber als forensisches Beweismittel verblüffend ähnliche Strukturprobleme in sich birgt. ...
Wenige Wochen nach dem vergleichsbedingten Fehltritt der Bundesjustizministerin hat sich der Hessische Ministerpräsident, ein mutmaßlicher "kommender Mann" der deutschen Politik, nicht enthalten und erneut historische Parallelen ins politische Spiel gebracht. In diesem Falle ging es nicht um Bush und Hitler, sondern um laufende Vermögenssteuerdebatten und ein geschmacklos-primitives Outing reicher Leute einerseits und andererseits um die Stigmatisierung jüdischer Menschen durch den sogenannten Judenstern. Erneut wogte die Empörung der intellektuell-medialen Teilöffentlichkeit angesichts des "Unvergleichbaren" hoch – eine Dublette an der Grenze zur Groteske, mit dem für unseren Kontext freilich nicht so wichtigen Unterschied, dass Däubler-Gmelin ging und Koch – wie auch anders – blieb. ...
Die Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich kreisten jahrelang um das Reichskammergericht (RKG). Dass sich das nun zu ändern beginnt, ist aus zwei Gründen ein Verdienst Eva Ortliebs. Zum einen verzeichnet sie in Wien die Akten des zweiten höchsten Reichsgerichts, des Reichshofrats (RHR), zum anderen beleuchtet sie in ihrer Dissertation einen zentralen Tätigkeitsbereich des RHR im 17. Jahrhundert, nämlich das Kommissionswesen. Aus der RKG-Forschung wusste man, dass Kommissionen im Rahmen von Beweiserhebungen eine wichtige Aufgabe im gemeinrechtlichen Zivilprozess erfüllten. ...
Wer an die allmähliche Verbesserung der Menschheit durch den "Fortschritt" glaubt, muss das immer wieder auftauchende Verbrechen für die letzte Bastion des Irrationalen halten. Je mehr man über Kriminalität weiß, desto größer wird die Herausforderung ihrer Beseitigung. Seit der Mitte des fortschrittstrunkenen 19. Jahrhunderts entsteht deshalb nicht nur der Kriminalroman, sondern es bemächtigen sich auch die Naturwissenschaften des Verbrechens und der Verbrecher. Das Rätsel Kriminalität scheint lösbar durch Biologie, Medizin, Eugenik und Psychiatrie. Schädel werden vermessen, man sucht Merkmale für "geborene Verbrecher", streitet um die Merkmale "geistiger Minderwertigkeit" und kombiniert dies mit Kriminalstatistiken und Milieustudien der beginnenden Soziologie. Die Juristen spüren, dass der ganze Sanktionsapparat von Schuld und Vergeltung durch die Aufdeckung determinierender Faktoren ins Wanken kommt. Setzen sie nicht mehr auf die Freiheit, sondern auf den Schutz der Gesellschaft, dann haben sie Schwierigkeiten zu begründen, dass der Schutz irgendwo aufhören muss, da man nicht alle "Minderwertigen" vorsorglich einsperren kann. Also erwägt man (neben anderen Schutzmaßnahmen) deren Sterilisation. Wenn es "geborene Verbrecher" gibt, dann sollte sich doch, so meinte man, wenigstens auf diesem Weg die nächste Generation dieser unerwünschten Variante des Menschseins verhindern lassen. ...