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Punktierkunst
(2005)
Ach, Festschriften. Was soll man zu diesem weiter und weiter vor sich hinwesenden Wesen noch sagen? Unwesen? Nun, es gibt natürlich Ausnahmen von der Sitte, mehr oder weniger lieblos herausgekramte oder lieblos verfasste Schreibversuche von Kollegen, Schülern, Freunden, oder solchen, die sich dafür halten, als Hommage für einen mehr oder weniger alt gewordenen Mann zusammenzudrucken. Eine solche Ausnahme zu sein versprechen Titel, Umfang und Adressat einer 2004 im Heidelberger Synchron Verlag erschienenen, von Rüdiger Campe und Michael Niehaus herausgegebenen Festschrift. Der Titel: "Gesetz. Ironie". Eine feine Symmetrie. Sechs Buchstaben auf der linken, sechs Buchstaben auf der rechten Seite. C’est chic. Und die Worte sind gut, und gut gewählt. Wer wird schon an einem Buch vorbeigehen, das ein solch schönes Wortpaar ziert. Und dann auch noch ein rätselhafter Punkt in der Mitte, der erst recht Neugierde weckt. Der Umfang: Einvierteltausend Seiten, also ein Viertel des Üblichen. Im fettsüchtigen Zeitalter des Quadriple-XLFood ein Leichtgewicht. Der Adressat: Manfred Schneider, 60 Jahre, und in seiner Wissenschaft, dem Nachdenken über Literatur, so etwas wie ein Garant für das Zusammentreffen von Strenge und Ironie, wie die Herausgeber zu Recht hervorheben. Also, drei Gründe, die Festschriftsache etwas näher zu betrachten. ...
Pourquoi Legendre?
(2006)
Das ist noch vornehm formuliert. Kommt man hierzulande auf Pierre Legendre zu sprechen, dann fallen die Kommentare von Verwaltungsrechtlern und Rechtshistorikern, also den Fachkollegen des französischen Gelehrten, drastisch aus. Vornehme Zurückhaltung wird kaum geübt, gefragt wird auch nicht, das Urteil steht fest: eine besonders spinnerte Spielart von French Theory. Man kennt das Verurteilungsspiel, meist sind Franzosen Objekte des Insults: Foucault – ein nihilistischer Phantast; Derrida – der Verderber unserer Jugend; Baudrillard – der Weltauflöser. Natürlich sind dies nicht die Urteile der modebewussten Intellektuellenschickeria, sondern des deutschen Normalprofessors, bei dem allenfalls der eher bodenständige, nachgerade empiristische Bourdieu durchgehen mag. ...
Es ist wirklich nicht zum Lachen: ernsthaft aussehende Männer, bärtig, dunkel. Fundamentalisten nennt man sie, im Westen, und eine fundamentale Anspruchshaltung haben sie in der Tat. Der Mitgründer der Islamischen Heilsfront, der "Großinquisitor" oder auch "algerischer Savonarola" genannte Ali Benhadj, hat es nach seiner Entlassung aus langjähriger Haft in Algier klar gesagt: "Da wir ein muselmanisches Volk sind, kann es bei uns keinen Widerspruch geben wie im Westen. Der Koran ist die höchste Referenz … Die Leute des Buches – die Christen und die Juden – dürfen in der muselmanischen Gesellschaft ihre Religion praktizieren. Aber wir sind gegen diejenigen unter ihnen, die sich unter Ausnutzung der Schwäche der Unwissenden in Kämpfer verwandeln und Muslime konvertieren … Das sind Spione und Geheimagenten" (Interview Le Monde vom 4. April 2006). Widerspruch zwecklos. Ali Benhadj trägt keinen Bart. ...
Dieses Jahr ist ein Jahr des Schreckens. Fast Tag für Tag empört sich die Zeitungswelt in der lautesten Weise über vermüllte Kinder, Gefolterte, mit dem Koran verprügelte Frauen, Begnadigungen der besonderen Art, Geruchsproben von Meinungsäußerern, Schrottimmobilien, Großkapital und Erbschaften, Dopingtäter, Schrottpublikationen. Ein typographisch gedehntes Greinen über die Vielzahl von Schlechtigkeiten der Menschen. Was tun? ...
Bartolus "down under"
(2003)
In einem abgedunkelten Raum der Heidelberger rechtshistorischen Bibliothek am Friedrich-Ebert-Platz findet man separiert die wertvollen Rara-Bestände; darunter auch die letzte Ausgabe der Opera Omnia des Bartolus von Sassoferrato (1314–1357), die in Venedig 1615 für die Bedürfnisse juristischer Praktiker verlegt wurde. Friedlich vereint stehen die Folianten Rücken an Rücken, Regal an Regal, Wand an Wand – so als ob sie seit den Gründungsjahren der Universität im 14. Jahrhundert, mindestens aber seit der Zeit der Druckerpresse und damit ihrer eigenen Herstellungszeit, schon immer so gestanden hätten. Kommunizieren die Bücher etwa heimlich miteinander, wenn niemand sie beobachtet? ...
Alter im Recht
(2006)
"Die Menschen jedoch vor dem fünfundfünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahr in den Ruhestand zu schicken, scheint mir nicht allzu sinnvoll. Ich fände es im öffentlichen Interesse besser, die Dauer unsrer beruflichen Tätigkeit soweit wie nur irgend möglich zu verlängern. Den Fehler macht man meines Erachtens am anderen Ende: indem man uns nicht früh genug tätig werden lässt. … Ich beklage mich hier also nicht deswegen über die Gesetze, weil sie uns zu lange zur Arbeit anhalten, sondern weil sie uns zu lange davon abhalten."
Wer könnte das gesagt haben? Der Satz, der Assoziationen an einen Politiker oder Arbeitsmarktexperten unserer Tage weckt, stammt von Michel de Montaigne. "Über das Alter" lautet der Titel des Essais aus dem Jahr 1580. Der institutionalisierte Lebenslauf, der mit Hilfe von Altersgrenzen, altersspezifischen Normierungen und staatlichen Altersversorgungssystemen das Erwerbsleben zur zentralen Lebensphase macht, wird hier bereits angedeutet. Die im Laufe seiner Etablierung ab 1750 geschaffenen Lebensphasen der Jugend und des Ruhestands werden bei Montaigne dagegen nur ansatzweise als rechtlich schützenswert gedacht. ...
Am Anfang der modernen Lehren vom Staat war Thomas Hobbes. Genauer: sein unbestritten einflussreichstes Werk: der "Leviathan". Einige Historiker, Philosophen und Staatslehrer werden den Moment des Anfangs, wenn es denn auf einen solchen ankommt, anders bestimmen wollen. In der Tat wäre hinsichtlich des Ursprungs der ungebundenen Staatstechnik an Machiavellis "Fürst", geschrieben 1513 und publiziert 1552, zu erinnern. Oder an Jean Bodin als Vater der modernen Souveränitätslehre. Was die Moderne betrifft, so kommen als weitere Schnittstellen, zugleich Bruchstellen mit dem Alten, je nach Perspektive und Präferenz, auch folgende Ereignisse, Bewegungen und Prozesse in Frage: die Entdeckung der Neuen Welt, das Erdbeben von Lissabon, die Glaubensspaltung nebst Westfälischem Frieden, die Kopernikanische Wende, die "Großen Revolutionen", die Philosophie der Aufklärung, auch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks und andere mehr. "Im Anfang liegt nicht nur ein Zauber, sondern auch ein Rätsel." ...
1832 schrieb der Heidelberger Rechtsprofessor Karl Salomo Zachariä im fünften Band seiner Vierzig Bücher vom Staat: "Der Staatsmann, der mit der […] Wirtschaftslehre unbekannt ist, gleicht einem Schiffer, der sich ohne Kompass auf die hohe See wagt." Für den Gießener Staatsrechtslehrer Friedrich Schmitthenner waren ökonomische Kenntnisse "vollends für den Staatsmann unentbehrlich". Als Verfassungshistoriker neigt man dazu, solche oder ähnliche Aussagen im Staatsrecht des Vormärz zu relativieren: Zum einen waren staatsphilosophische Aussagen über Ökonomie und Staatswirtschaft schon lange vor dem 19. Jahrhundert üblich, zum anderen geht es in der Verfassungsgeschichte ohnehin – wie es Dietmar Willoweit3 formuliert hat – um die rechtlichen Regeln und Strukturen, die die politische Ordnung prägen. Staatliche Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaft scheinen für die politische Ordnung dagegen nur eine Nebenrolle zu spielen, zumal das Staatsrecht im Vormärz für die Ausbildung des modernen Rechts- und Verfassungsstaates ohnehin zentrale Bedeutung hatte. ...
Editorial
(2010)
Wohl jeder Jurist kennt Kants Satz, dass die einfache Frage "Was ist Recht?" den "Rechtsgelehrten […] in Verlegenheit" setze. Höchstens "[w]as Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben", schloss Kant an, könne dieser "noch wohl angeben". Selbst das ist, wie wir inzwischen wissen, mindestens sehr optimistisch formuliert: Denn "Rechtens" war eben nicht nur, "was die Gesetze" sagten. Und obwohl vor allem deutsche Gelehrte seit Jahrzehnten beträchtliche intellektuelle Energie auf die Erforschung "des Rechtsbegriffs" verschiedener historischer Situationen verwenden, erscheinen die Grundbegriffe von "Recht" einem geschulten Beobachter immer noch "viel weniger historisch durchgearbeitet als 'Staat'". ...
In der Diskussion des Vortrages, den Martin Pilch am 15. Januar 2010 am Frankfurter Internationalen Max-Planck-Forschungskolleg gehalten hat, konnte ich das Verhältnis von "Dinggenossenschaft und Recht" (Herbst 1979 – Frühjahr 1983, erschienen 1985) zu Gerhart Husserls "Rechtskraft und Rechtsgeltung" (1925) erläutern. Einen konzeptionellen Einfluss sehe ich nicht. Intensiv habe ich mich mit Husserls Verständnis des Urteilserfüllungsgelöbnisses der fränkischen Placita befasst. Wann je diskutierte ein Rechtstheoretiker anhand historisch derart interessanter Quellen? Das Urteilserfüllungsgelöbnis bringt notwendigerweise subjektiv-bilaterale Elemente in die Rechtsbildung ein. Doch ist es kollektiv in die gerichtliche Willensbildung eingebettet. Eine signifikante, prägende "Anknüpfung an Husserls bilaterale Geltungstheorie des Rechts" (Pilch [2009] 343) möchte ich auch deshalb verneinen, weil ich mich ja nur mit den Rechtsgewohnheiten (recht), nicht auch mit Vertrag und Willkür, näher befasste. Allerdings waren einzelne Elemente und Bilder brauchbar. Objektiv wird mein Konzept in erster Linie bestimmt durch rechtshistorische Konsensvorstellungen (z. B. Ekkehard Kaufmann, Konsens, HRG II, 1090–1102), die "Dogmatik" des deutschrechtlichen Urteils (Julius Wilhelm Planck, August Sigismund Schultze, Gerhard Buchda; Weitzel, consilio et iudicio (1980), in: FS Kroeschell 1987, 581 f.) und die mir seit den späten 1970er Jahren durch Uwe Wesel bekannte Oralitätsproblematik. ...