CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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Im akademischen Forschungsbetrieb ist es ein kaum bestrittener Gemeinplatz, dass es im Œuvre Federico Fellinis eine "markante Zäsur" gebe, die man um 1960 ansetzt, je nach diskursiver Strategie kurz vor "Otto e mezzo" (1963) oder auf den Spuren Kracauers vor "La dolce vita" (1960), wobei es in der Regel um einen "Bruch mit dem neorealistischen Mainstream" zugunsten einer eher "traumaffinen Schaffensperiode" gehen soll. Die folgenden Überlegungen wollen zeigen, dass es sich hierbei um eine Einteilung handelt, die eher machtgestützten Klassifikations- und Verwaltungsbedürfnissen entgegenkommt, als dass sie der Sache selbst: dem filmästhetischen Werk Fellinis, gerecht würde. Dabei sollte deutlich werden, dass diesem Werk ein mehr oder weniger unbewusstes mythopoetisches System zugrunde liegt, das die formal und narrativ unbestreitbar verschiedenen Filmwerke zu einem in sich schlüssigen Zusammenhang fügt.
Elisa Linseisen plädiert mit ihrem Beitrag für eine kuratorische Anteilnahme, die die heterogenen filmischen Existenzweisen (vom Distributionstext, zum nicht umgesetzten Drehbuch, zur Erinnerung an den abgebrochenen Dreh) bis in ihr Potenzial sichtbar macht. Als Untersuchungsgegenstand dient ihr der Dokumentarfilm Mariam Ghanis "What We Left Unfinished" (USA/Afghanistan/Qatar 2019), an dem sie exemplarisch zeigt, dass 'unfertige' Filme nicht als "ästhetisch formatierte Bruckstücke" untersucht werden sollten, sondern als "materialisierte Momentaufnahmen eines Produktionsprozesses, der nicht in der Fertigstellung eines als autonom wahrgenommenen Werks resultiert." (Linseisen) Durch diese Perspektivierung von Filmen als prinzipiell vorläufigem, intermedialen Material, das nicht notwendigerweise in einer Endversion fixiert werden muss, macht sie ein "Zuviel des Filmischen" aus, das "alternative medial-affektive Konstellationen des Kuratierens mit sich und dadurch Potenziale jenseits filmhistorischer Dominanzmuster hervorbringt" (Linseisen).
Aus Close Readings von drei Gedichten Rilkes ("Der Ball", "Tanagra" und "Jugend-Bildnis meines Vaters") generiert der Beitrag von Johannes Ungelenk ein Konzept von Figur, dessen 'modus operandi' in mehrfacher Hinsicht das Berühren ist. Begriffliche Resonanzen ergeben sich dabei zum Denken der Figur bei Erich Auerbach, Gilles Deleuze und Walter Benjamin. In metapoetischer Lesart, also übertragen auf das Kunstwerk als 'Figur', wird so auch von den Rezipient*innen eine berührende Näherung eingefordert.
Anatol Heller vermittelt zwischen den Annäherungen von Phänomenologie und Kunst. Sein Aufsatz untersucht die Funktion der Selbstbetastung bei Hofmannsthal und Palágyi und greift hierbei auf Husserls Berührungsszene der Hände zurück. Heller geht es vor allem um die tastende Realitäts- und Selbstversicherung, etwa an der Grenze von Traum und Wirklichkeit. In seiner Lektüre stabilisiert das Tasten jedoch nicht die Hierarchie von 'echter' Realität und bloßem Traum oder Fiktion, sondern zeigt im Gegenteil, wie auch das 'Handfeste' auf Fiktionalität und Inszenierungsstrategien aufbauen muss.
Vera Kaulbarsch findet in zwei Gedichten Rilkes, in "Die Rosenschale" und "Das Rosen-Innere", Berührung nach Novalis' Vorbild, als eine Bewegung der Annäherung und Zuwendung, der Distanz eingeschrieben bleibt. Rilke nähert sich in Kaulbarschs Lesart der Berührung nicht von außen, etwa mit männlichem Blick; die Berührungen vollziehen sich als Berührungen des Rilke'schen Dings mit sich selbst, nicht nur der Blütenblätter, sondern auch als lautliche Selbstberührungen des Kunstdings Gedicht.
Weimarer Beiträge 67/2021
(2021)
Die Weimarer Beiträge sind eine Zeitschrift für Literaturwissenschaft, aktuelle ästhetische Theorie und Kulturwissenschaft. Zu Ihren Schwerpunkten gehören moderne Literatur im Rahmen anderer Künste und Medien, die Wechselbeziehungen von Literatur, philosophischer und ästhetischer Reflexion sowie die kritische Analyse der Gegenwartskultur.
Seit seiner ersten Beschäftigung mit dem Märchen in den 1920er Jahren charakterisiert Benjamin dieses als eine kollektive, populäre und profane Form, die fähig ist, den Mythos aufzulösen. Noch in seinem "Erzähler"-Essay (1936) fasst Benjamin das Märchen als die älteste Erzählform, die immer in der Lage war, Menschen Rat zu geben und sie zu lehren, wie man sich mit "List und Übermut" vom "Alptraum des Mythos" bzw. aus den "Gewalten der mythischen Welt" befreien kann. Dem Märchen gelingt dies, indem es von einer Beziehung zwischen Mensch und Natur ausgeht, die nicht auf Angst und Beherrschung, sondern auf "Komplizität" beruht. Im Licht dieser Begriffskonstellation, die Benjamins historisch-anthropologischem Materialismus eigen ist, möchte der vorliegende Beitrag einige Stücke des Buches "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" (1933–1938) wie "Tiergarten", "Steglitzer Ecke Genthiner", "Das Karussell" neu deuten. Dabei soll gezeigt und begrifflich entfaltet werden, wie Benjamin in der literarischen Aufarbeitung seiner eigenen, von einem bestimmten Ort ihren Ausgang nehmenden Kindheitserinnerungen jenes kritische Potenzial des Märchens mobilisiert und damit eine Zäsur schafft, die die bedrückende Gegenwart der 1930er Jahre unterbricht.
Adalbert Stifters im Jahr 1857 publizierter Roman "Der Nachsommer" ist oft als Bildungs- und Erziehungsroman, als humanistische Bildungsutopie oder als restaurative Sozialutopie gelesen worden. Im Gefolge dieser Gattungszuordnungen wurden vor allem Fragen der Bildung und Ästhetik, der Sozialgeschichte und Politik zu Deutungszugängen des Texts. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, den Roman aus einer ganz anders gerichteten Perspektive wahrzunehmen: in seiner Bezogenheit auf das Thema des Todes und der Endlichkeit. Bereits das Titelwort "Nachsommer" deutet auf Vergänglichkeit hin. Gelesen als Metapher für Lebensphasen verweist es sowohl auf eine erneut intensivierte Vitalität als auch auf den näher rückenden Tod. Die Jahreszeiten Herbst und Winter fungieren traditionell als Todesallegorien. Unter dem Vorzeichen dieser Allegorik entfalten viele der im Roman dargestellten Zeitphänomene auch eine eschatologische Bedeutungsdimension. [...] Eschatologische Aussagen können als Aussagen über ein Endschicksal der Welt, der Menschheit und / oder eines einzelnen Menschen aufgefasst werden. In der Epoche des österreichischen Spätbiedermeier, das heißt in den mentalitätsgeschichtlichen Milieus Stifters und seiner Leserschaft, steht angesichts dieses Aussagekomplexes nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer in der Dogmatik der christlichen Religion und des katholischen Lehramts verankerten Glaubenshoffnung zur Diskussion. Können die Menschen auf ein zukünftiges Leben in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hoffen oder sind entsprechende Hoffnungen skeptisch zu verabschieden? Auch wenn konkrete kirchlich-theologische Positionen zum Themenkreis der 'letzten Dinge' in ihrer Komplexität hier nicht differenziert zu entfalten sind, so können sie dennoch als Bezugspunkt für ein Nachdenken über Stifters Pessimismus dienen. Werden die Glaubensinhalte der christlichen Eschatologie skeptisch verneint, so soll diese Negation als zentraler Aspekt des dem Stifter'schen Werk von Sebald attestierten Pessimismus verstanden werden. Sicherlich handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung um eine Hilfskonstruktion mit vorläufigem Charakter. Zumindest gibt sie aber eine erste Definition und vermeidet ein Sprechen in vagen Polysemen. Wie unscharf und wie wenig aussagekräftig die Termini Optimismus / Pessimismus zur Beschreibung des Romans von 1857 letztendlich sind, wird im weiteren Verlauf des Beitrags zu zeigen sein. Im Anschluss an die Lektüre zweier Textpassagen aus dem "Nachsommer" möchte ich hierzu den Blick auf ideengeschichtliche Kontexte des Romans richten. Dabei soll vor allem auf zwei Texte ausführlicher eingegangen werden: auf Bernard Bolzanos "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" und Johann Gottfried Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".
Wenn augenblicklich Kunst, so die These, vom ehemals hehren Podest im Idealfall origineller, zumindest aber per Gesetz unter der Vorstellung der Urheberschaft verankerter und daher sakrosankter individueller Eigenleistung zum jederzeit und von jedermann bearbeitbaren Allgemeingut wird, passiert etwas, was es so wohl noch nicht gab, und auf das wiederum Kunst selbst reagiert oder nämlich allein schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu reagieren hat. Kunst ist, wenn man so will, gleichsam demokratisiertes Allgemeingut, wird also nicht mehr als autark vorliegendes Artefakt erkannt, welches kompromisslos für sich steht und notwendigerweise, um Kunst zu sein, für sich stehen muss. Daran gekoppelt ist eine neue Selbstverständlichkeit, mit welcher gewisse, noch zu diskutierende Ansprüche an kulturelle Erzeugnisse gestellt, gar rigoros gefordert und diese Forderungen zudem von Seiten des vormals schweigenden Publikums selbst durchgesetzt werden. Beides, die Aktionen des vordem nur rezipierenden Publikums und jetzigen (Teil-)Akteurs einerseits, die Reaktion der Kunstschaffenden andererseits, wird an dieser Stelle nachvollzogen, analysiert und eingeordnet.
Ausgehend von David Wellberys Befund, dass wir es im Bereich der Literatur seit der Transformation des Formenverständnisses ab 1800 mit einem endogenen Formenbegriff zu tun haben, möchte ich den Effekten nachspüren, die die Integration des Kraft-Begriffs in den des Lebens im Bereich der Literatur hat. Denn insofern sich ab 1800 davon sprechen lässt, dass die Formen der Literatur - insbesondere die des Romans - eine Theorie von Formung allgemein und damit eine Theorie von Leben im Besonderen verhandelt, gehe ich davon aus, dass mit der Erweiterung des Lebensbegriffs um den der Kraft, der auch in der Literatur statthat, eine Erweiterung des endogenen zu einem emergenten Formenverständnisses in Betracht gezogen werden muss. Und zwar deshalb, weil Literatur im Gegensatz zur Physiologie Formungsprozesse darstellen und reflektieren kann. Kurzum: Weil die Literatur Kraft in ihr Leben aufnimmt und in das Leben zurückgibt, erweitert sich auch der Funktionsumfang ihrer Formen, sie werden emergent. Ausgemacht wurde diese Funktion indes nicht erst in der Literatur, auch wenn sie erst dort zur Anschauung kommen kann - und genau deshalb zur Lebenskraft des Lebens werden konnte.