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Die Überfahrt von der Insel Scyros nach Troja stellt für Achills Leben eine Zäsur dar: Nachdem er vom Zentauren Chiron in Thessalien erzogen wurde und danach auf Scyros, in Mädchenkleider gehüllt, mit Deidamia seine erste Liebe erlebt hat, wird er nun von Ulixes und Diomedes an den Ort seiner Bestimmung gebracht. […] Diomedes und Ulixes befragen Achilles über seinen Werdegang, und seine Antwort offenbart schon den ganzen Unterschied zwischen Konrads von Würzburg Darstellung innerhalb seines ›Trojanerkriegs‹ (zwischen 1281 und 1287) und seiner Vorlage, der ›Achilleis‹ des Statius (1. Jh. n. Chr.). In der römischen Version nämlich schildert Achilles ausführlich seine harte Erziehung durch Chiron […]. Die Zeit bei Deidamia wirkt […] wie ein peinlicher Irrweg […]. Konrads Achilles hingegen erzählt zwar ebenfalls von der Zentauren-Ausbildung, dann aber auch "von den minnen,/die Dêîdamîe und er / mit innecliches herzen ger / getragen heten lange stunt." […] Er bezieht die Liebesgeschichte ausdrücklich in seinen Werdegang ein und bekennt sich damit zu ihr. Dieser Werdegang besteht also aus zwei Teilen, aus einem doppelten Erziehungsweg. […] Dies […] bedeutet eine ungeheure Aufwertung der Liebesgeschichte in der mittelalterlichen Version. Doch was macht den ‘erzieherischen’ Wert der Liebe aus? Inwiefern stellt die Deidamia-Episode nicht mehr nur einen besser zu verschweigenden (wenn auch erzählerisch um so reizvolleren) Irrweg dar in Achills Entwicklung zum größten Kämpfer vor Troja, sondern sogar eine – womöglich unentbehrliche – Entwicklungsstufe von eigenem Recht? Im Folgenden soll Konrads Bearbeitung der Episode im Vordergrund stehen, aber immer wieder auf Statius als kontrastierenden Hintergrund zurückbezogen werden.
“Et cur, ô mea mater Germania, hunc Genium tuae Musae non etiam porrò continuâsti?“ Diese Klage über die fehlende Kontinuität hochrangiger deutscher Dichtung des Mittelalters stammt aus der Feder des Altphilologen Friedrich Taubmann, und sie steht im Kommentar seiner Ausgabe von Vergils ›Culex‹ aus dem Jahre 1618. Es waren nicht Hartmann, Wolfram oder Gottfried, die dem Wittenberger Professor für Poesie und Altphilologie die Möglichkeiten deutscher Sprache und Dichtung so schmerzlich bewusst werden ließen, nein, es waren die ›Winsbeckischen Gedichte‹, die der befreundete Rechtshistoriker und Diplomat Melchior Goldast 1604 in seine Ausgabe paränetischer Texte des deutschen Mittelalters aufgenommen hatte, strophische Lehrgespräche zwischen Vater und Sohn resp. Mutter und Tochter. Goldasts Vorliebe für die Paraeneses ad Filios und Taubmanns „superlativisches Lob auf den Rang der Winsbeckischen Gedichte“ leiteten eine Hochschätzung dieser Texte ein, die bis ins spätere 18. Jahrhundert ungebrochen blieb und selbst bei Anhängern unterschiedlicher, sich ansonsten befehdender ‘Schulen’ zu finden war. Für Johann Jakob Bodmer etwa repräsentierten die ›Winsbeckischen Gedichte‹ „das ächteste, das wir aus dem Schwäbischen Weltalter haben“. Er begeisterte sich insbesondere für „Weinsbecks Frau“ – sie avancierte in seiner Literaturgeschichte von 1743 zur zentralen Lichtgestalt staufischer Literatur. Seine Bewunderung galt der Minneethik des Gedichts und auch der Darbietungsweise, „[m]it zärtlichem Affect, worinn der Geist noch glimmet“. Bis um 1800 hielt die Hochschätzung der ›Winsbeckischen Gedichte‹ an, von da an ist eine nachlassende Begeisterung und endlich auch ein nachlassendes Interesse für diese Texte zu verzeichnen, das schließlich in Verständnislosigkeit und Geringschätzung mündete.
Durch die Ästhetisierung und Regulierung der Gewalt im ritterlichen Kampf und insbesondere in seiner literarischen Darstellung spaltet sich der mehrdeutige deutsche Begriff ‘Gewalt’ in zwei seiner lateinischen Entsprechungen: Wofern die Regeln eingehalten werden, ist sie ‘vis’, wofern aber gegen die Regulierung verstoßen wird, ist sie ‘violentia’; Johannes Rothe nennt sie dann im ›Ritterspiegel‹ ‘bose gewalt’ (V. 2677). Nicht vergessen werden darf aber die dritte Komponente der Gewalt, die ebenfalls in diesem schillernden deutschen Wort enthalten ist: ‘potestas’, die auf ‘vis’ aufbaut. Die ‘êre’, die ein Ritter im Kampf erringt, ist mehr als nur ein guter Ruf, sie ist eine gesellschaftliche Anerkennung, die auch Elemente der Macht in sich trägt. Die ‘potestas’ aber des Herrschers stärkt sich, indem sie einige Formen der ‘vis’ anderer zur ‘violentia’ erklärt. Ein herausragendes Beispiel hierfür sind die Landfriedengebote, die insbesondere unter dem Stauferkaiser Friedrich I. häufig ausgesprochen und als Herrschaftsinstrument verwendet wurden. Durch sie sollte die Möglichkeit eines individuellen gewaltsamen Konfliktaustrags in der Fehde unterbunden werden, indem sich beide Parteien der richterlichen Gewalt, der ‘potestas’ des Herrschers, unterwerfen und es dem Richter überlassen wird, mit Gewalt denjenigen, der gegen Regeln des Zusammenlebens verstoßen hat, zu bestrafen. Die ‘peinlichen’, also ernsten körperlichen Strafen, die die hoheitliche Gerichtsbarkeit verhängen kann, sind Ausdruck dieser rechtlich kanalisierten, aber keineswegs abgeschafften Gewalt, auf der die Ordnung beruht.
Waldweib, Wirnt und Wigalois : Die Inklusion von Didaxe und Fiktion im parataktischen Erzählen
(2009)
Die ‘Tugend’ des Erzählers besteht in seiner spezifischen Kunst des Erzählens. Was jedoch die Kunst des Erzählens als ‘Kunst’ ausmacht, ist in mittelalterlicher volkssprachiger Literatur schwer zu fassen. So könnte bereits der Begriff der ‘Kunst’ in die Irre führen, insofern er die pragmatischen Interessen der Unterhaltung oder der Belehrung von anachronistischen Literarizitätskriterien her zurückdrängt. Im Spannungsfeld dieser Überlegungen gehört es zur lange bekannten Crux mittelalterlicher volkssprachiger Literatur, dass eine Dichtungslehre, eine Poetik nicht existiert. Versuche, diese implizit zu erstellen, gibt es gleichwohl. […] Wie schwierig es jedoch nach wie vor ist, poetologische Richtlinien verbindlich vorzustellen, die nicht mit der argumentativen ‘Schwundstufe’ Didaxe o d e r Fiktion – Fiktion verstanden als Sinnvermittlung über ein frei durchkomponiertes Material – argumentieren, zeigt sich letztlich auch daran, dass im Bereich der Lyrik erst jetzt dezidierte Versuche auf breiterer Basis unternommen werden, über die Frage nach Gattungsinterferenzen die Möglichkeit einer impliziten Poetik abzutasten, die Sangspruch und Minnelyrik erfasst, dass die Versuche im Bereich der narrativen Kleinformen zu einer in hohem Maß disparaten Diskussion geführt haben und dass auch im Geltungsbereich des volkssprachigen Romans nicht nur das Ausmaß der Anleihen bei der antiken und mittellateinischen Poetiktradition nach wie vor umstritten ist, sondern auch die implizit entwickelten Ansätze, wie sie Haug vorgestellt hat, historisch stärker zu differenzieren wären. Unter dem Stichwort der ‘Historischen Narratologie’ sind hier weiterführende Arbeiten zu erwarten. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Beitrag in dieser Richtung.
Der Schluss vom Bekannten auf das weniger Bekannte ist ein zentrales Grundprinzip der Didaxe. Ein mittelalterlicher Texttyp, der dieses Prinzip nicht nur beherzigt, sondern es durch seine Bauform regelrecht ausstellt, ist das spätestens seit 1230 literaturfähig gewordene Reimpaarbîspel, das zwei unterschiedliche Bereiche oder Sphären so aufeinander bezieht, dass der erste Teil des Textes, die eigentliche Beispielerzählung, ein allgemein akzeptiertes Modell einführt, das dann im zweiten Teil, in der Auslegung, auf eine andere Lebenssphäre übertragen wird, um mit diesem Akt der Analogisierung das zu Erklärende im Rückgriff auf bereits Etabliertes zu verdeutlichen. […] Hinzu kommt, dass gerade Texte dieser Art interessante Rückschlüsse auf die Etablierung, Durchsetzung und Veränderung von Diskursen ermöglichen, zeigt doch schon die Zweiteiligkeit der Bauform, die eine Redeordnung A mit einer Redeordnung B vergleicht, auf das deutlichste an, dass diese Texte gewissermaßen auf der Schwelle zwischen zwei argumentativen Kontexten angesiedelt sind, wobei das im ersten Teil Präsentierte stets als das bereits Eingeführte, Abgesicherte, Evidente erscheint, während das im zweiten Teil Vorgeführte immer als das relativ gesehen Neue wahrgenommen wird, das in seiner Geltung und in seiner Evidenz vom vorher Entwickelten abhängt.
Didaktischer Pluralismus und Poetik der Lehrdichtung : Zum ›Ritterspiegel‹ des Johannes Rothe
(2009)
Der Begriff ‘Pluralismus’, der eine Koexistenz von verschiedenartigen Denk- und Lebensformen bezeichnet und in seinen jeweiligen Kontexten spezifiziert werden muss, scheint spontan auf mittelalterliche Verhältnisse nur schlecht anwendbar. Gerade auf dem Feld der Ethik denkt man hier zuerst an das verbindliche Weltbild, an Regelungen, die unter dem Dach der christlichen Religion ihren Platz haben mit theologisch-systematischer Aufarbeitung und bei abweichendem Verhalten mit Sanktionen verbunden sind. Aber nicht nur die historische Realität ist vielfältiger und komplexer, auch die ethische Reflexion, die uns im literarischen Medium mittelalterlicher Lehrdichtung entgegentritt, bietet ein ganz anderes Bild. Das Scheitern der systematischen Aufrisse, das Nebeneinander von Konzepten, unvermittelte Gegensätze und Widersprüche, Systemlosigkeit als Prinzip, Brüchigkeit, Dissoziation und Klitterung sind gerade Grundzüge mittelalterlicher didaktischer Literatur und Merkmal ihrer Poetik. Ich rolle das Problem am ›Ritterspiegel‹ des Johannes Rothe auf und schließe einige grundsätzliche Überlegungen zur Poetik des Didaktischen an.
Wie arbeitet ein spätmittelalterlicher Verfasser didaktischer Texte, wenn er sein Material zusammenstellt? Orientiert er sich an Florilegien, die ihm einen Fundus an Autoritätenzitaten zur Verfügung stellen, welchen er dann nach Bedarf verwenden kann? Benutzt er so etwas wie einen Zettelkasten, in dem er sich einzelne Dicta und Sentenzen zusammenstellt, und die er immer wieder neu sortiert? Oder arbeitet er vielleicht doch in einer Bibliothek mit Texten, die ihm nicht nur Zitate, sondern auch Kontexte für seine eigene Umsetzung des Materials liefern und es ihm erst ermöglichen, kompetent auf die Inhalte der vorhandenen Texte zurückzugreifen? […] In der Vorbereitung zur Neuedition des ›Ritterspiegels‹ sind wir den Autoritätenzitaten nachgegangen. Nicht immer ließ sich zu dem jeweils genannten Autor eine passende Vorlage zu finden, insbesondere die Identifikation von Zitaten der Kirchenväter (Gregorius, Augustinus, Cassiodorus, Hieronymus) machte größere Schwierigkeiten. Mitunter kommen mehrere mögliche Quellen in Betracht. Aussagen etwa, für die Rothe Aristoteles oder Seneca als Autorität angibt, könnte er aus Zusammenstellungen wie den ›Auctoritates‹ exzerpiert haben. Angesichts der Übereinstimmung zwischen den Sentenzen und Dicta in den Exzerpten und den umfassenderen Originaltexten ist jedoch aus dem Einzelzitat in der Regel nicht entscheidbar, ob das Florilegium oder das Original zitiert wurde. Umso aufschlussreicher sind solche Quellenfunde, die signifikante Besonderheiten aufweisen. Eine derartige Quelle ist mir auf der Suche nach Vorlagen für die Memento-Mori-Teile und die Ubi-sunt-Topik in prägnanter Weise aufgefallen und soll im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen. Sie spricht meiner Ansicht nach deutlich gegen die Florilegienthese, zumindest relativiert sie diese.
Um die Wende zum 14. Jahrhundert verfasste der Genueser Dominikaner Jacobus de Cessolis mit dem ›Liber de moribus hominum et officiis nobilium sive de ludo scaccorum‹ einen moraldidaktischen Traktat, der als Schachbuch bezeichnet wird, da er nach der Anordnung der Spielfiguren auf einem Schachbrett gegliedert ist. Bereits auf 1337 datiert die mittelhochdeutsche Versfassung von Konrad von Ammenhausen, deren Verse 19233–19336 das Akrostichon 'Dis bůch tiht ich Cůnrat von Ammenhusen, in der stat ze Stein, da ich münich unde lütpriester wuas. ich kunde es niht getihten bas' bilden. Ferdinand Vetter, der Herausgeber beider Texte, merkt dazu an: „Der Verfasser schliesst, wie er begonnen, mit dem Bekenntnis seiner Schwäche, mit der Bitte um Entschuldigung. Sie sei ihm gewährt!“ Ästhetisch konnte Konrad seine Kritiker nicht befriedigen; neben den „ganz besonders holperig“ gebildeten Versen, der „Kunstlosigkeit“ und der „hausbacken[en]“ Sprache ist es vor allem „notorische Weitschweifigkeit“ , die ihm zum Vorwurf gemacht wird. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass sich wesentliche Charakteristika der sprachlichen und strukturellen Gestaltung der mittelhochdeutschen Versfassung besser beschreiben und erklären lassen, wenn man die mediale Situation, in der die in der Dichtung enthaltene Lehre vermittelt wird, und das Publikum, für das sie gedacht ist, berücksichtigt. Dazu greife ich auf Überlegungen zurück, die von den romanistischen Linguisten Peter Koch, Wulf Oesterreicher und Brigitte Schlieben-Lange angestellt worden sind.
Gottfried von Straßburg gilt als gebildeter Autor, als Kleriker und meister, der in den septem artes, vielleicht auch darüber hinaus bewandert ist und sorgfältig eine Art intellektuellen Habitus als sein Markenzeichen kultiviert. Diese Signatur der Gelehrsamkeit manifestiert sich auch in der Gestaltung seines Protagonisten Tristan, denn statt der konventionellen adligen Ausbildung, in der man an einem fremden Hof durch konkrete Anschauung lernt, verfolgt Tristan ein intensives Bücherstudium, das schon bald Wirkung zeigt: […] [S]o wird das schickliche und anmutige Verhalten, das bei Gottfried mit der mittelhochdeutschen Formulierung die 'schoenen site' fast immer im Plural begegnet, zu einem Beschreibungskriterium, das der Erzähler ebenso wie die übrigen Figuren wiederholt auf den jungen Tristan anwendet: In der Begegnung mit den Kaufleuten und den Pilgern, am Markehof und bei der Schwertleite finden sich die 'schoenen site' als konstante Fügung und werden zum Signum des Protagonisten. Seine Sympathie stiftende höfische Exzellenz ist es auch, die den Spielmann Tantris als Lehrer für die junge Isolde qualifiziert. Im Folgenden soll ein zentraler Lehrinhalt dieses Unterrichts, nämlich die 'moraliteit', in ihrer Bedeutung als gesellige Erziehungslehre untersucht werden, bevor dann Konzeptionen einer ethischen Vermittlung durch Romanlektüre, wie sie der Prolog avisiert, zu thematisieren sind.