Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
Refine
Year of publication
- 2013 (112) (remove)
Document Type
- Part of a Book (96)
- Book (8)
- Article (6)
- Part of Periodical (1)
- Review (1)
Language
- German (112)
Has Fulltext
- yes (112)
Keywords
- Benjamin, Walter (29)
- Begriffsgeschichte <Fach> (11)
- Bildnis (11)
- Gesicht <Motiv> (11)
- Prophetie (11)
- Ausdruck (8)
- Kulturwissenschaften (7)
- Berliner Kindheit um neunzehnhundert (6)
- Musik (6)
- Begriff (5)
Pseudomorphose
(2013)
Der Sprachgebrauch verleitet dazu, Pseudomorphosen als bloß täuschenden Anschein jenes Gestaltwandels zu verstehen, der sich in (echten) Metamorphosen vollzieht. Dort tut sich tatsächlich etwas, aber die Pseudomorphose tut nur so, als ob. Allerdings zeigt schon die echte Metamorphose, der das Christentum nach Blumenberg den Garaus macht, auch beim alten Heiden Goethe noch oder schon pseudomorphotische Züge. Wenn alles Blatt ist, darf man legitimerweise fragen, ob da überhaupt etwas metamorphorisiert. Als Metapher geht die Pseudomorphose auf Oswald Spengler zurück, der sie der für historische Sedimentierungs- und Verwerfungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert so ertragreichen Mineralogie entlehnt hat.
Mit der Frage nach der Grundordnung gehen die Untersuchungen dieses Bandes hinter bzw. vor die juristische Semantik des Verfassungsbegriffs zurück. Denn dieser ist, wie andere moderne Fachtermini auch, das Ergebnis einer Verengung. Die 'Verfassung', zunächst ein 'Erfahrungsbegriff', "der den politischen Zustand eines Staates umfassend wiedergibt", habe sich zum Begriff für den "rechtlich geprägten Zustand eines Staates" verengt und falle "nach dem Übergang zum modernen Konstitutionalismus mit Gesetz in eins", währenddessen der Begriff des Gesetzes nun "die Einrichtung und Ausrichtung der staatlichen Herrschaft regelt" und "damit selbst vom deskriptiven zum präskriptiven Begriff" wird, so Dieter Grimm, der die genannte Verengung damit erklärt, dass der Begriff der 'Verfassung' seine "nichtjuristischen Bestandteile zunehmend" abgestoßen habe. Diese nichtjuristischen Bestandteile aber sind Grundlage und Voraussetzung des Grundgesetzes, das sich eine Gemeinschaft gibt, um sich als politisch-rechtliches Gebilde zu konstituieren. Sie betreffen das Selbstverständnis eines politischen Gemeinwesens, ob Land, Staat oder Föderation, das tiefer und weiter zurück reicht als das Gesetz.
[...]
Damit rühren die nichtjuristischen Bestandteile des Verfassungskonzepts an Erfahrungen, Überzeugungen und Prinzipien, nach denen ein Gemeinwesen gebildet wird. Deren normative Kraft wird dadurch verfestigt, dass ihnen Verfassungsstatus verliehen wird – vorausgesetzt man könne einem Gemeinwesen einen einheitlichen Willen, einen volonté generale, unterstellen. Da das in der historischen Realität seltener der Fall ist, kommen in der Formulierung der grundlegenden Prinzipien einer Verfassung auf je unterschiedliche Weise religiöse, ethnische, geographische, sprachlich-kulturelle oder auch sittliche Aspekte zum Zuge, von denen dann zumeist einer als prioritär bewertet und deshalb allen anderen vorangestellt wird: als übergeordneter Gesichtspunkt. Wenn etwa die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz als "freiheitlich demokratische Grundordnung" definiert ist, dann sind darin leitende Prinzipien formuliert, die sich in diesem Fall auf vorausgegangene historische Erfahrungen gründen, konkret auf die Lehren, die aus Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg gezogen wurden. Das gilt ähnlich für die Europäische Union, die ihr Selbstverständnis als "wirtschaftliche und politische Partnerschaft zwischen 27 europäischen Staaten" auf die Erfahrungen der Kriege des 20. Jahrhunderts zurückführt.
Die Beiträge dieses Heftes sind unter dem Titel 'Pathologie und Moderne' versammelt. Dabei zeichnen die meisten Autoren des Heftes nicht nur historische Übertragungen des medizinischen Krankheitsbegriffs in verschiedene gesellschaftlich-kulturelle Felder nach, sondern verdeutlichen zugleich auch, dass solche Begriffsverwendungen zunehmend reflektierter und kritischer erfolgen.
Die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen Neurasthenie und Burnout dürfen den wissenschaftlichen Blick jedoch nicht dazu verleiten, vorschnell von einer substantiellen Identität auszugehen. Es ist keineswegs gleichgültig, unter welchem Namen ein Leiden amtiert. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Etablierung eines neuen Begriffs ein Ereignis ist, das genauer in den Blick genommen zu werden verdient, weil es auf eine veränderte Problemlage hinweist. Die Frage lautet also, wie genau sich das Verhältnis zwischen Neurasthenie und Burnout darstellt, was diese beiden Begriffe trennt und verbindet, welche semantischen Bedeutungsebenen sich in ihnen jeweils abgelagert haben und welche Rückschlüsse sich aus der Untersuchung dieser Bedeutungsschichten für das Verständnis unserer Gegenwart möglicherweise ziehen lassen. Der erste Schritt einer solchen Fragestellung muss immer darin bestehen, die Phänomene gegeneinander zu legen und sie auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu untersuchen, um auf dieser Grundlage eine schärfere Kontur ihrer Besonderheiten zu erlangen - was im Folgenden geschehen soll.
Das Thema der Entstehung der modernen Welt steht im Zentrum des Interesses Reinhart Kosellecks, sowohl in Bezug auf die historische Semantik der politischen Begriffe, als auch bezüglich der sozialen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen. Kosellecks Begriffsgeschichte geht es darum, den "Umwandlungsprozess zur Moderne" zu zeigen, wie er sich in der Verwendung der politischen Sprache ereignet. Mit der Theorie historischer Zeiten entwickelt Koselleck eine eigene Theorie der Entstehung der Neuzeit, die die Absicht hat, die spezifischen und charakteristischen Merkmale der modernen Welt und ihrer Zeitlichkeit durch die Darstellung der Beziehung zwischen den Erfahrungsräumen und den Erwartungen zu beschreiben. In seiner Doktorarbeit hat Koselleck die Diagnose über den Beginn der modernen Welt auf die Beziehung zwischen aufklärerischer Kritik und politischer Krise zurückgeführt; 1959 wurde die Doktorarbeit verbessert und veröffentlicht. Nun wird die Genese der modernen Welt zur "Pathogenese der bürgerlichen Welt", also vor allem im Sinne einer Krankheit verstanden: die Krise der Moderne entspricht also einer Pathologie. Der Horizont des strukturellen Verhältnisses zwischen der Neuzeit und der Krise bleibt auch in den folgenden Schriften das Thema Kosellecks, wenn er sich mit der historischen Zeitlichkeit beschäftigt. Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, diese Beziehung zu rekonstruieren, und zwar darzustellen, wie Koselleck den auf den semantischen Raum der Krankheit und der Pathologie verweisenden Krisenbegriff als diagnostische und prognostische Kategorie verwendet, um die spezifische Natur der historischen Wandlung zur modernen Welt festzulegen.
Stephan Günzel, dem Herausgeber des hier anzuzeigenden 'Lexikons der Raumphilosophie', verdankt die kulturwissenschaftliche Forschung zu Begriff und Metapher des Raumes eine Reihe bedeutsamer Publikationen. Den Auftakt bildete der zusammen mit Jörg Dünne herausgegebene Band 'Raumtheorie' aus dem Jahre 2006, eine klug und umsichtig eingeleitete Auswahl gleichsam kanonischer Texte zu Raum und Räumlichkeit. Diesem Reader trat drei Jahre später ein 'Raumwissenschaften' überschriebener, nunmehr von Günzel alleine verantworteter Band zur Seite, der eine stattliche Anzahl von Einzelbeiträgen verschiedener Autoren unterschiedlichster Disziplinen zusammenbrachte. Der Sammelband gab Einblick in den damaligen Stand kulturwissenschaftlicher Arbeit am Raum; vor allem machte er deutlich, welch hohe Relevanz die Diskussion um Begriff und Metapher des Raumes für die einzelnen Disziplinen und deren aktuelle Forschungsarbeit beanspruchen kann. Auf die Dokumentation der Quellen und den Maßstäbe setzenden Sammelband folgt nun also ein Wörterbuch - zusammen mit den beiden Vorgängerveröffentlichungen bildet das jüngst erschienene 'Lexikon' eine Trilogie des 'spatial turn' im Bereich der deutschsprachigen Forschung.
Zieht man die vergeblichen Versuche der Mediziner und Philosophen in Betracht, eine sowohl praktikable, theoretisch konsistente und ethisch vertretbare Definition von Krankheit zu erarbeiten, wird die Differenz von Krankheitsbegriff und -metapher insgesamt problematisch. Der aktuell gebräuchliche, systemtheoretische Krankheitsbegriff bezieht sich beispielsweise gar nicht mehr auf Lebewesen, sondern auf die Kopplung bio-psycho-sozialer Systeme. Die Bindestriche in diesem Begriff übernehmen gewissermaßen die Funktion der Metapher: den Sprung über Kategoriengrenzen. Wenn Metaphern in den Wissenschaften grundsätzlich keinen guten Ruf genießen, gilt dies insbesondere für Krankheitsmetaphern. Zuletzt ist ihre Bedeutung für die pseudo-medizinische Legitimation und Durchführung des Holocaust umfangreich erforscht worden. Mit dem Paradigmenwechsel von der Hygiene zur Bakteriologie wurden Krankheiten demnach nicht mehr auf äußere Umstände, sondern auf labortechnisch identifizierbare Kontagien zurückgeführt. Diese medizinische 'Visualisierung des Feindes', welche Robert Koch durch die Markierung von Gewebeschnitten mit Annelinfarbe entscheidend voranbrachte, bot zusammen mit der monokausalen und ontologisierenden Erklärung von Krankheiten große metaphorische Anschlussflächen für die (bio-)politischen Diskurse, die sich seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr mit der Sicherung und Steigerung des Lebens beschäftigten.
"Nichts ist variabler als die Bedeutung des Wortes Variabilität", meint Hugo de Vries 1901; und kaum etwas so mutabel wie die des Wortes 'Mutation'. Aber was heißt das schon? Weil wir, so Ludwik Fleck, "fortwährend Zeugen sind, wie 'Mutationen' des Denkstils eintreten"? Fleck führt 1935 die Mutationen ein, als er beschreibt, wie aus "Urideen" moderne Begrifflichkeit entsteht, indem etwa "[m]it einem Mal [...] unklar [wurde], was Art, was Individuum sein soll [...]." Sein wissensgeschichtlicher Bezug auf den seinerzeit bereits biologisch ausgewiesenen Begriff konzediert jedoch selbst einen Denkstil, demnach Erkenntnisse der Wissenschaften vom Leben, namentlich der Mutationstheorie, dazu taugen, kulturelle Entwicklungen zu kennzeichnen. Damit steht er freilich seinerzeit nicht allein. Soziologen, Historiker, Anthropologen, Literaturwissenschaftler und eben auch historische Epistemologen hatten sich dem Begriff der Mutation bereits massiv zugewandt. Maßgeblich nach Hugo de Vries' 'Die Mutationstheorie' (1901/1903) kehren plötzliche Wandlungen in der Konzeption von längeren Entwicklungsverläufen vermehrt in die Natur- und Geisteswissenschaften ein und stellen die Kontinuität von Arten, Ideen, Begriffen zur Disposition. Doch besieht man die Machart des Begriffs in diesem für die Mutationsforschung konstitutiven Buch, so zeigen sich statt einer sprunghaften begrifflichen Neubildung tatsächlich imposante historische Allianzen und intentionale, performative Umwertungen, die eben nicht jählings auf kollektiver Ebene, sondern auch durch einzelne Begriffsautoren einigermaßen aufwändig in einen 'neuen' Begriff überführt werden.
Die Rede vom Parasiten mit vorrangig pejorativer Bedeutung ist semantisch relativ stabil und kann auf den botanischen Fachterminus 'Parasit' bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Allerdings muss eine vollständige Geschichte des Parasiten, die allerdings hier nicht geleistet werden kann, sondern sich auf kursorische Hinweise beschränken muss, bis in die Antike zurückgehen und ist dabei deutlich ambivalenter, als es zunächst scheint. Vor allem bleibt eine Begriffsgeschichte des 'Parasiten' unvollständig, wenn sie neben dem biologischen Konzept nicht auch die mit ihm verknüpften Diskurse reflektiert, die die Figur in andere Zusammenhänge und Bewertungskontexte stellen - vor allem die der menschlichen Gesellschaft. Der Parasit als Begriff besitzt prinzipiell unscharfe Grenzen, da der Parasit immer schon ein Agent der Zwischenräume gewesen ist.
Anführungszeichen als Symptom : zum historischen Bedeutungs- und Funktionswandel einer Zeichenform
(2013)
In diesem Beitrag möchte ich mich mit einer Zeichenform befassen, die auf den ersten Blick unscheinbar und trivial zu sein scheint: den Anführungszeichen, die man salopp auch Gänsefüßchen oder Hasenöhrchen nennt. Für die Historische Semantik und Begriffsgeschichte ist die Bedeutung dieser Zeichen längst erkannt. Wie Martin Wengeler im Anschluss an Ludwig Jäger und Dietrich Busse herausgestellt hat, handelt es sich bei der Verwendung von Anführungszeichen um eine sprachreflexive Äußerung, der insbesondere für die Analyse des politischen Sprachgebrauchs eine Anzeigerfunktion zukommt - wird doch an ihnen eine bewusste Distanzierung von bestimmten Sprachgebräuchen und Wortverwendungsweisen greifbar. Nach Wengeler lösen explizite Wortthematisierungen zumindest ansatzweise das Problem des Auffindens von Belegstellen, die das Auftauchen neuer oder den Plausibilitätsverlust älterer Bedeutungen anzeigen. Mit ihrer Analyse werden Schwellen vom okkasionellen zum usuellen Wortgebrauch sichtbar und die Erfassung des Auftretens semantischer Innovationen stärker objektivierbar. Besonders in den sprachgeschichtlichen Forschungen der Düsseldorfer Schule ist deshalb das Aufsuchen von in Form von Anführungszeichen explizit gemachten Sprachthematisierungen zu einer "zentralen 'Findungsmethode'" gemacht worden. So weit ich sehe ist diese Methode punktuell in Bezug auf die Verwendung einzelner Wörter in Anschlag gebracht worden, was sich mit dem besonderen Interesse am politischen Sprachgebrauch und insbesondere am Einsatz 'brisanter Wörter' begründen lässt. Im Unterschied dazu geht es mir im vorliegenden Beitrag nicht primär um die Analyse einzelner Verwendungen, sondern - auf einer verallgemeinernden Ebene - um die Herausarbeitung eines grundlegenden historischen Bedeutungs- und Funktionswandels des Einsatzes dieser Zeichenform. Im ersten Teil gehe ich kurz auf deren (Vor-)Geschichte ein, um mich dann im zweiten Teil zwei Feldern zuzuwenden, in denen diese Zeichen nicht nur häufig, sondern, worauf es mir ankommt, in einem epistemisch neuen Sinne eingesetzt worden sind, nämlich im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den Folgen der Shoah und der Entwicklung der Atomwaffen. Ausblickhaft möchte ich dann noch die Frage aufwerfen, was es mit der zu beobachtenden Generalisierung der neuen Funktionen der Anführungszeichen auf sich haben könnte.