Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
Refine
Year of publication
- 2016 (110) (remove)
Document Type
- Part of a Book (77)
- Article (17)
- Book (8)
- Part of Periodical (7)
- Review (1)
Has Fulltext
- yes (110)
Is part of the Bibliography
- no (110)
Keywords
- Futurologie (18)
- Synergie (14)
- Zeugnis (10)
- Archiv (9)
- Begriffsgeschichte <Fach> (8)
- Begriff (7)
- Theater (7)
- Zeuge (6)
- Literatur (5)
- Benjamin, Walter (4)
Astrologie
(2016)
Die Astrologie stellt bis heute die populärste und bekannteste Disziplin des Zukunftswissens dar, ist sie doch über Tages- und Wochenhoroskope unmittelbar mit der Prognose künftiger Ereignisse befasst und als solche im alltäglichen Mediengebrauch präsent. Und obwohl sie mit den okkulten Praktiken der Esoterik, Mantik, Alchemie oder dem Tarot assoziiert wird, erfreut sie sich im westlichen Kulturkreis wachsender Beliebtheit. Während populäre astrologische Weissagungen nicht zuletzt durch die Lehre der Tierkreiszeichen allgegenwärtig sind, ist meist unbekannt, dass die Anfänge der Astrologie weniger individualprognostischer als ökonomischer und politischer Natur waren.
Die Theorien der Autopoiese und der Synergetik werden oft synonym als Selbstorganisationstheorien aufgefasst, obwohl es gravierende Unterschiede zwischen beiden gibt, die das konzeptionelle Verständnis von 'Selbstorganisation' betreffen. Die auf die Kybernetik zurückgehende Autopoiese beschäftigt sich mit der Selbsterhaltung und der Selbstreproduktion von Systemen, die Synergetik dagegen ist eine ¬Theorie für die ursprüngliche Entstehung von Systemen und die Emergenz von Systemeigenschaften. Was sie eint, ist der universelle Geltungsanspruch, den die Begründer für ihre ¬Theorien erheben, der jedoch naturgemäß nicht eingelöst werden kann. Im Folgenden soll ausgehend von der Genese des Begriffs 'Selbstorganisation' die Entwicklung systemischer Ansätze nachvollzogen und deren modellierendes Potential herausgestellt werden.
Rahel Jaeggi und Tilo Wesche erstellen im Sammelband 'Was ist Kritik?' eine präzise Kartographie der historischen Hauptbedeutungen dieses Begriffes, wobei sie vier Formen unterscheiden: 1) Aufklärung oder Zeitalter der Kritik, 2) historische Kritik, 3) emanzipatorische Kritik oder intellektuelle Tugend und 4) philosophische Kritik. Alle vier Formen sind mit eigenen Nuancen im Werk von Reinhart Koselleck zu finden, der, wie bekannt, nicht im Bann der sogenannten Frankfurter Schule stand. Er hat sich mit der 'Aufklärung als Zeitalter der Kritik' auseinandergesetzt und sogar von der "Dialektik der Aufklärung" gesprochen, genauer gesagt von der Dialektik von Politik und Moral in der Neuzeit. In Form einer Metakritik bzw. einer "Aufklärung über die Aufklärung" unterzog er deren ideologische Pervertierung der Moral einer bissigen Kritik. Koselleck meinte, diese perfide Dialektik, die moralisierende Politik, sei nicht obsolet geworden, sondern sie habe zu den Weltanschauungskriegen des 20. Jahrhunderts geführt. Er kultivierte keine moralische Enthaltung oder Abstinenz, aber er war mit den Exzessen des Moralismus vertraut und misstraute ihnen deshalb.
Gibt es das Motiv von Bild-Erscheinung und Bild-Schwund eigentlich auch in der jüngeren Literatur? Und wie gestaltet sich dieser Topos im Medium eines Textes: variierend, ergänzend, konkurrierend? Eva Geulen hat drei Texte ausgesucht, in denen je anders eine überraschende Beobachtung zu Buche schlägt. Während einem nämlich zunächst reihenweise Möglichkeiten des Verschwindens von Bildern in der Literatur einfallen, zeigt sich auf den zweiten Blick, dass es gar nicht so einfach für Bilder ist, in Geschichten (auch: aus der Geschichte) zu verschwinden. Es bleibt oft noch etwas übrig, wenn nicht das Bild, dann die Geschichte seines Verschwindens. Für die Textauswahl war dieses Ineinander von verschwindenden und doch bleibenden, bleibenden und doch verschwindenden Bilder ausschlaggebend. Interessant wird das Verhältnis vor allem unter der Doppelbedingung wachsender Musealisierung einerseits und künstlerischen Verfahren der Moderne andererseits. Während seit dem 19. Jahrhundert immer mehr gesammelt und aufbewahrt wird, beschäftigen sich Kunstwerke spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend mit ihrem eigenen Verschwinden. Fast könnte man meinen, das Glück moderner Kunst sei das Auflösen, Zersetzen, Entstellen und Verschwinden. Die geläufigen Interpretationsmodelle dieses Phänomens erschöpfen sich freilich in der Negation: Das Kunstwerk sage sich von seinen Mythen los, dem Schöpfermythos, dem Meisterwerkmythos, dem Ewigkeitsmythos usw. Das wird spätestens dann fragwürdig, wenn es auf grund technischer Möglichkeiten in der digitalen Welt faktisch immer schwieriger für alles und alle wird, überhaupt zu verschwinden. In dieser doppelten Perspektive erweisen sich die drei Texte von Johann Wolfgang Goethe, Adalbert Stifter und Michel Houellebecq als besonders ergiebig.
Die Redewendung, sich 'ein Bild' der Geschichte – oder auch von einem bestimmten Ereignis – zu machen, hat in den vergangenen Jahrzehnten ihren metaphorischen Charakter verloren. Nicht nur in den populären Medien werden die Vorstellungen von der Vergangenheit zunehmend von visuellen Bildern beherrscht; auch die Methoden der Historiographie haben sich deutlich verändert. Neben den herkömmlichen, überwiegend schriftlichen Dokumenten finden immer mehr andersgeartete Hinterlassenschaften und Überlieferungen als historische Quellen Verwendung: alle denkbaren Artefakte, Bauten und Alltagsgegenstände, literarische Texte, mündliche Überlieferungen, Berichte von sogenannten Zeitzeugen, verschiedenste Arten von Bildern u.v.m. Je näher das in Frage stehende historische Geschehen der Gegenwart ist, umso mehr setzt sich sein Bild aus Photographien, Filmen und Zeugenbefragungen zusammen. Damit hat sich der quellenkritische Terminus des 'Zeugnisses' in der Geschichtswissenschaft enorm ausgeweitet. Auf das philologisch-editorische Konzept des (Text-)Zeugen zurückgehend, waren Zeugnisse ursprünglich 'gesicherte' Dokumente, d. h. Schriftstücke, deren Authentizität (im Sinne von Echtheit), Herkunft, Datierung, Autorschaft, Zweck, Adressat und Überlieferungswege quellenkritisch überprüft werden konnten. Mit der jüngsten Ausweitung und Vervielfältigung historischer Quellen wird nicht nur der Unterschied zwischen textuellen bzw. materiellen Zeugnissen einerseits und Personen- Zeugen andererseits eingeebnet, auch nimmt die ohnehin bestehende Vieldeutigkeit des Zeugnisbegriffes weiter zu, so dass sich die Konturen des Zeugnisbegriffes vollends zu verwischen drohen.
Auf den Bildern Chris McCaws hinterlässt das Licht nicht nur Spuren, sondern Wunden. Das Foto erleidet die Einwirkung des Lichts – Bedingung der Möglichkeit fotografischer Medialität – sichtbar als Zerstörung der eigenen Substanz; eine Verwundung, die dann als solche ausgestellt wird. Der amerikanische Fotograf nutzt großformatige Analog-Kameras, um mit diesen den Verlauf der Sonne über einen langen Zeitraum zu dokumentieren. Durch die dafür notwendige, sehr lange Belichtungszeit brennt das Sonnenlicht Spuren in das Negativ und zeichnet damit den Verlauf des Gestirns am Firmament als physische Spur der Zerstörung nach. Die Faszination dieser seltsam unheimlichen und intensiven Bilder liegt darin, dass sie als "Ikonen des Realen" sehr deutlich machen, dass das Problem der Indexikalität, trotz aller Bemühungen dieses Gespenst abendländischer Präsenzmetaphysik aus der Fotografietheorie zu vertreiben, nicht aufhört, konstitutives Moment fotografischer Medien zu sein und die Theorie zu beunruhigen. Nach wie vor "legt" Fotografie ihrem Namen entsprechend "Zeugnis ab" für das Licht, das einmal auf fotosensitive Oberflächen gefallen ist und aus diesem Grund ist das Interesse an Begriff und Phänomen des Zeugen nicht nur durch den Zeugenschaftsdiskurs des Holocaust motiviert, sondern auch und gerade als medientheoretisches Problemfeld bedeutsam. Aber was für ein Begriff von Zeugenschaft ist hier im Spiel, bzw. wie wirken medientheoretische Erwägungen auf den Begriff des Zeugen ein und umgekehrt?
Computersimulation
(2016)
Computersimulationen (CS) machen eine Bearbeitung, Berechnung und Beherrschung des Zukünftigen imaginierbar. Doch dies geht einher mit der Löschung der Zukunft als Imaginationsraum im traditionellen Sinne. CS übersteigen und radikalisieren bekannte und etablierte Verfahren zur Erzeugung von Zukunftswissen. Dazu gehören Gedankenexperimente ebenso wie mathematische oder materielle Modellanalogien, statistikgestützte Prognosen genauso wie laborwissenschaftliche Experimentalsysteme. Basierend auf den Rechenkapazitäten immer leistungsstärkerer Supercomputer integrieren sie die (Un-) Wahrscheinlichkeiten einer immer größeren Anzahl an Einzelereignissen zu immer komplexeren Szenarien. Deren Elemente, die nach Probabilitäten bewerteten individuellen Sonderfälle, waren noch der menschlichen Beobachtung und Imagination zugänglich. Letztere werden jedoch von CS unterlaufen, die solche Elemente als Versatzstücke zur Errechnung einer möglichen Wirklichkeit aggregieren. Und damit bereiten CS den Boden für die mittlerweile überall anzutreffenden Kulturen der Antizipation, des Risiko-Managements, der Preparedness.
Der Biologe Conrad Hal Waddington entwickelte in den 1950er Jahren ein theoretisches Modell für biologische Entwicklungsprozesse, mit dem er das systemische Zusammenspiel von Genen, Umwelteinflüssen und den vorfindlichen biologischen Strukturen bei der Herausbildung neuer Strukturen fassen wollte. Er stützte sich dabei auf erste Versuche, Selbststabilisierungsprozesse in komplexen Systemen mathematisch zu modellieren, wie sie damals im Umfeld der Kybernetik unternommen wurden. Mit seinen Bemühungen versuchte er, die Synthese aus Evolutionstheorie und Genetik um die Embryologie zu erweitern und in einer nicht-reduktionistischen, holistischen Konzeption biologischer Entwicklungsprozesse zu vereinigen – ein Unternehmen, an dem er seit Anfang der 1940er Jahre arbeitete.
Dieses 'richtige' Sehen des Zeugen, das im Gerichtstheater entwickelt und eingeübt wird, hat indes nicht nur Konsequenzen für die Rechtsprechung, sondern auch für die Künste. In diesem Modell der Zeugenschaft ist eine Theorie von Rezeption versteckt, die Wahrnehmung und Perzeption immer dem Bewusstsein und der Apperzeption nachordnet: Sinnliche Wahrnehmung ist erstens nur dann etwas wert, wenn die Wahrnehmungsperspektive bereits eingestellt ist, wenn also die ideologische Brille bereits aufgesetzt ist. Zweitens ist die Rezeption nicht einfach passiv, das Ereignis der Rezeption nicht unbedingt vorgängig. Ganz im Gegenteil wird ein Modell von aktiver Rezeption, in unserem Fall von "aktiver Zeugenschaft" entwickelt, in der das Ereignis überhaupt erst geschaffen wird. Drittens antizipiert das Konzept des Bekenntniszeugen das Masternarrativ des sozialistischen Realismus, die Entwicklung zum 'richtigen' Sehen, die man in den 1930er Jahren auch in den großen Romanen wiederfindet . Wir möchten nun diesen neuen Zeugentypus, den wir nicht Bekenntniszeugen, sondern in Anlehnung an Lenins Geschichtsbegriff "Bewusstseinszeugen" nennen, in seinen vielen Facetten vorstellen und diskutieren, wie das Gerichtstheater mit diesem Zeugen ein Rezeptionsmodell entwirft, das gesellschaftlich, juristisch und ästhetisch wirksam wird.
Klima wird in der industriellen Moderne zum Problem des Wissens. Anders als das Wetter ist das Klima der direkten Wahrnehmung entzogen; ein Umstand, der paradoxerweise immer problematischer zu werden scheint, je mehr Wissen über die komplexen Zusammenhänge von lokalen Wetterereignissen und globalem Klima existiert. Das moderne Klima ist ein wandelbares, globales Phänomen, dessen Erkenntnis doppelt vermittelt ist, insofern es weder sinnlich erfahrbar noch verstandesmäßig erfassbar und somit auf Modellierung angewiesen ist. Diese findet jedoch nicht allein im wissenschaftlichen Kontext statt. Vielmehr ist die Herstellung von Klima als Bedingung von (Lebens-)Wirklichkeit und Zukunft trotz ihres unterschiedlichen epistemischen Status das Ergebnis wechselseitiger Einflussnahme wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Modelle.