Wie es wirklich nicht war : [Sammelrezension zu: Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main 2002, 240 S., ISBN 3-518-29171-8, darin (77–86): Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft ; Johannes Fried, Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, Stuttgart: Thorbecke 2002, 91 S., ISBN 3-7995-8301-7, darin (54–84): II Geschichtswissenschaft als Kognitions- und Lebenswissenschaft]
- Es lag, jedenfalls seit dem 43. Historikertag im Jahr 2000, in der Luft: Geschichte hat etwas mit Gehirn zu tun. Für das Gehirn zuständig ist Wolf Singer, für die Geschichte Johannes Fried. Das Rendezvous der beiden Wissenschaften und Wissenschaftler hat für beträchtlichen Wirbel in der Tages- und Fachpresse gesorgt, hat in der Historikerzunft Beckmesser ebenso auf den Plan gerufen wie Trittbrettfahrer und Beifallklatscher. Im Jahr 2002 haben Singer und Fried – sorgsam getrennt – die Quintessenz ihrer Erkenntnisse publiziert. Der von beiden konsentierte Befund ist so schlicht wie richtig: Alle Wahrnehmung beruht auf hochselektiven neuronalen Schaltungen im Gehirn; alles Erinnern ist das ebenfalls hochselektive Ergebnis von Vergessen. Das gilt für historische Akteure ebenso wie für spätere und gegenwärtige Beobachter, so dass "es keine sinnvolle Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern gibt, weil die Beobachtung den Prozess beeinflusst, selbst Teil des Prozesses wird". Eine infinite, hin und wieder durch willkürliche Zeitsetzung scheinbar unterbrochene Kette von Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen – das nennt man "Geschichte". ...