Die Einzeller und die Lust : Bölsche Freud Ferenczi

  • Wie ein Voyeur habe, so Lynn Margulis, der Harvard-Biologe Lemuel Roscoe Cleveland seit den 30er Jahren die Einzeller und ihr Sexualleben mikroskopiert und auch gefilmt. [...] Da sah er das Sensationelle: Diese Einzeller fressen sich gegenseitig auf. Aber nicht nur das: "Die verschluckte Hypermastigiden-Zelle wurde [...] nicht bis zu Ende verdaut. Vom Hunger ganz benommen, hielt der gierig schluckende Protist die noch halb lebendige Nahrung in seinem Innern offenbar für einen Teil seiner selbst. Nach kurzer Zeit nämlich verschmolzen die beiden kämpfenden Protisten: ihre Zellkerne fusionierten." Der Vorfall habe Cleveland zeitlebens nicht mehr losgelassen. Denn er vermutete, dass, was er soeben das gesehen habe, genau das sei, was "vor einer Milliarde Jahren zur ersten Befruchtung geführt hatte". Der schlichte Grund: Nahrungsmangel und vor allem Mangel an Feuchtigkeit, Austrocknung treibt die Einzeller, sich gegenseitig aufzufressen. Clevelands Szenerie aus, so Margulis, "Komödie und Terror" spricht also nur von einem: Es gab eine Zeit, in der "Fressen und Paaren" das gleiche waren. "Unterlassene mikrobielle Verdauung als Quelle menschlichen Sexualtriebs: Das ist wohl ziemlich unromantisch." Was nicht hindert, dass auch die große Bakterienforscherin ihre Frage nach Sex und Ritual, nach täusch enden Körpern und tanzenden Chromosomen meist genau vor diesem Hintergrund inszeniert: der sogenannten "Verschmelzung" von Einzellern, sei es als Auffressen, sei es dann als Symbiose. Sie ist nicht die einzige. (Nur ist sie vielleicht besonders interessant, weil wohl kaum eine andere amerikanische Biologin mit Wissen und ohne Scheu auch aus Lacan, Derrida, Bataille heraus argumentiert.) Die Verschmelzung der Einzeller ist der biologische Diskurs schlechthin über die Sexualität und nicht nur über sie. Der Tag könnte kommen, an dem wir unsere Stellung in der Evolution, unsere Stellung im Wissen von der Evolution in den Augen der Biologie nicht mehr über Zellen bestimmen werden, sondern über Einzeller: die ohne Kern, alias Bakterien, und die mit Zellkern alias "Protoctisten" (von griech isch ktísis: Schöpfung oder Stadt-Gründung). Haeckel sprach sie als "Protisten" an und manche noch heute als "Protozoa". Das Folgende stellt eben darum der Szene aus Harvard zwei andere, alteuropäische gegenüber.

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Verfasserangaben:Peter Berz
URN:urn:nbn:de:hebis:30:3-384810
ISBN:978-3-86599-162-1
Titel des übergeordneten Werkes (Deutsch):Freuds Referenzen / Christine Kirchhoff und Gerhard Scharbert (Hg.). Mit Beitr. von Peter Berz ..., Berlin : Kulturverl. Kadmos, 2012 ; LiteraturForschung ; Bd. 15
Verlag:Kulturverl. Kadmos
Verlagsort:Berlin
Herausgeber*in:Christine Kirchhoff, Gerhard Scharbert
Dokumentart:Teil eines Buches (Kapitel)
Sprache:Deutsch
Jahr der Fertigstellung:2012
Jahr der Erstveröffentlichung:2012
Veröffentlichende Institution:Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Datum der Freischaltung:08.12.2015
GND-Schlagwort:Freud, Sigmund; Ferenczi, Sándor; Bölsche, Wilhelm; Das Liebesleben in der Natur; Einzeller; Fortpflanzung <Motiv>
Seitenzahl:19
Erste Seite:15
Letzte Seite:33
HeBIS-PPN:38125819X
DDC-Klassifikation:8 Literatur / 80 Literatur, Rhetorik, Literaturwissenschaft / 800 Literatur und Rhetorik
Sammlungen:Germanistik / GiNDok
CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft / Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
BDSL-Klassifikation:01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft / BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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