Geschichtswissenschaften
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Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Frage nach der Anwendbarkeit des Begriffs "Nation" auf mittelalterliche Staaten und Reiche. Die Antwort kann sich weder aus dem Disput um treffende Definitionen ergeben noch aus der Begriffsgeschichte. Definitionen stehen am Ende, nicht am Anfang empirischer Untersuchungen, und die Begriffsgeschichte hat gezeigt, daß das Wort natio im Mittelalter andere, vom neuzeitlichen Sprachgebrauch jedenfalls verschiedene Bedeutungen hatte. ...
Aus Anlass der achthundertsten Jahrestage des Todes Eleonores von Aquitanien und des Verlusts der Normandie durch Johann Ohneland fand im Mai 2004 eine gemeinsame Tagung der Forschungszentren CESCM (Poitiers) und HIRES (Angers) statt, deren Vorträge nun im Druck vorgelegt werden. Die magistrale Einleitung von Martin Aurell (Introduction. Pourquoi la débâcle de 1204?, S. 3–14) betont zwar die Schlüsselrolle Eleonores, deren Ehe mit Heinrich II. jenes angevinische Reich entstehen ließ, das im Jahr ihres Todes zusammenbrach, hebt aber stärker auf die Zurücksetzung der Normandie gegenüber den englischen Eliten seit 1154 ab, auf geradezu xenophobische Züge in der wechselseitigen Einschätzung des Adels diesseits und jenseits des Kanals. Große der Normandie hatten kein materielles Interesse mehr daran, sich für einen König zu schlagen, der die Gewinne seinem insularen Entourage würde zukommen lassen; die Lehnsabhängigkeit der angevinischen Könige von den Kapetingern hielt diese in der Position der Herren gegenüber ungetreuen Vasallen, deren gesamter Kontinentalbesitz französisches Krongut blieb. Der kontinentale Adel nutzte das nach Kräften, Insistieren auf karolingische Tradition stützte die Unabhängigkeit der Kirchen und Klöster vom englischen König und seinen Beauftragten, während der intellektuelle Hofklerus Heinrichs II. und seiner Söhne verstört am Becket-Mord litt und seinem alten Studienort Paris nostalgische Sympathie entgegenbrachte. Unter solchen Voraussetzungen lag es nicht nur an der militärischen und politischen Unfähigkeit Johanns, wenn die französische Position der Plantagenêt in der Krise des Krieges schnell dahinschmolz. ...
Da es bisher keine kritische Edition der Urkunden Philipps des Schönen gibt und in Frankeich auch keine den "Regesta Imperii" vergleichbare Institution, ist das hier zu besprechende Werk ein Meilenstein der Forschung, denn es erfüllt mehrere Aufgaben zugleich: Erschließung und Analyse eines gewaltigen Quellencorpus, Rekonstruktion des königlichen Itinerars und Auswertung der Befunde hinsichtlich Logistik, Reisetechnik, Gastungsrecht, Gefolge und Regierungspraxis des reisenden Hofes, schließlich eine Bewertung der Rolle von Paris als Hauptstadt und Behördensitz. ...
Das Buch von Joachim Ehlers enthält der Zielsetzung der Reihe "Wissen" entsprechend eine relativ kurze und kompakte monographische Darstellung des Hundertjährigen Krieges, bei der die Aufgabe der Wissensvermittlung im Vordergrund steht. Damit hat es für deutsche Leser dieselbe Funktion, die in Frankreich die in einem sehr ähnlichen Format erscheinenden Bände der Reihe "Que sais-je?" erfüllen. Dort wurde eine vergleichbare Darstellung des Hundertjährigen Krieges von Philippe Contamine (La guerre de Cent ans, 9. aktualisierte Auflage, Paris 2010) veröffentlicht. ...
Die gesammelten Briefe des Peter von Blois waren ein außerordentlich erfolgreiches Werk, in mehr als zweihundert Handschriften bis ins 15. Jh. weit verbreitet, 1519, 1600, 1667 gedruckt und in dieser letzten Fassung Vorlage für die bis heute einzige Gesamtausgabe im 207. Band von Mignes Patrologia latina . Diesem Briefwerk verdankt Peter seinen Ruf, und trotz moderner Kritik am unvollkommen und unsystematisch gebildeten, zum Plagiat neigenden Urheber sind sie doch eine erstrangige, äußerst vielseitige Quelle für die westeuropäische Geschichte der zweiten Hälfte des 12. Jhs., bieten nicht nur Material für die Bildungs- und Kulturgeschichte, für das Studium höfischen Lebens, für die Charakteristik der Monarchie Heinrichs II., sondern reflektieren eine ganze Welt mit ihren Veränderungen in den persönlichen Erfahrungen einer ehrgeizigen, an vielen Machtzentren mit Großen der Zeit verbundenen Hochbegabung, die in ihren Erwartungen jedoch oft enttäuscht worden ist. Peter von Blois war gewiss kein origineller Kopf, aber ein großer Vermittler der Wissenschaft seiner Zeit an die Höfe der Bischöfe und an alle, die lateinischen Ausdruck auf hohem Niveau beherrschen wollten, ein intellektueller Repräsentant seiner Epoche, dem wir das beste zeitgenössische Porträt König Heinrichs II. verdanken und die kulturgeschichtlich überaus wertvolle Hofkritik (hier Nr. 49). ...
Muss man eine Geschichte der Ritterschaft bei den Germanen des Tacitus beginnen? Man muss, wenn man wie Dominique Barthélemy davon überzeugt ist, dass die gegenwärtig noch herrschende Theorie von der "Erfindung der Ritterschaft" ("l’invention de la chevalerie") um 1100 in Frankreich allzu sehr von Nationalstolz und ideologischen Interessen genährt worden sei, um als historische Wahrheit akzeptiert zu werden. ...
Wohl kaum ein anderes Falsifikat des Frühmittelalters, mit Ausnahme vielleicht der Falschen Dekretalen des sogenannten Pseudo-Isidor (Paschasius Radbertus), hat die Forschung derart intensiv in Atem gehalten wie das Constitutum Constantini . Seit Lorenzo Valla in seiner bahnbrechenden Studie aus dem Jahr 1440 ( De falso credita et ementita Constantini donatione ) das Dokument mit inhaltlichen Argumenten als apokryph erweisen konnte, hat die Frage nach Entstehungszeit und -ort Dutzende von Forschergenerationen beschäftigt. Da – angeblich – Konstantin der Große nach der Heilung vom Aussatz und anschließender Verlagerung seines Amtssitzes von Rom an den Bosporus die gesamte Westhälfte des Römischen Reiches dem Papst überlassen habe, damals Silvester I. (314–335), lag selbstredend die alte Frage nach dem Cui bono nahe: Aufgrund der Tatsache, dass der Apostolische Stuhl eindeutiger Nutznießer der Konstantinischen Schenkung ist, konnte folglich die Fiktion nur an einem Ort entstanden sein, nämlich in Rom. Diese Sicht der Dinge schien eindeutige Bestätigung zu erfahren durch die philologische, hier vor allem quellenkritische Analyse des Textes: Nicht wenige Passagen ähneln solchen Formulierungen, wie sie in der Korrespondenz der Päpste Paul I. (757–767) und Hadrian I. (772–795) anzutreffen sind, einer Briefsammlung, die gemeinhin unter dem Rubrum Codex Carolinus bekannt ist (Unikat: Cod. Wien lat. 449, saec. IX ca. med., nordalpine Schriftheimat, wohl direkte Kopie des Originals aus dem Jahr 791). So dominierte in der Forschung über Jahrhunderte die Position, das Constitutum Constantini sei ein Produkt der kurialen Kanzlei des späteren 8. Jahrhunderts. Nur vereinzelte Stimmen wurden laut, die fränkischen Ursprung und thematischen Zusammenhang mit dem pseudoisidorischen Fälschungskomplex postulierten, demnach eine Genese im mittleren 9. Jahrhundert favorisierten (in diesem Sinn dezidiert die wichtige Studie von Hermann Grauert, Historisches Jahrbuch 3–5, 1882–1884, dazu unten mehr). Letztere Position ließ sich vor allem deshalb nachdrücklich vertreten, weil erstens die frühesten Handschriften des Constitutum Constantini (geschrieben in den 850er/860er Jahren) gleichzeitig die ältesten Überlieferungsträger der pseudoisidorischen Dekretalen sind (u. a. Vatikan Ottobonianus latinus 93; Vatikan latinus 630; dann der noch nirgendwo gebührend beachtete Cod. Rennes 134, der keineswegs ins 11., sondern ins mittlere 9. Jahrhundert zu datieren ist (New Haven 442 enthält das CC erstaunlicherweise nicht) sowie die frühesten Zeugen der Version A2 wie etwa Aosta 102, Ivrea LXXXIII, Rom Vallicellianus D 38 und Sankt Gallen 670); und weil zweitens keinerlei zweifelsfreie Rezeption des Constitutum Constantin i vorliegt bis zu der Zeit, als es eben Eingang fand in die Sammlung falscher Papstbriefe, die ab den 830er Jahren im Kloster Corbie fabriziert wurden. Corbie, die abbaye royale an der Somme, ist demnach der überlieferungsgeschichtlich früheste Ausgangspunkt des Constitutum Constantini . Dazu gesellt sich die Abtei Saint-Denis, in deren Formelsammlung (Cod. Paris latinus 2777, der hier interessierende Teil geschrieben saec. IX 2 ) das Falsifikat ebenfalls enthalten ist. Der Version des Parisinus – dies haben eingehende Untersuchungen im Rahmen eines Oberseminars im Wintersemester 2008/09 klar bestätigt – kommt eine eindeutige textqualitative Präferenz zu gegenüber der pseudoisidorischen Traditionsform, die redigiert und sprachlich geglättet wurde. Das Constitutum Constantini , so wird man mit dem derzeit gültigen Forschungsstand (Horst Fuhrmann) festhalten können, ist kein Produkt der Fälscherwerkstatt in Corbie. Gleichwohl sollten überlieferungsgeschichtliche Spezifika (Corbie und Saint-Denis als herausragende geistige Zentren des Frankenreichs, demgegenüber aber keine frühe Präsenz des Constitutum Constantini in Rom) gebührende Beachtung finden.
An diesem Punkt setzt Johannes Fried an. ...
Der vorliegende Band vereint insgesamt 33 Beiträge von Archäologen, Historikern und Kunsthistorikern zur Geschichte kultureller Wechselbeziehungen zwischen Skandinaviern und den lokalen Gesellschaften vorwiegend in Altrussland und der Normandie in französischer und englischer Sprache. Er geht zurück auf die im Jahre 2009 in Sankt-Petersburg, Nowgorod, Staraja Russa und Caen veranstaltete Doppeltagung eines Projekts, das nicht umsonst "Deux Normandies" getauft wurde: Sein Ziel ist es, auf dem Stand aktueller methodologischer und theoretischer Erkenntnisse über kulturelle Interaktion eine vergleichende Perspektive auf zwei sehr unterschiedlich strukturierte Randzonen der viking world – die Normandie und die nordwestliche Rusʼ – und ihre Entwicklung zu eröffnen. Dabei wird auch die spätere kollektive, regionale Erinnerung an Beziehungen zu Skandinavien und damit ihre Politisierung thematisiert. Aus dieser empirischen Ausrichtung und der daraus resultierenden Vielstimmigkeit bezieht der voluminöse Band einen Großteil seines innovativen und ausgesprochen anregenden Charakters. Zudem stellt allein schon die hier versammelte Expertise zu den wikingerzeitlichen skandinavischen "Diasporen" mehr als genug Grund zur intensiven Lektüre dar. Insbesondere gilt dies für den vermittelten Überblick über die einschlägige russischsprachige Forschung der letzten Jahrzehnte; hier erfüllen die jeweiligen Aufsätze eine unverzichtbare Brückenfunktion. ...
Freundschaftsvorstellungen des Mittelalters und die politisch-soziale Bedeutung der Freundschaft sind keine "jungen" Gegenstände mehr: Schon in den 1990er Jahren unterstrich Gerd Althoff die Bedeutung der hochmittelalterlichen amicitiae, und seinen Pionierarbeiten folgten weitere Studien, die das Mittelalter räumlich und zeitlich recht breit erfassten. In dieser Forschungslandschaft müssen sich neue Beiträge entsprechend sorgfältig positionieren. ...
Das Mittelalter fordert heraus – und zwar in ganz unterschiedlicher Hinsicht: Wie der vor Kurzem verstorbene Otto Gerhard Oexle aufzeigte, sehen sich gerade die Deutschen mit einem "entzweiten Mittelalter" konfrontiert. Darüber hinaus aber, so Oexle, sei die Moderne insgesamt in ihrer Genese nicht ohne ihre ambivalenten Bezüge auf die ferne Epoche zu verstehen. Diese Tragweite der Mittelalterbezüge verdeutlicht auch das zu besprechende Werk, das im italienischen Original bereits 2011 erschien und nun in einer insgesamt gelungenen, aktualisierten französischen Übersetzung vorliegt: Denn wie Benoît Grévin in seinem Begleitwort (S. 7f.) unterstreicht, erschließen sich die politischen Implikationen, die mit den Verweisen auf das Mittelalter verbunden sind, so recht erst bei einer international ausgreifenden Betrachtung. Dass für den in Urbino mittelalterliche Geschichte lehrenden di Carpegna Falconieri italienische Beispiele eine besondere Rolle spielen, tut dem Wert seiner Studie keinen Abbruch, machten die politischen Entwicklungen auf der Halbinsel diese doch zu einem wahren Labor des "Mediävalismus", dessen Untersuchung auch wertvolle Blicke auf die Nachbarn ermöglicht (S. 8). ...