Geschichtswissenschaften
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Deutschland und Frankreich besitzen zwei historische Kulturen, die durchaus gemeinsame Züge aufweisen - es sei etwa an die Pflege der Hilfswissenschaften an traditionsreichen Stätten wie der "Ecole des Chartes", den "Monuments" oder der Wiener Schule erinnert -, die aber auch unverwechselbares Eigenprofil entwickelten: So wurden z. B. die Prinzipien und Anliegen der "Annales"-Gruppe (trotz ihrer Anlehnung an Methoden der landesgeschichtlichen Forschung in Deutschland zu Beginn unseres Jahrhunderts) von der deutschen Historikerzunft eigentlich erst seit den sechziger Jahren ernsthaft diskutiert und teilweise rezipiert. Austausch und Begegnung zwischen deutschen und französischen Gelehrten zu ermdglichen - auf breiter Historikerebene ist das leider oft schon durch mangelnde Sprachkenntnisse erschwert -, läßt sich das "Deutsche Historische Institut" in Paris angelegen sein, das mittlerweile auf ein über fünfundzwanzigjähriges erfolgreiches Wirken zurückblicken kann. Erfreulicherweise sind nun auf französischer Seite seit einigen Jahren ähnliche Aktivitäten zu verzeichnen, die mit der in Göttingen nahe dem "Max-Planck-Institut für Geschichte" angesiedelten "Mission Historique Fraqaise en Allemagne" auch schon institutionalisiert wurden. War bislang deutsche Geschichte im Ausland traditionell eine Domäne vor allem angelsächsischer Historiker, so gewinnen französische Beiträge zunehmend an Gewicht. Der für das Mittelalter zuständige Mitarbeiter der Arbeitsstelle, Jean-Pierre Cuvillier, hat 1979 eine große Synthese "L'Allemagne medievale. Naissance d'un Etat (VIIIe - XIIIe siecles)" vorgelegt, dem bald ein Band über das spätmittelalterliche Deutschland folgen wird. Aus naheliegenden Gründen gilt aber dem Rheinland bevorzugtes Forschungsinteresse: So veröffentlichte etwa Francois G. Dreyfus "Societes et mentalites a Mayence dans la seconde moitie du 18e siecle" (1968); ein Beitrag, der ebenso wie die Studie von Etienne Francois, einem weiteren Mitglied der Göttinger ,"Mission", über "Koblenz im 18. Jahrhundert. Zur Sozial- und Bevölkerungsstruktur einer deutschen Residenzstadt" (1982) schon im Titel die Nähe zur ,,Annales"-Tradition verrät. Leser dieser Zeitschrift wird besonders das aus einer These d'Etat hervorgegangene Buch "Cologne entre Napoleon et Bismarck, la croissance d'une ville rhenane" des in Straßburg lehrenden Pierre Aycoberry interessieren, das 1981 erschien. ....
Kunibert steht am Anfang der Kölner Kirchengeschichte des Mittelalters: Mit ihm beginnt jene lange Reihe von Bischöfen und Erzbischöfen, die auch am Königshof und im Reich von Bedeutung waren. Er band Stadt und Bistum in das regnum Francorum ein, er entwickelte weitausgreifende missionarisch-politische Aktivitäten, von denen heute noch seine Grabkirche am Rhein Zeugnis ablegt. Allein, schon seine ungesicherten Lebensdaten deuten an, daß jene Zeit zu den quellenärmsten Epochen der europäischen Geschichte gehört. Vieles läßt sich wohl nie mehr dem Dunkel entreißen, vieles läßt sich nur noch vermutend erschließen. Der Versuch, »Leben und Werk« nachzuzeichnen und zu würdigen, muß mithin zwangsläufig ein Versuch bleiben.
Wem der Untertitel dieses Beitrags merkwürdig vorkommt: Er bezieht sich auf ein Buch, von dem im Folgenden die Rede sein soll. Wenn die Besprechung ausführlicher als gemeinhin ausgefallen ist , obwohl der Band keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erhebt, so mag sich das am Ende des Beitrags von selbst erklärt haben. Es geht um die: Chronik zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1400. Herausgeber Peter FUCHS. Köh: Greven Verlag 1990,384 S., DM 56,-
Die Kirche von Lyon im Karolingerreich : Studien zur Bischofsliste des 8. und 9. Jahrhunderts
(1987)
In der Geschichte der Kirche von Lyon, die zu den ältesten Gemeinden der westlichen Christenheit gehört, markieren die Pontifikate von Leidrad und Agobard einen besonderen Höhepunkt. Auf einer Bischofsliste, die über 1800 Jahre eine Vielzahl berühmter Namen verzeichnet, stehen sie für die Restauration des materiellen und geistlichen Lebens zu Zeiten Karls des Großen und Ludwigs des Frommen. Lyon sollte nach ihren Vorstellungen zur norma rectitudinis für ein karolingisches Bistum werden; vor allem Agobard erhob damals mit seiner Theologie der Reichseinheit Anspruch auf geistige Führerschaft im fränkischen Imperium. Von hier aus wurde das Ideal einer Eingliederung aller Gläubigen in das Corpus Christi, in eine Concorporatio propagiert, die ihre Entsprechung auf Erden im karolingischen Reich finden sollte. Doch scheint Agobards theologisch-politisches Werk, vor einigen Jahren von E. Boshof unter diesem Leitaspekt eindrucksvoll dargestellt und durch L. van Acker in einer modernen Edition erschlossen, auch von konkreten Erfahrungen in seiner Heimat und besonders in Lyon geprägt; ja der Gedanke der Reichseinheit erst recht verständlich vor dem Hintergrund der Geschichte des Lyoner Bistums im 7. und 8. Jahrhundert. Vermutlich aus Septimanien stammend und von westgotischer Herkunft, lebte Agobard schon seit 792 in Lyon und hatte mithin in den Jahrzehnten vor seinem Pontifikatsantritt die Diözese. teilweise im Amt des Chorbischofs, sehr gut kennengelernt - ebendieser, von Boshof bereits skizzierte Rahmen soll hier nun näher untersucht und in größere Zusammenhänge gerückt werden: Ein Versuch, durch Rückschau auf das spätmerowingische und frühkarolin ische Zeitalter wie im Ausgriff auf das weitere 9. Jahrhundert im Zeichen der Spätkarolinger und Bosonen das markante Profil eines Zentralbistums in Zänkischer Randprovinz hervortreten zu lassen, jene unverwechselbare Eigenart zu verdeutlichen, welche die Kirche von Lyon zwischen Reich und Krone bis ins Hochmittelalter zu behaupten vermochte und die Regierung eines Leidrad und Agobard wiederum zur Ausnahme steigert, zugleich aber auch in ihrer Bedeutung reduziert. Damit betritt diese Studie, die sich auch als Vorarbeit zur Liste der Bischöfe von Lyon im Rahmen der Series episcoporum ecclesiae catholicae occidentalis versteht, gewisses Neuland. Denn in den materialreichen »Recherches sur l'histoire de Lyon du Ve sikcle au IX' siecle« von A. Coville und in den stadt- und kirchengeschichtlichen Darstellungen von A. Steyert, A. Kleinclausz und R. Fidou steht dieser Aspekt ebensowenig im Vordergrund wie in dem - thematisch ja anders akzentuierten - Werk von E. Boshof oder der Bonner Dissertation von H. Gerner über das frühmittelalterliche Lyon. ...
Zum Buch von Jacques Krynen, Ideal du prince et pouvoir royal en France a la fin du Moyen Age (1380-1440). Etude de la littkrature politique du temps, Editions A. et J. Picard, Paris (1981). Wer als deutscher Mediävist diesen Titel liest, denkt zunächst an die Dissertation von Wilhelm Berges über die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters und dürfte geneigt sein, die Lektüre einer nach Raum und Zeit enger umgrenzten Spezialstudie den französischen Zunftgenossen zu überlassen. Aber ein so hohes Lob, wie von Bernard Guenie im Vorwort der Leistung des Verf. gezollt, sollte neugierig machen, stammt es doch von einem für die Thematik überaus kompetenten Fachmann (dessen eigene verdienstvolle Arbeiten und hohe wissenschaftliche Reputation in Deutschland bislang zu Unrecht etwas im Schatten von glänzend verkauften Namen wie Duby oder Le Roy Ladurie stehen). Einige kurze, aber treffende Bemerkungen zum Sujet hat Guenie selbst schon vor einem Jahrzehnt gemacht, überaus nützliche Wegweiser für Krynens Studien. Folgende Ausführungen wollen vor allem zur Lektüre des anregenden, im zweiten Teil über weite Strecken faszinierenden Buchs ermuntern. ...
Rezensionen zu: Georg Denzler, Die verbotene Lust. 2000 Jahre christliche Sexualmoral. München - Zürich, Piper, 1988, 378 S. Aline Rousselle, Der Ursprung der Keuschheit. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Vouillie, hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart, Kreuz-Verlag, 1989, 298 S. Jacques Rossiaud, Dame Venus. Prostitution im Mittelalter. Aus dem Italienischen übersetzt von Ernst Voltmer. München, C. H. Beck, 1989, 239 S.
In der recht strikt reglementierten Wissenschafts- und Universitätslandschaft Frankreichs gibt es ein Refugium akademischer Freiheit und Exzellenz, eine Art Super-"Institute for Advanced Study" und dies mit einer bis zu Franz I. und Guillaume Budé in das Jahr 1530 reichenden Tradition: das bereits früh an heutiger Stätte im Pariser Quartier latin ansässige Collège de France. Dessen gegenwärtig etwas über 50 Professoren – am Anfang standen lediglich "lecteurs royaux" für die klassischen Sprachen – obliegt eine einzige Aufgabe, ob es sich nun um Mathematiker, Naturwissenschaftler, Informatiker, Philosophen, Soziologen, Historiker und Philologen, um Astrophysiker, Assyrologen oder Psychologen handelt: das Wissen, wie es entsteht, zu lehren ("enseigner le savoir en train de se faire"). Solche Lehre erfolgt gratis et publice, sie führt weder zu Prüfungen noch zu Abschlüssen; im Idealfall eint Lehrende und Lernende reiner amor scientiae. Entscheidend für eine Berufung sind Gewicht und Originalität der wissenschaftlichen Persönlichkeit; deshalb können bei Emeritierung, Weggang oder Tod freigewordene Lehrstühle auf Initiative der kooptierenden Professorenschaft dem Arbeitsgebiet der gewünschten Kandidaten entsprechend umgewidmet werden. ...
Agincourt/Azincourt 1415 – und 600 Jahre später eine neue Schlacht, diesmal der Publikationen, Tagungen und Veranstaltungen bis zur Nachstellung des Kampfs am Ort wie auch mit Playmobil-Figuren, ja bis zum Poesiewettbewerb und Rollstuhlfechten unter der Ägide eines "Agincourt 600 Comittee". Aus solch überbordender Fülle ragt der vorliegende Band indes heraus: kein Jubiläumsschnellschuss, sondern eine parallel zur Londoner Ausstellung "The Battle of Agincourt" mit Sorgfalt und Bedacht erstellte Sammlung von Beiträgen aus der Feder von Kennern der Materie unter drei Leitthemen "The Road to War – The Battle – Aftermath and Legacy". Was aber schon vor der Lektüre auf den ersten Blick besticht, ist die durchgängig farbige, z. T. großformatige Bebilderung in vorzüglicher Qualität und deren nicht minder vorzügliche Kommentierung; angesichts dessen und einer bis ins Layout ansprechenden Aufmachung hat der Preis des Bands fast als günstig zu gelten. ...
Nach Lektüre dieses Werks ist man zunächst geneigt, von einer Rezension im Wortsinn abzusehen, um die Autoren stattdessen einfach zu einer rundum Respekt und Bewunderung verdienenden Leistung zu beglückwünschen, haben sie doch auf nicht weniger als 1100 Seiten ihr Thema von der ausgehenden Karolingerzeit bis an die Schwelle des 16.Jahrhunderts mit hoher Kompetenz unter allen nur denkbaren Aspekten abgehandelt und diese durchgängig mit einer schier überbordenden Fülle von Belegen und Beispielen illustriert. Der durchmessene Raum reicht von Norwegen bis Byzanz und von Polen bis zur Iberischen Halbinsel; einen gewissen Schwerpunkt bilden dabei das römisch-deutsche Reich und Frankreich. Solch in einem französischen Handbuch nicht unbedingt zu erwartender Doppelakzent verdankt sich Jean-Marie Moeglin, der bereits 2010/2011 mit seiner "Deutsch-Französischen Geschichte im Spätmittelalter" ein ähnlich gelehrtes Monument vorgelegt hat. Wie sehr er in den Kulturen beider Länder heimisch ist – in München, dem für Mediävisten deutschen Bibliotheksmekka, hat er inzwischen ein zweites Zuhause –, zeigt sich bis in die Anmerkungen und in eine (mit Unternummern) weit über 3000 Titel umfassende Bibliografie, die für europäische und insbesondere eben deutsche und französische Benutzerinnen und Benutzer künftig eine unverzichtbare Referenz sein dürfte. Gerade in einem Organ vom Profil der Francia-Recensio sei darauf mit Nachdruck empfehlend hingewiesen. ...
Selbst Spezialisten der Geschichte des Basler Konzils (1431–1449) und des Herzogtums Burgund im 15. Jahrhundert dürfte Nicolas Jacquier, ein Mönch aus dem Predigerkonvent zu Dijon, allenfalls dem Namen nach bekannt sein. Kaum mehr weiß man über ihn, als dass er sich für seine Person Anfang 1433 in die Synode inkorporierte, um dort fortan – recht erstaunlich für einen Burgunder, aber auch für einen Dominikaner – radikal antirömische Positionen zu beziehen, was – nicht minder erstaunlich – den papstverbundenen Philipp den Guten keineswegs daran hinderte, ihn fast zur selben Zeit, 1435, in eine Gesandtschaft zum englischen König zu berufen, wie er auch später noch mehrfach herzogliche Missionen übernahm, so 1451 zum römisch-deutschen König, 1455 nach Ungarn und schließlich 1467 in das zur Krone Böhmen gehörende Schlesien. Gegen die Hussiten hatte der Herzog selber bereits in den zwanziger Jahren das Kreuz nehmen wollen, und vier Jahrzehnte später erschien die häretische Gefahr angesichts eines "Ketzerkönigs" Georg von Podiebrad wiederum virulent, zumal sich der Böhme mit Philipps ärgstem Gegner, Ludwig XI. von Frankreich, zu verbünden trachtete (vgl. S. 20f.). Überdies mahnten, wie ebenfalls schon in den Zwanzigern, erneut häretische Umtriebe im Süden der burgundischen Niederlande (la »vauderie« d’Arras) zu erhöhter Wachsamkeit. ...
Es war, zumindest für die Spezialforschung, ein veritabler Paukenschlag, als Claudia Märtl 2010 auf einer Münchner Tagung über das Ende der konziliaren Epoche mit einem unbekannten, genau zum Thema passenden Text aufwartete, den sie in einer Augsburger Handschrift entdeckt hatte: das Dreiergespräch "Agreste otium" des Martin Le Franc, der bis dahin fast ausschließlich durch seine moralisch-didaktischen Werke in französischer Sprache bekannt war, allen voran das allegorische Versepos "Le champion des dames" (1440–1442) sowie ein Streitgespräch zwischen Fortuna und Tugend, "L’Estrif de Fortune et de Vertu" (1447). ...