Geschichtswissenschaften
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In der recht strikt reglementierten Wissenschafts- und Universitätslandschaft Frankreichs gibt es ein Refugium akademischer Freiheit und Exzellenz, eine Art Super-"Institute for Advanced Study" und dies mit einer bis zu Franz I. und Guillaume Budé in das Jahr 1530 reichenden Tradition: das bereits früh an heutiger Stätte im Pariser Quartier latin ansässige Collège de France. Dessen gegenwärtig etwas über 50 Professoren – am Anfang standen lediglich "lecteurs royaux" für die klassischen Sprachen – obliegt eine einzige Aufgabe, ob es sich nun um Mathematiker, Naturwissenschaftler, Informatiker, Philosophen, Soziologen, Historiker und Philologen, um Astrophysiker, Assyrologen oder Psychologen handelt: das Wissen, wie es entsteht, zu lehren ("enseigner le savoir en train de se faire"). Solche Lehre erfolgt gratis et publice, sie führt weder zu Prüfungen noch zu Abschlüssen; im Idealfall eint Lehrende und Lernende reiner amor scientiae. Entscheidend für eine Berufung sind Gewicht und Originalität der wissenschaftlichen Persönlichkeit; deshalb können bei Emeritierung, Weggang oder Tod freigewordene Lehrstühle auf Initiative der kooptierenden Professorenschaft dem Arbeitsgebiet der gewünschten Kandidaten entsprechend umgewidmet werden. ...
Agincourt/Azincourt 1415 – und 600 Jahre später eine neue Schlacht, diesmal der Publikationen, Tagungen und Veranstaltungen bis zur Nachstellung des Kampfs am Ort wie auch mit Playmobil-Figuren, ja bis zum Poesiewettbewerb und Rollstuhlfechten unter der Ägide eines "Agincourt 600 Comittee". Aus solch überbordender Fülle ragt der vorliegende Band indes heraus: kein Jubiläumsschnellschuss, sondern eine parallel zur Londoner Ausstellung "The Battle of Agincourt" mit Sorgfalt und Bedacht erstellte Sammlung von Beiträgen aus der Feder von Kennern der Materie unter drei Leitthemen "The Road to War – The Battle – Aftermath and Legacy". Was aber schon vor der Lektüre auf den ersten Blick besticht, ist die durchgängig farbige, z. T. großformatige Bebilderung in vorzüglicher Qualität und deren nicht minder vorzügliche Kommentierung; angesichts dessen und einer bis ins Layout ansprechenden Aufmachung hat der Preis des Bands fast als günstig zu gelten. ...
Nach Lektüre dieses Werks ist man zunächst geneigt, von einer Rezension im Wortsinn abzusehen, um die Autoren stattdessen einfach zu einer rundum Respekt und Bewunderung verdienenden Leistung zu beglückwünschen, haben sie doch auf nicht weniger als 1100 Seiten ihr Thema von der ausgehenden Karolingerzeit bis an die Schwelle des 16.Jahrhunderts mit hoher Kompetenz unter allen nur denkbaren Aspekten abgehandelt und diese durchgängig mit einer schier überbordenden Fülle von Belegen und Beispielen illustriert. Der durchmessene Raum reicht von Norwegen bis Byzanz und von Polen bis zur Iberischen Halbinsel; einen gewissen Schwerpunkt bilden dabei das römisch-deutsche Reich und Frankreich. Solch in einem französischen Handbuch nicht unbedingt zu erwartender Doppelakzent verdankt sich Jean-Marie Moeglin, der bereits 2010/2011 mit seiner "Deutsch-Französischen Geschichte im Spätmittelalter" ein ähnlich gelehrtes Monument vorgelegt hat. Wie sehr er in den Kulturen beider Länder heimisch ist – in München, dem für Mediävisten deutschen Bibliotheksmekka, hat er inzwischen ein zweites Zuhause –, zeigt sich bis in die Anmerkungen und in eine (mit Unternummern) weit über 3000 Titel umfassende Bibliografie, die für europäische und insbesondere eben deutsche und französische Benutzerinnen und Benutzer künftig eine unverzichtbare Referenz sein dürfte. Gerade in einem Organ vom Profil der Francia-Recensio sei darauf mit Nachdruck empfehlend hingewiesen. ...
Selbst Spezialisten der Geschichte des Basler Konzils (1431–1449) und des Herzogtums Burgund im 15. Jahrhundert dürfte Nicolas Jacquier, ein Mönch aus dem Predigerkonvent zu Dijon, allenfalls dem Namen nach bekannt sein. Kaum mehr weiß man über ihn, als dass er sich für seine Person Anfang 1433 in die Synode inkorporierte, um dort fortan – recht erstaunlich für einen Burgunder, aber auch für einen Dominikaner – radikal antirömische Positionen zu beziehen, was – nicht minder erstaunlich – den papstverbundenen Philipp den Guten keineswegs daran hinderte, ihn fast zur selben Zeit, 1435, in eine Gesandtschaft zum englischen König zu berufen, wie er auch später noch mehrfach herzogliche Missionen übernahm, so 1451 zum römisch-deutschen König, 1455 nach Ungarn und schließlich 1467 in das zur Krone Böhmen gehörende Schlesien. Gegen die Hussiten hatte der Herzog selber bereits in den zwanziger Jahren das Kreuz nehmen wollen, und vier Jahrzehnte später erschien die häretische Gefahr angesichts eines "Ketzerkönigs" Georg von Podiebrad wiederum virulent, zumal sich der Böhme mit Philipps ärgstem Gegner, Ludwig XI. von Frankreich, zu verbünden trachtete (vgl. S. 20f.). Überdies mahnten, wie ebenfalls schon in den Zwanzigern, erneut häretische Umtriebe im Süden der burgundischen Niederlande (la »vauderie« d’Arras) zu erhöhter Wachsamkeit. ...
Es war, zumindest für die Spezialforschung, ein veritabler Paukenschlag, als Claudia Märtl 2010 auf einer Münchner Tagung über das Ende der konziliaren Epoche mit einem unbekannten, genau zum Thema passenden Text aufwartete, den sie in einer Augsburger Handschrift entdeckt hatte: das Dreiergespräch "Agreste otium" des Martin Le Franc, der bis dahin fast ausschließlich durch seine moralisch-didaktischen Werke in französischer Sprache bekannt war, allen voran das allegorische Versepos "Le champion des dames" (1440–1442) sowie ein Streitgespräch zwischen Fortuna und Tugend, "L’Estrif de Fortune et de Vertu" (1447). ...
Der Titel lässt eine Behandlung von Streitschriften und anderen Zeugnissen aus der Zeit des großen abendländischen Schismas erwarten, mit denen sich Vertreter der zwei bzw. drei Obödienzen positionierten und einander bekämpften. Doch vor die Quellen hat die Verfasserin die Theorie gesetzt: Ohne Habermas, Bourdieu und Foucault kein Jean Gerson, Simon de Cramaud oder Nicolas Eymerich. Man wähnt sich anfangs weniger in der Welt der Pariser Universität und der avignonesischen Kurie um 1400 als im soziologischen und literaturtheoretischen Oberseminar (die klassische Ideengeschichte wird kurzerhand als "très périmée" beiseite geschoben [S. 13]) und fürchtet, zumindest als nicht eben theorieversessener Historiker, schon den anstehenden Marsch durch entsprechende Textwüsten, zumal die Autorin expressis verbis einen anderen Ansatz als Hélène Millet vertritt, die sich mit ihren – am Dictum Lucien Febvres "Et l’homme dans tout cela?" orientierten – biografischen und prosopografischen Arbeiten um die Erforschung des Schismas bekanntlich sehr verdient gemacht hat: "Hélène Millet aime cerner les hommes du temps, quand j’aime scruter les textes" (S. 16). ...
Selten dürfte es einem Gelehrten vergönnt sein, die Summe seiner über 50 Jahre währenden Tätigkeit in zwei Alterswerken ziehen zu können, wie es bei Philippe Contamine der Fall ist mit dem wesentlich von ihm gestalteten "Dictionnaire de Jeanne d’Arc" und der nunmehr vorliegenden Biografie Karls VII. Diese beiden Persönlichkeiten markieren Schwerpunkte in einem staunenswerte Kontinuität, Intensität und Konsequenz zeigenden Œuvre, in dem nicht nur, so doch immer wieder die Geschichte Frankreichs im 14. und vor allem 15.Jahrhundert im Zentrum steht. Der Verfasser pflegt eine politisch akzentuierte Geschichtsschreibung, die sich abseits aller Moden und Theoriedebatten grundsätzlich der Quellenerschließung und -interpretation verpflichtet weiß. Geschrieben wurde auch der hier anzuzeigende Band stets entlang den oft in Auszügen zitierten und im Fall von Traktaten eines Alain Chartier oder Jean Juvénal des Ursins gar eigene Unterkapitel ausfüllenden Quellen, darin einmal mehr eingeschlossen handschriftliches Material. Unspektakulär geht der Autor diesen seinen Weg; dabei erfolgt auch, bis auf eine kurze lobende Erwähnung der monumentalen Monografie von Du Fresne de Beaucourt (1881/1891, vgl. S. 16), keine Auseinandersetzung mit früheren Biografien Karls VII., selbst nicht mit der – trotz fragwürdiger Grundthese lohnenswerten – von M.G. A. Vale oder der jüngsten, übrigens ebenfalls bei Perrin erschienenen – und m. E. weniger lohnenden – von Georges Minois; von dem noch 2001 wieder aufgelegten und recht eigenwilligen, da Karls VII. Schwiegermutter Yolande von Aragón als dessen mystère in den Mittelpunkt stellenden Buch eines Philippe Erlanger ganz zu schweigen. ...
Da wird gegen Ende ein schon recht großer Anspruch formuliert: "Aus genuin historischer Sicht bieten die Ergebnisse dieser Studie Anknüpfungspunkte für ein neues Narrativ, eine neue Interpretation der spätmittelalterlichen französischen Geschichte." Und mehr noch: "Aus systematisch-komparatistischer Sicht lässt sich die Frage nach der Spezifik bzw. der Übertragbarkeit des französischen Beispielfalles unter Rückgriff auf soziologische Theorieentwürfe schließlich auch auf weitere historische Formationen jenseits der spätmittelalterlichen Epoche ausweiten" (S. 427). Hoch die Erwartungen also in der Sache und nicht ganz so hoch an Sprache und Stil. Und französische Leserinnen und Leser, an die sich das Buch sicher nicht zuletzt auch wendet, werden entzückt sein über Juwele kristallklarer Verständlichkeit und federleichter Eleganz wie: "Aus diesen Überlegungen ergibt sich zugleich, dass systematisch-komparatistische Ansätze die jeweiligen Vergleichsgegenstände unter Zugrundelegung externer Analysekategorien zuallererst konstituieren und die im einzelnen zu betrachtenden Phänomene dadurch überhaupt erst vergleich- und operationalisierbar machen müssen" (S. 438). ...
Wenn eine ungedruckte Habilitationsschrift fast vier Jahrzehnte nach ihrer Abfassung publiziert wird, muss sie eigentlich von zwar erst spät entdecktem, doch außerordentlichem Interesse für die Fachwelt sein. Und mehr noch, hier bringt deren Herausgeber gleich eine höhere Macht ins Spiel, wenn er meint, der Zeitpunkt der Drucklegung genau 20 Jahre nach dem frühen Tod des Verfassers (1992) könne »durchaus auch als kleines Indiz für die Fügung des einzigen Herrn der Geschichte« angesehen werden (S. V). Da sei doch an die gelassen-relativierende rheinische Lebensweisheit erinnert: »Dat kann mer so, aber auch so sehen.« Für meinen Teil neigte ich schon Ende der 1970er Jahre zum zweiten »so«, als Leinweber mir freundlicherweise Auszüge seiner Arbeit in Kopie zukommen ließ, die ursprünglich in geradezu utopischem Ausgriff »Die Synoden in Italien, Deutschland und Frankreich von 1215 bis zum Tridentinum« erfassen sollte und unter solchem Titel wiederholt, auch von ihm selbst, angekündigt wurde; s. etwa Annuarium Historiae Conciliorum 4 (1972), S. 5 (dies zum Tadel des Herausgebers wegen entsprechender Zitierung u. a. durch mich, welche die tatsächliche Unkenntnis des Manuskripts offenbare; S. XVIII, Anm. 47). Damals mit einer Studie »Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil (1431–1449)« (erschienen 1990), also einer Nachbarthematik, befasst, hielt ich nach Lektüre jener Auszüge eine vertiefende, insbesondere den Stand der französischen Forschung angemessen rezipierende Überarbeitung für unabdingbar, doch das Werk liegt nunmehr unverändert und damit in einer Form vor, die zudem aus dem Abstand mehrerer Dezennien recht befremdlich wirkt. ...
Im Verlauf einer Erkundungsexpedition des britischen Militärs in Ägypten wurde 1917 in der Westwüste zwischen der Oase Dachla und dem Gilf Kebir an der Grenze zu Libyen und dem Sudan von dem mitreisenden britischen Geologen und Geographen Jon Ball am Fuße einer von zwei weithin sichtbaren Geländeerhebungen aus Sandstein eine größere Anzahl von Gefäßen bzw. Gefäßresten aus Ton entdeckt. Ball bezeichnete die nördliche der beiden Erhebungen mit einer Höhe von ca. 39 m der vielen Gefäßfunde wegen als Pottery Hill. Die heutige Bezeichnung ist der arabische Name Abu Ballas. Die Entfernung zur Oase Dachla beträgt etwa 200 km. Die Geländeerhebungen waren zunächst nur als geographische Fixpunkte in der sonst ebenen Wüste von Interesse. ...
Das Buch von Joachim Ehlers enthält der Zielsetzung der Reihe "Wissen" entsprechend eine relativ kurze und kompakte monographische Darstellung des Hundertjährigen Krieges, bei der die Aufgabe der Wissensvermittlung im Vordergrund steht. Damit hat es für deutsche Leser dieselbe Funktion, die in Frankreich die in einem sehr ähnlichen Format erscheinenden Bände der Reihe "Que sais-je?" erfüllen. Dort wurde eine vergleichbare Darstellung des Hundertjährigen Krieges von Philippe Contamine (La guerre de Cent ans, 9. aktualisierte Auflage, Paris 2010) veröffentlicht. ...
Andreas Fahrmeirs These lautet, dass die Entwicklung der modernen Form der Staatsbürgerschaft "von einer spezifischen Erfahrung zwischenstaatlichen Wettbewerbs vorangetrieben wurde" (231). Dass alle oder fast alle erwachsenen Männer nach den Prinzipien der Aufklärung und des Liberalismus Rechte besaßen oder wenigstens fähig waren, zur politischen Mündigkeit erzogen zu werden, hat sicherlich auch zur Erweiterung der Rechte und der Zahl der Staatsbürger in vielfältiger Weise beigetragen. Nach Fahrmeir waren aber "Blut und Eisen" wichtiger für die Entwicklung von Staatsbürgerrechten als der Einfluss Lockes und Kants. Krieg oder die Vorbereitung auf einen Krieg haben Staaten angetrieben, eine "homogene, gesunde und produktive Bevölkerung" zu schaffen, um Stabilität und ökonomische Effizienz herzustellen (230). Und hauptsächlich deshalb wurden weitere zivile, politische und soziale Rechte breiteren Gruppen von Einwohnern gewährt und Grenzen zwischen Staatsbürgern und Ausländern schärfer gezogen. Dieser Hypothese folgend, kommt Fahrmeir zum Schluss, dass, da westliche Regierungen seit den 1970er Jahren zunehmend auf die Wehrpflicht verzichten und sich vielmehr auf den wirtschaftlichen Erfolg im Kontext einer globalisierten Ökonomie konzentrieren, sie sich fortan auch weniger um die Opferbereitschaft und um die Rechte ihrer Einwohner kümmern. Deren ökonomische Nutzbarkeit steht im Vordergrund (231 f.). ...
Anfänglich wurde darauf hingewiesen, dass das Ziel, das sich die Ethnologie als Zweig der Anthropologie gesetzt hat, war, die Klischees und Stereotypen über den Menschen der europäischen Peripherie wissenschaftlich zu überwinden. Wie Frobenius diese Klischees und Stereotypen überwunden hat, ist in seiner Erarbeitung der Kategorien zur Analyse und zur Rekonstruktion der afrikanischen Kultur und in der politischen Implikation seiner Kulturtheorie zu sehen, welche die Afrikaner und die Deutschen zu Mitgliedern derselben geistigen Familie machte. Um dies zeigen zu können, sind mithilfe der diskursanalytischen Methode die unterschiedlichen Zentren der Produktion von Diskursen untersucht worden. Daraus ist hervorgegangen, dass Frobenius´ Kunst- und Literaturdiskurs sowie seine Kulturtheorie von den institutionellen Diskursen aus den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, akademischen und politischen Institutionen und von den philosophischen und geisteswissenschaftlichen Diskursen des deutschen Idealismus beeinflusst sind. Die „Geburt“ der Ethnologie, die mit seiner eigenen Geburt kongruierte, konnte nicht anders geschehen. Als neue Disziplin brauchte die Ethnologie das Wissen anderer Disziplinen und Gedankenströmungen, die Unterstützung von akademischen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen, um sich als Wissenschaft zu definieren und die Beschäftigung mit außereuropäischen fremdkulturellen Realitäten zu legitimieren...
Rezensionen über Festschriften laufen Gefahr, sich in Plattitüden zu ergehen. Denn die Gründe sowohl für den Charme als auch die Crux der Festgaben hängen eng zusammen: Dankbar möchte man der zu ehrenden Person ein Stück von dem zurückgeben, was diese Person zur Forschung beigetragen hat. Nun ist aber auch wissenschaftliches Schreiben ein kreativer Prozess und Erkenntnis und Relevanz fallen nicht auf einen gut gemeinten Wunsch hin vom Himmel, weil jemand Geburtstag hat. Auch dies ist eine Plattitüde, doch muss es erwähnt werden, da auch Heribert Müller, "sich solchen Ehrungen gegenüber Skepsis bewahrt [hat]". Wenn der Jubilar sich wenige Jahre nach der letzten Festgabe – betont keine Festschrift – zu seinem 70. Geburtstag nun doch mit einer solchen beschenkt sieht, wird er dies den Herausgeberinnen sowie Autorinnen und Autoren wohl in Hinblick auf diese in Umfang als auch Qualität überdurchschnittliche Festschrift gewiss nachsehen. ...
Frankfurt am Main bezeichnet sich gern als multikulturelle Stadt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung stammt nicht aus Deutschland, genauer gesagt leben ca. 180.000 Menschen aus 181 Nationen in der Mainmetropole. Es handelt sich um Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen wie Arbeit, Studium, Heirat oder auch durch Verfolgung und Flucht zufällig oder beabsichtigt in Frankfurt leben. Es sind Männer und Frauen aus Europa, Asien und Afrika, die oft seit langem hier sind, es sind aber auch Kinder und Jugendliche, die hier geboren und aufgewachsen sind. Zu den Frankfurtern nichtdeutscher Herkunft zählen auch zwischen 3000 und 4000 EritreerInnen. Die meisten dieser Menschen verließen in den frühen 1980er Jahren als Flüchtlinge ihr Land. Sie flohen vor den Auswirkungen eines fast dreißig Jahre andauernden Krieges, in dem Eritrea um die Unabhängigkeit von Äthiopien kämpfte. Manche waren aktiv beteiligt, einige erlebten Folter und Gefängnis, viele hatten Angst vor diesen Repressalien. Ein großer Teil wurde aber auch erst hier geboren. Eritrea, ein relativ kleines Land am Horn von Afrika, ist heute eine unabhängige Nation, doch die Probleme dauern an. Die wirtschaftliche und soziale Lage, vor allem jedoch der immer wieder aufbrechende Konflikt mit dem mächtigen Nachbar Äthiopien hält viele der eritreischen Flüchtlinge ab, in ihr Heimatland zurückzukehren. Doch dies ist nur ein Aspekt des eritreischen Lebens in Frankfurt. Abgesehen von kleineren Zeitungsnotizen über stattfindende (meist kirchliche) Feste oder Neueröffnungen eritreischer Restaurants weiß man wenig über diese Menschen; wie sie hier leben, mit welchen Problemen sie umzugehen haben und was sie bewegt. Analog zur Informationslage über die Heimat dieser Menschen erfährt nur derjenige etwas, der ein besonderes Interesse zeigt. Selbst wenn mehrere Hundert eritreische Flüchtlinge auf die Straße gehen, um für Frieden in ihrem Land zu demonstrieren, findet dies kaum ein Echo in der deutschen Berichterstattung. Unter den afrikanischen Ländern steht die eritreische Exilgemeinschaft hinter der marokkanischen an zweiter Stelle und gehört somit zu den zahlenmäßig größten außereuropäischen Gruppen der Stadt. Doch trotz der relativ hohen Anzahl handelt es sich um eine unauffällige Gemeinschaft, die selten das Interesse der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft findet. Andere Migrantengruppen wie Türken, Jugoslawen oder Marokkaner, die seit Jahrzehnten zum multikulturellen Stadtbild Frankfurts gehören, scheinen nicht nur wegen ihrer höheren Anzahl präsenter, sie wecken auch das Interesse der Wissenschaft. Die Untersuchungen von eritreischen Flüchtlingen beschränken sich dagegen bisher hauptsächlich auf ihre Eingliederung in die direkten Nachbarstaaten Eritreas. Die Frage nach Segregation, Akkulturation oder Integration wurde hier in zahlreichen Publikationen gestellt, sowie auch jene zum Themenbereich Ethnizität und Identität am Horn von Afrika. Die eritreischen Flüchtlinge in Deutschland blieben weitgehend unerforscht. Nach meiner Kenntnis existiert keine ausführliche Publikation zu den Auswirkungen im deutschen Exil. Wie sich z.B. der Befreiungskrieg auf das Identitätsbewußtsein der Exileritreer, auf ihre Integration oder auch auf das Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Äthiopiern auswirkt, dies sind Fragen, die bisher unbeantwortet blieben. Eine ausführlichere Darstellung zum Leben der eritreischen Gemeinschaft in der BRD nennt zwar einen engen Zusammenhalt der Gruppe und ein ausgeprägtes Identitätsbewußtsein, doch sie äußert sich nicht zu Ursachen, bzw. Folgen (WUS, 1991). Die vorhandenen Informationen zur eritreischen Exilgemeinschaft in Deutschland beschränken sich meist auf offizielle Daten (Daffa, 1995; Schmalz-Jacobsen/Hansen, 1997). Auch Untersuchungen zu eritreischen Flüchtlingsfrauen und –mädchen in Frankfurt/Main geben wenig Aufschluß; es handelt sich um kurze Abhandlungen der Lebenssituation und eine Darstellung der Probleme als Flüchtling im Allgemeinen (ISD, 1986a; ISD, 1986b). Bereits vor dieser Untersuchung erlebte ich durch meine Bekanntschaft mit einigen jüngeren Eritreern in Frankfurt, daß die Exilanten trotz z.T. verschiedener Erfahrungshintergründe eine selbstbewußte, starke und geschlossene Gemeinschaft bilden, in der Loyalität und Solidarität eine große Rolle spielen. Damit einher geht das offen geäußerte und starke Geschichts- und Identitätsbewußtsein der Menschen als Angehörige der Nation Eritrea, das meinen ethnologischen Ambitionen entgegenkam, sie jedoch auch stark beeinflußte.
Träge und arbeitsscheu ist der römische Gesandte, den Francesco Vettori am 23. November 1513 Niccolò Machiavelli gegenüber skizziert – ein Mann, der lieber schmökernd in der Stube sitzt, sich mit Freunden tummelt oder mit Mädchen von zweifelhaftem Ruf vergnügt und der nicht daran denkt, den Austausch mit anderen Gesandten zu pflegen oder überhaupt wichtige Leute zu treffen. Und wenn er doch einmal zur Feder greift, berichtet er keine brisanten Details über politische Entwicklungen, liefert keine scharfsinnigen Analysen der gegenwärtigen Situation, sondern füllt seine Briefe mit Belanglosigkeiten, die der schlichten Erheiterung des Lesers dienen. Der Mann, über den Francesco Vettori dies berichtet, ist er vermeintlich selbst. Das satirische Selbstportrait, das der Gesandte an der Kurie in Rom augenzwinkernd von sich entwirft, zeigt deutlich, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereits eine Reihe recht klarer Vorstellungen existierte, wer oder was ein Gesandter zu sein hatte, welchen Normen er folgen musste und vor allem, was er leisten sollte. Und die Verfestigung dieser Vorstellungen war eben einhergegangen mit der Ausbildung eines ständigen Gesandtenwesens, dessen nähere Betrachtung in Rom besonders spannend zu sein verspricht, da die Kurie zwar in mancher Hinsicht ein typisch europäischer Hof war, während sie in manch anderer Hinsicht aber, durch die besondere spirituelle und rechtliche Rolle des universalen Kirchenoberhauptes, auch atypisch war und nicht ihresgleichen kannte. Hier, in diesem "'supranational' centre for European diplomacy" (105), wo sich mehr Gesandte als an allen anderen europäischen Höfen aufhielten, war das Ringen um Benefizien besonders ausgeprägt, war das liturgische Zeremoniell mehr als anderswo ausgebildet; hier in diesem "international gossip shop" (105) flossen besonders viele Informationen zusammen, trafen Normen aller Art aufeinander. In diesem Schmelztiegel kamen viele diplomatische Praktiken miteinander in Berührung, wurden fusioniert und fortentwickelt. ...
Sorgfältig gewählte Worte können Konflikte durchaus entschärfen und einhegen. Sie müssen dabei nicht zwangsläufig beschwichtigend sein, sondern können auch (fiktive) Drohszenarien aufbauen und bewusst darauf ausgelegt sein, den Gegner einzuschüchtern. Die Federn der diplomatischen Akteure konnten spitz sein und flott deren Mundwerke, harte Kämpfe konnten dementsprechend auch mit diesen Waffen ausgefochten werden. Sicherlich nicht ohne Grund sollte der Mailänder Herzog Giangaleazzo betonen, er fürchte einen einzigen von Coluccio Salutatis Briefen weit mehr als tausend feindliche Reiter (211). ...
Lamparters Sold
(1905)
Bruder Lebey
(1916)
Die Totenfeier
(1915)
Der neue Weg : ein Bericht über die Tätigkeit des Nationalvereins für das liberale Deutschland
(1910)
Der interdisziplinäre Doktoranden-Workshop "Neue Tendenzen der Italienforschung zu Mittelalter und Renaissance" fand erstmalig vom 13. bis 15. November 2014 am Kunsthistorischen Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, statt. Initiatoren und Organisatoren waren seitens der Geschichte INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel) und KLAUS HERBERS (Erlangen-Nürnberg) sowie seitens der Kunstgeschichte ALESSANDRO NOVA (Florenz/Frankfurt am Main) und GERHARD WOLF (Florenz/Berlin). Ziel des gut besuchten Workshops war es, aktuelle Ansätze der Italienforschung gemeinsam zu kommentieren und kritisch zu würdigen. Nachwuchswissenschaftler/innen aus verschiedenen Disziplinen, insbesondere Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie, stellten ihre Projekte zur Diskussion. ...
GIUSEPPE CUSA (Frankfurt am Main) referierte über die Laiengeschichtsschreibung in der Mark Verona-Treviso am Übergang von der Kommune zur Signorie. Er fragte nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Städten sowie danach, welchen Berufen die geschichtsschreibenden Laien nachgingen und aus welcher Motivation heraus sie Zeitgeschichte dokumentierten. ...
Fragen nach der Schrift und ihrem Gebrauch zählen zu den "Dauerbrennern" der mediävistischen Forschung: Mehrere Sonderforschungsbereiche widmeten und widmen sich dem Thema, auch wenn sie den Zugang aus unterschiedlichen Richtungen suchen. In der Vielzahl der hier produzierten Studien positioniert sich der anzuzeigende Band durch den Fokus auf Phänomene des Rechts, sowie vor allem durch den im Titel stehenden Begriff der "Performanz". Fasst man letzteren als Verweis auf den handlungsbezogenen Charakter des Agierens – hier also bei rechtsbezogenen Praktiken –, so ist eine wertvolle Ergänzung zu den etablierten Forschungen über "rituelles Handeln" zu erhoffen. Schon M. Mosterts Einleitung (S. 1–10) relativiert allerdings allzu überzogene Erwartungen: Zwar problematisiert der Autor nicht nur die Begriffe "legal" und "law", deren reflektierte Anwendung auf vormoderne Verhältnisse er fordert, sondern auch jenen der "performance". Die Differenz zum Ritualbegriff markieren aber lediglich knappe Verweise auf die "performativen Sprechakte" nach Austin und auf den "Spielcharakter" (im Sinne Huizingas) rechtlichen Handelns in der Vormoderne (S. 6–9). ...
Es ist so eine Sache mit der Gattung der "gesammelten Aufsätze": Sie bieten in praktischer Form thematisch zusammenhängende Beiträge eines Autors, die über einen längeren Zeitraum entstanden und an unterschiedlichen Orten publiziert wurden. Im günstigsten Fall entfalten die Texte durch den unmittelbaren Dialog ein neues Panorama, das die Genese und Ausarbeitung eines Forschungsbereichs widerspiegelt. Stets besteht aber auch die Gefahr, Texte neu zirkulieren zu lassen, deren fruchtbarste Zeit doch in der Vergangenheit liegt. Die Lektüre eines solchen Bandes ist daher nicht nur mit der (Wieder-)Entdeckung alter und neuer Perspektiven und Materialien verbunden, sondern fordert zugleich zur Reflexion über die Gattung selbst auf. Das gilt umso mehr in einer Zeit, in der die Möglichkeit zur Erstellung "virtueller Dossiers" bestünde, die nicht notwendigerweise als gedrucktes Buch vorliegen müssen. ...
Richtete sich das lange unter der Federführung von J.-Ph. Genet un d W. Blockmans betriebene Forschungsunternehmen zur »Entstehung des modernen Staates« vor allem auf die Epoche des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit aus, so nimmt der vorliegende Band einen strukturellen Vergleich ausgewählter Aspekte der Staatlichkeit des antiken Rom und des spätmittelalterlichen Europas in den Blick. Wie D. Nicolet in seiner Zusammenfassung treffend hervorhebt (S. 419–426, hier S. 420), wird dieser Vergleich ganz im Sinne der programmatischen Vorgaben des spiritus rector Genet (S. 3–14) vorrangig als Kontrastierung durchgeführt. Zwar verweisen einige Autoren auf mögliche Resultate einer Zusammenschau, grundsätzlich bleibt die komparative Synthese aber weitgehend dem Leser überlassen. Dieser kann sich zu ausgewählten "Strukturbereichen" – der Zeit(-wahrnehmung/-rechnung), der Raum(-ordnung), der Verwandtschaft, der (schriftlichen) Kommunikation und dem Recht – in jeweils gedrängten Synthesen und zuweilen auch in Fallstudien informieren. ...
So verlockend der Begriff der Grenze angesichts der Aufmerksamkeit sein mag, die er in mediävistischen Publikationen der letzten beiden Jahrzehnte genießt, als Kernvokabel des vorliegenden Bandes darf man ihn nicht allzu stark beim Wort nehmen: Zwar blicken die versammelten 18 Beiträge aus dem Zeitraum von 1919 bis 1993 immer wieder auf Phänomene, die stark durch die Verortung in geographischen und kulturellen Grenzsituationen geprägt sind. Als eigentliches Thema wird aber – der Ausrichtung der ganzen Reihe entsprechend, die auf ambitionierte 14 Bände angelegt ist – die "(latein-)europäische Expansion" zwischen 1000 und 1500 bestimmt, welche die Herausgeber als Vorstufe der modernen Globalisierung ausweisen (S. XII). Eingangs avanciert gleichwohl Frederick Turner mit seiner berühmten "frontier"-These zur Leitfigur, und seine Auftritte ähneln durchaus der Charakteristik, die Robert I. Burns in seiner prägnanten Zusammenfassung der aragonesischen Verhältnisse des 13. Jahrhunderts einleitend präsentiert: "... a kind of vampire, killed on many a day with a stake through his Thesis, yet ever undead and stalking abroad" (S. 53). ...
Die Reflexion über das Verhältnis von Mittelalter und Moderne stellt zwar keine ganz neue Thematik dar, aber man darf man sich beim zu besprechenden Band zunächst getrost den begleitenden Worten von Terry Jones (Monty Python) anschließen: "It’s a feast of literature and medievalism. I hope you enjoy it." Wenn der Genuss in der Folge doch nicht ganz uneingeschränkt ist, so liegt dies keineswegs an der Qualität der versammelten Beiträge. Vielmehr wird man schlicht bedauern, dass just Terry Jones, der im Juni 2013 auf der Tagung an der Universität von St. Andrews vortrug, aus der dieser Seamus Heaney gewidmete Band hervorging, seinen Beitrag nicht zum Druck brachte. ...
Philipp der Schöne drohte stets ein wenig unterzugehen zwischen dem Glanz seiner burgundischen Vorgänger von Philipp dem Kühnen bis Karl dem Kühnen, den Memorialleistungen seines Vaters Maximilian, des "letzten Ritters", und dem weltumspannenden Ausgreifen Kaiser Karls V. In den letzten Jahren aber wurde er zunehmend aus diesem Schattendasein befreit: Bereits 2003 erschien eine magistrale Biographie aus der Feder J.-M. Cauchies’, 2006 bot Philipps 500. Todestag den Anlass zu einer Ausstellung der Königlichen Bibliothek in Brüssel. Begleitet wurde dieses Projekt von dem hier vorzustellenden Katalogband, wobei der Rezensent die Ausstellung selbst bedauerlicherweise nicht besuchen konnte. ...
Die Suche nach dem Selbst und nach der Wahrheit – ein solcher Titel weckt zweifellos hohe Erwartungen, spricht doch diese Frage in jüngster Zeit nicht nur esoterisch ausgerichtete Geister an. Vielmehr spielt sie im Rahmen aktueller Arbeiten zur Konstruktion und Wahrnehmung von Individualität sowie zur "Produktion von Wahrheit" durch Praktiken der Befragung oder der Verschriftlichung des Rechts eine zentrale Rolle. So ist den Herausgebern des vorl. Bandes zuzustimmen, wenn sie das Prozessverfahren der Inquisition oder die Aufnahme von Aussagen zu Besitz- und Lehnsverhältnissen nicht nur mit Blick auf die hierbei produzierten Informationen selbst analysieren möchten. Vielmehr unterstreichen sie die Fruchtbarkeit der Prozesssituation und ihres Umfelds für die Untersuchung der sich hier manifestierenden Machtverhältnisse, aber auch der sozialen Verflechtungen. Beide Aspekte spiegeln sich in den Techniken der Befragung, in der Zuweisung von (oder Forderung nach) Rederaum und in der schriftlichen Aufzeichnung der mündlich und performativ produzierten Äußerungen. Alleine, und soviel sei vorweggenommen, die in den bilanzierenden Einleitungen von Verdon (S. 9–16, 77–82) und Faggion (S. 17–26, 83–97) angedeuteten möglichen Wege der Forschung werden von den Beiträgen des Bandes leider nur auf Teilstücken begangen. ...
Nicht das Phänomen ist außergewöhnlich, das Thévénaz Modestin in ihrer Studie detailliert analysiert, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie es trotz mancher Verluste im Original aufgrund einer glücklichen Quellenlage so präzise nachvollziehen kann: Es handelt sich um die Vereinigung der beiden Teile einer Doppelstadt, hier der bischöflichen Cité und der bürgerlichen Ville inférieure , die in Lausanne bis 1481 zwei in ihrer Verfassung getrennte Gemeinschaften bildeten. Doppelstädte dieser Art, die sich häufig durch die Gründung einer Neustadt neben einer bereits vorhandenen Anlage bildeten, sind weithin bekannt. Nur zu häufig wird man aber die Umstände der Vereinigung, die nach unterschiedlicher Dauer der Koexistenz und zum Teil auch Rivalität durchgeführt werden konnte, lediglich summarisch erhellen können, so dass mancher Aspekt der Prozesse im Dunkeln bleibt, die mit der Zusammenlegung zweier Rechtseinheiten verbunden waren. ...
Dass die Rache kalt zu genießen sei, gehört zu den in ganz Europa verbreiteten Spruchweisheiten. Angesichts dieser Gleichförmigkeit hält der vorl. Band einige Überraschungen bereit, da er nicht nur Divergenzen in der diachronen Entwicklung der Rachepraxis von der Spätantike bis zum Ende des Hochmittelalters vorführt, sondern auch national unterschiedliche Ausprägungen. Während etwa Stephen D. White in seinem Beitrag zum »Imaginaire faidal« in ausgewählten »Chansons de Geste« (S. 175–198) und Bruno Lemesle für den »Comte d’Anjou face aux rébellions« (S. 199–236) die Bedeutung der Fehde als Mittel adliger Politik in einem feudal zersplitterten Frankreich aufzeigen, ist andernorts Gegenläufiges zu beobachten. So kann John Hudson (S. 341–382) darauf hinweisen, dass sich im normannisch beherrschten England Konflikte aufgrund der Durchsetzungsfähigkeit des Königtums üblicherweise in einem weniger gewalttätigen Rahmen abspielten (S. 375–377). ...
Freundschaftsvorstellungen des Mittelalters und die politisch-soziale Bedeutung der Freundschaft sind keine "jungen" Gegenstände mehr: Schon in den 1990er Jahren unterstrich Gerd Althoff die Bedeutung der hochmittelalterlichen amicitiae, und seinen Pionierarbeiten folgten weitere Studien, die das Mittelalter räumlich und zeitlich recht breit erfassten. In dieser Forschungslandschaft müssen sich neue Beiträge entsprechend sorgfältig positionieren. ...
Freund und Favorit: Begriffliche Reflexionen zu zwei Bindungstypen an spätmittelalterlichen Höfen
(2015)
Am Anfang der folgenden Überlegungen steht eine Irritation: Sie resultiert aus der Bourdieu’schen Theorie von der Existenz unterschiedlicher Kapitalformen – des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals –, die im sozialen Miteinander mehr oder weniger konvertierbar sein sollten und vom Individuum zur sozialen Positionierung eingesetzt werden können. Zur Erklärung der sozialen Dynamik spätmittelalterlicher Höfe ist dieses Modell gleichermaßen einleuchtend und hilfreich. Es weist aber mindestens eine Bruchstelle auf: So gut es viele (wenn auch nicht alle) Prozesse und Strategien des Handelns im höfischen Kontext erklärt, ist die Dynamik erst einmal angelaufen, so lässt es doch die Frage nach dem Eintritt in das Spiel offen. Woher kommt das Kapital, das Bewegung über die ständige Konvertierung hinaus ermöglicht? Oder anders gefragt: Wie gelingt Neuankömmlingen der Eintritt? ...
Michel Zink, hochdekorierter Kenner der französischen Literatur des Mittelalters und jüngst unter die "Unsterblichen" der Akademie berufen, legt ein Buch vor, das aus einem Aufschrei erwächst. Er möchte Position beziehen und seiner zutiefst empfundenen Verzweiflung angesichts der brutalen Taten und Bilder Ausdruck verleihen, mit denen die politischen und ideologischen Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts uns medial überrollen – man denke etwa an den IS, der per Video die Erniedrigung seiner Opfer inszeniert (S. 7–20). Kristallisationspunkt der emotionalen Reaktion des Autors und ihrer intellektuellen Verarbeitung ist das Motiv der Demütigung: Dieses bildet den Leitfaden der essayistisch angelegten Darstellung, welche die Exzesse der demütigenden Grausamkeiten in unserer Zeit auf eine Weise reflektieren soll, die dem Spezialisten der mittelalterlichen Literatur offensteht (S. 19–20). ...
"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird." Der berüchtigte Aphorismus sollte Historikerinnen und Historiker nicht von der Beschäftigung mit "Monstern" und dem "Monströsen" abhalten, versprechen diese doch zahlreiche Einsichten. Auch wenn nicht jeder gleich eine eigene Disziplin der "Monster Studies" anstreben wird, wie Mittman es in seiner programmatischen Einleitung mit Augenzwinkern formuliert (S. 1f.), eröffnet ein teratologischer Blick der kulturhistorischen Analyse originelle und weiterführende Perspektiven auf normative Diskurse und Selbstzuschreibungen. Monster mögen aus modern-rationalistischer Sicht nicht zuletzt als Wesen erscheinen, die ein lediglich imaginiertes Dasein führen (so ein Vorschlag für einen "Minimalkonsens", mit dem Dendle sein Fazit enden lässt, S. 448), aber dies macht sie doch keineswegs zu rein imaginären Wesen. Vielmehr spiegeln sie in subversiver Unterwanderung die Bruchstellen und Probleme, die jeder Komplex identitärer Selbstzuschreibungen angesichts systemisch nicht integrierbarer Kontingenzen aufweist.
Am 23. April 1391 fand Guillemin Faguier, sergent des burgundischen Herzogs Philipp des Kühnen, einen gewaltsamen Tod: Am hellichten Tag geriet er in einen Hinterhalt und die Männer von Jean de Chalon-Arlay schlugen ihn moult inhumainement, sodass er noch am Ort verstarb. Die Schuldigen waren bald ausfindig gemacht; als unmittelbarer Täter wurde Jean Breton identifiziert, der receveur Jeans de Chalon, den man am 5. Juli desselben Jahres hängte. Dass ihn seine Angehörigen schon kurz darauf gegen die ausdrücklichen hoheitlichen Anordnungen abhängten, um ihn zu bestatten, zeigt bereits, dass es bei diesem Kriminalfall um mehr ging, als nur um einen Mord und seine Bestrafung. ...
Das Mittelalter fordert heraus – und zwar in ganz unterschiedlicher Hinsicht: Wie der vor Kurzem verstorbene Otto Gerhard Oexle aufzeigte, sehen sich gerade die Deutschen mit einem "entzweiten Mittelalter" konfrontiert. Darüber hinaus aber, so Oexle, sei die Moderne insgesamt in ihrer Genese nicht ohne ihre ambivalenten Bezüge auf die ferne Epoche zu verstehen. Diese Tragweite der Mittelalterbezüge verdeutlicht auch das zu besprechende Werk, das im italienischen Original bereits 2011 erschien und nun in einer insgesamt gelungenen, aktualisierten französischen Übersetzung vorliegt: Denn wie Benoît Grévin in seinem Begleitwort (S. 7f.) unterstreicht, erschließen sich die politischen Implikationen, die mit den Verweisen auf das Mittelalter verbunden sind, so recht erst bei einer international ausgreifenden Betrachtung. Dass für den in Urbino mittelalterliche Geschichte lehrenden di Carpegna Falconieri italienische Beispiele eine besondere Rolle spielen, tut dem Wert seiner Studie keinen Abbruch, machten die politischen Entwicklungen auf der Halbinsel diese doch zu einem wahren Labor des "Mediävalismus", dessen Untersuchung auch wertvolle Blicke auf die Nachbarn ermöglicht (S. 8). ...
Wer dem schmalen Band, der eine Art Hinterlassenschaft des 2014 verstorbenen Jacques Le Goff darstellt, gerecht werden möchte, sollte sich zunächst über die Adressaten klar werden: Wie schon häufiger wendet sich der Altmeister der französischen Mediävistik gerade nicht an ein Fachpublikum, sondern an einen weiteren Leserkreis, dem er noch einmal seine Gedanken über ein angemessenes Verständnis von Geschichte und Epochenvorstellungen nahebringen möchte. Wer sich aus wissenschaftlicher Perspektive bereits mit der Frage nach den Konstruktionen des Mittelalters auseinandergesetzt hat oder mit den Arbeiten Le Goffs vertraut ist, erfährt hier wenig grundlegend Neues (so der Autor einleitend selbst, S. 7). Die zentralen Momente und Akteure der "Erfindung" des Mittelalters wurden (mit jüngst steigender Frequenz) bereits intensiv untersucht, und auch Le Goffs Plädoyer für ein "langes Mittelalter" (S. 115–156), das sich bis zum Vorabend der Französischen Revolution erstreckt, ist bekannt. ...
In ihrer klar und konsequent gegliederten Studie nimmt sich Th. Brero des zeremoniellen Ablaufs fürstlicher Tauffeiern am herzoglichen Hof von Savoyen im 15. und 16. Jh. an. Sie kann damit zum Versuch beitragen, eine Lücke in der existierenden Forschungsliteratur zu schließen, deren Existenz erstaunen muss, angesichts des regen Interesses, das den rituellen und zeremoniellen Aspekten der spätmittelalterlichen Adelskultur in den letzten Jahren entgegengebracht wird. Trotz der im Titel anklingenden vergleichenden Perspektive, die in allen Teilkapiteln immer wieder aufscheint, bilden das eigentliche Zentrum der Studie die Feierlichkeiten zu den Taufen Adrians, Emmanuel-Philiberts und Charles-Emmanuels I. von Savoyen in den Jahren 1522, 1528 und 1567. Die hierzu vorliegenden Texte, vor allem die von Antonino Dal Pozzo stammende Beschreibung der Taufe Adrians ( Adrianeo ), deren erstes Buch die Autorin im Anhang mitsamt einer Übersetzung in das moderne Französisch wiedergibt, sowie die Beschreibung der Taufe Emmanuel-Philiberts durch den Herold "Bonnes Nouvelles", die ebenfalls im Anhang ediert ist, bieten eine außergewöhnliche Basis: von keiner der früheren Taufen im savoyischen Umfeld sind derart reichhaltige Berichte überliefert, im deutschen Raum scheinen entsprechende Beispiele gänzlich zu fehlen. Auf dieser Grundlage und unter Beiziehung weiterer Texte aus dem französischen, burgundischen und englischen Milieu, unter denen die "Honneurs de la Cour" Éléonores von Poitiers, einer Hofdame der burgundischen Herzogin Isabella von Portugal, die prominenteste Stellung einnehmen, verfolgt Brero detailliert die einzelnen Etappen und Aspekte fürstlicher Tauffeiern. Ausgehend von den Umständen der Geburt und deren ritueller Rahmung, greift sie die Frage der Einrichtung des Zimmers der Mutter und des Kindes auf, der materiellen Vorbereitung der Taufprozessionen, der Anlage und Teilnehmerschaft der Prozessionen selbst, des Taufrituals sowie der abschließenden Feierlichkeiten. Abgerundet wird der sorgfältig ausgearbeitete Band von den erwähnten Texteditionen, einigen analytischen Tafeln zu den untersuchten Prozessionen und einem ausführlichen biographischen Katalog der erwähnten Personen, der vor allem einem in der savoyischen Geschichte weniger bewanderten Publikum den Zugang zur Thematik erleichtern dürfte. Ein Personen- und Ortsregister schließt den Band ab. ...
Trotz des enggefassten Titels bietet die vorl. Arbeit mehr als nur eine Untersuchung der angesprochenen "Waldenserprozesse", die in den Jahren 1459–60 die Einwohner von Arras und über die Stadt hinaus auch die umgebenden Territorien erschütterten. In einem breiten Panorama versucht der Autor eine Neudeutung der Häretiker- und Hexenprozesse, die über eine rein ideologiekritische Analyse materieller Interessen der Verfolger hinausgeht. In drei großen Abschnitten zum "Trugbild der Verfolgung", zum "Weg der burgundischen Herzöge zur Souveränität" und zur "Logik der Inquisition" werden Ablauf und Umfeld der Prozesse entwickelt, in denen 34 Personen verschiedenster sozialer Situierung eines Paktes mit dem Teufel beschuldigt und als Ketzer verurteilt wurden. Von besonderem Interesse mag hier die über weite Gebiete ausgreifende Entwicklung des Imaginaire eines "Hexensabbats" sein, welche den behandelten artesischen Raum mit den Randgebieten Savoyens verbindet, wo ebenfalls die Figur des magischen Flugs auf einem Stock und des Bündnisses mit dem Teufel früh präsent wird. Grundlage der Ausführungen zu Arras sind u. a. der jüngst neu edierte "Waldensertraktat" des Johannes Tinctorius sowie die bereits von Hansen publizierte Recollectio casus, status et condicionis Valdensium eines anonymen Autors, der Mitglied des Inquisitionstribunals war und vielleicht mit Jacques du Bois identifiziert werden kann, dem Dekan des Domkapitels von Arras. Wie aber lässt sich die frenetische Verfolgung von randständigen Personen ebenso wie von städtischen Honoratioren erklären, die der Stadt als ganzer massive Nachteile brachte, da die unsichere Situation ihren Ruf soweit schädigte, dass auswärtige Händler den Kontakt vermieden? Folgt man Mercier, so stand mehr im Hintergrund als eine spontane Aufwallung religiösen Fanatismus’ oder der Versuch, sich einzelner Personen unter einem unangreifbaren Vorwand zu entledigen. Detailliert geht er dem Prozessverlauf nach (soweit dies angesichts der großen Brandverluste des lokalen Archivs möglich ist), über weite Passagen anhand der chronikalischen Überlieferung Jacques du Clercqs. Diese Quelle zeigt in Verbindung mit der anonymen Recollectio den Weg zu einem geradezu entgrenzten juristischen Verfahren auf, in dessen Verlauf das Wort der Angeklagten immer mehr an Zeugniswert verlor und lediglich das gesuchte Eingeständnis der dämonischen Verbindung als vollwertige und wahrheitsgemäße Aussage akzeptiert wurde. Wenn hier die üblichen Schranken und Vorsichtsmaßnahmen beim Einsatz der Folter fallen, so ist dies in erster Linie mit dem Stellenwert zu erklären, den die Vorstellung der Majestätsbeleidigung, der "lèse-majesté", erhält. ...