Weimarer Beiträge 52.2006
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Mit den medientechnologischen Innovationen des frühen 20. Jahrhunderts rücken neben den Rezeptionsweisen dieser Medien auch die Konditionen der Medienproduktion in den Fokus der literarischen Spiegelungen. Mit den sich ausdifferenzierenden Mediennutzungsgewohnheiten durch Hörer, Leser und Seher werden eben diese zur relevanten Zielgruppe einer sich ebenfalls ausdifferenzierenden Medienindustrie, die nicht nur das Unterhaltungs- und Informationsbedürfnis des Publikums stillt, sondern insbesondere im journalistischen Diskurs über die Informationsauswahl und -steuerung erheblichen Einfluß auf eben das Publikum gewinnt. (Massen-)Medien, Macht und Manipulation treten so in Bezug auf die Produktion wie auf die Rezeption in eine diskursive Relation ein.
Im Zuge der Mediendiversifikation sind es nicht nur die neuen Medien (Rundfunk und Film), deren Aufstieg "die öffentliche Kommunikation in der Weimarer Republik tiefgreifend und nachhaltig" veränderten, sondern auch das alte Medium Zeitung nimmt in den literarischen Reflexen auf diese Prozesse eine zentrale Position ein. Unter dem Stichwort der Intermedialität sind für die Literatur der Weimarer Republik diverse personale wie thematische Beziehungslinien zwischen Zeitung und Roman zu konstatieren.
Stellvertretend für die zahlreichen personalen Überschneidungen zwischen Journalismus und Literatur sind Gabriele Tergit und Erich Kästner zu nennen.
"Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit" : Heinrich Mann und "Die neue Weltbühne" (1933-1935)
(2006)
"Heinrich Mann haben Sie ja viel zu wenig gelobt. Ich möchte, um eine begeisterte Vornotiz schmettern zu können, zu dieser 'Kurt Eisner' abdrucken. Können Sie mir das Kapitel nicht in meinem Bireeh übertragen lassen? Es ist mir zu umständlich, den Band nach Berlin zu schicken und wieder zurückgeschickt zu kriegen - abgesehen davon, daß es mir schwerfällt, mich so lange von ihm zu trennen." Die kleine Notiz, Siegfried Jacobsohn antwortete seinem liebsten Mitarbeiter Kurt Tucholsky in durchnummerierten Absätzen, betraf den Essayband 'Macht und Mensch' von Heinrich Mann, den Tucholsky unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel in der renommierten Berliner Weltbühne vom 17. Juni 1920 rezensiert hatte. Jacobsohn veröffentlichte Manns Essay zum Nachruf auf Kurt Eisner erst acht Monate später in seiner Wochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft. Es war einer von lediglich zwei Aufsätzen, die Heinrich Mann in der "bedeutendsten und wirksamsten kulturpolitischen und radikaldemokratischen Zeitschrift der Weimarer Republik" publizierte, beide veröffentlicht im Jahre 1921. Die Gründe für eine derartige Bescheidenheit können nur vermutet werden.
Das Gegenteil jener publizistischen Zurückhaltung Manns erfuhr der Leser in den Jahren des Exils der Berliner Weltbühne. Die Schließung und die Versiegelung der Verlagsräume am 13. März 1933 gehörten zu den unmittelbaren Wirkungen der nationalsozialistischen Diktatur.
Die untersuchten Romane von Mann und Kertész schaffen beide eine eigenartige Atmosphäre aus überbordender Subjektivität und deren gleichzeitiger Auslöschung; aus Traditionstreue, Konventionsverbundenheit und ihrer souveränen Übertretung zugleich. Beide vergegenwärtigen über die Unverständlichkeit, über das Mysterium des eigenen Todes hinaus die zerstörerischen Kräfte der Weltgeschichte. Serenus Zeitblom berichtet über Ereignisse des zweiten Weltkriegs zur Zeit der Entstehung des Romans, er sinniert über Fragen seiner Gegenwart, während die Handlung - die Geschichte Adrian Leverkühns - anderthalb Jahrzehnte früher spielt. Die Handlung des Kertész-Romans spielt Jahrzehnte nach Kriegsende, um doch mit ihrer ganzen Struktur auf dieselbe Origo, auf den historischen Tiefpunkt des Krieges und der Geschichte, auf Auschwitz, hinzuweisen.
Für die parallele Lektüre der beiden Werke sind sowohl die Verschiedenheiten als auch die Übereinstimmungen ihrer Blickwinkel fruchtbar. Sie betrachten jene Epoche, über die sie berichten, mit den Augen von Zeitgenossen. Beide haben den Krieg unmittelbar erfahren müssen, Mann als Deutscher, Kertész als Jude, beide als Verfolgte. Der Träger des Literaturnobelpreises als Emigrant, dem die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, Kertész als KZ-Insasse, kaum dem Kindesalter entwachsen. Beide bemühen sich in ihren Werken um das bestmögliche Verständnis der Ungeheuerlichkeit, beide versetzen sich, so gut es geht, in Psyche und Gefühlswelt der von der totalitären Macht Verführten, der Gefolgsleute und der Täter, um die Massenpsychose schriftstellerisch zu erfassen und vermitteln zu können. Weder Thomas Mann noch Imre Kertész streben allerdings die einfache Wissensvermittlung an. Sie zeigen vielmehr mit ihren kompliziert konstruierten Romanen, dass selbst die Ergebnisse ihrer Recherchen die ständige Hinterfragung durch die Leser benötigen, um Sinn stiften zu können.
Zum Start einer gemeinsam geplanten Monatsschrift wünschte Siegfried Jacobsohn im September 1926 von Tucholsky den Entwurf für die erste programmatische Seite. Darüber hinaus aber - heißt es dann in Jacobsohns Brief weiter - rate er ihm, einen Artikel mit dem Titel "Der Jahrhundertkerl Heine" zu schreiben. Pompös und ausgiebig sollte dieser Artikel sein, denn es lasse sich darin "wunderschön alles sagen, was wir von der Gegenwart und Zukunft fordern". Jacobsohn sah in einem solchen Artikel Tucholskys "die Hauptsache" für die erste Nummer dieser neuen Zeitschrift, die - vorläufig - als "Das Jahrhundert" angekündigt werden sollte.
Der Vorschlag war nicht neu, denn schon ein Jahr zuvor hatte Jacobsohn seinem Freund und Autor nahegelegt, er solle doch "in einem ganz großen, ganz ernsten Aufsatz den Politiker Heine neu entdecken". Auch das bewundernd-derbe Wort vom "Jahrhundertkerl" Heinrich Heine findet sich bereits hier. Das folgende Jahrhundert, das 20., meint Jacobsohn, habe - zumindest in seinem ersten Viertel - seinesgleichen nicht hervorgebracht. Der politische Heine wird also von Jacobsohn akzentuiert, ja, eine aktuelle Charakteristik seiner Vorstellungen geradezu als eine Neuentdeckung betrachtet. Wie weit das zutrifft, sei dahingestellt - um ein zeitgemäßes Verständnis des Schriftstellers Heine bemühten sich damals auch andere. Entscheidend ist, daß es Jacobsohn dabei um Heine als eine programmatische Leitfigur ging, er hoffte - wie es in einem anderen Brief an Tucholsky heißt - auf "einen Hymnus auf Heine, der Dir und mir aus dem Innersten käme".
Viel, sehr viel ist schon über die Behandlung der Geschlechterdifferenzen bei Ingeborg Bachmann gesagt und geschrieben worden. Spätestens bei der Veröffentlichung der vierbändigen Ausgabe von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum (1978) entdeckten die InterpretInnen erstmals Bachmanns Auseinandersetzung mit der untergeordneten Stellung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft. Ihr Werk hat aber den feministischen Bachmann-InterpretInnen immer große Schwierigkeiten bereitet, indem es sich jeder Theorie, jeder Festlegung entzog. Man konnte ihr zum Beispiel in den siebziger, achtziger Jahren vorwerfen, hilflos leidende oder leidenschaftlich liebende Frauenfiguren dargestellt zu haben, die sich mit ihrem Opferstatus abfinden, das heißt dadurch die Geschlechterpolarität und die Rollenverteilung des 19. Jahrhunderts zu reproduzieren. Später neigte man dazu, ihr Werk theoretisch auf den französischen Poststrukturalismus undifferenziert zu beziehen. Ich möchte hier zeigen, wie sehr Bachmann immer wieder zwischen Konstruktion und Dekonstruktion der Geschlechterdifferenzen, das heißt auch zwischen einem kritischrealistischen und einem utopischen Bild der Gesellschaft und gesellschaftlichen Realität hin und her pendelt. Meines Erachtens sollte man die österreichische Schriftstellerin und ihr Werk an keiner festen, eindeutigen Stelle geisteswissenschaftlicher Entwicklung verorten, mit keiner "Schule" verbinden; vielmehr wird hier festgestellt, daß sie etliche Entwicklungen vorausgenommen, vieles antizipiert hat, ohne jemals mit einer Bewegung identifiziert werden zu können. Was natürlich nicht ausschließt, daß sie von einigen vereinnahmt werden mochte.
Paradigma und Diskurs
(2006)
Die literaturwissenschaftliche Karriere von 'Paradigma' und 'Diskurs' - Ausdrücken, die einen begrifflichen Status schon lange vorher in der Rhetorik, der Philosophie oder der Sprachwissenschaft erlangt hatten - datiert erst von der Rezeption der Arbeiten Thomas S. Kuhns und Michel Foucaults. Beide Ausdrücke sind mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch der Literaturwissenschaft eingegangen und finden sich oft in ein und demselben Text, obwohl die Konzeptualisierung, die sie bei Kuhn bzw. Foucault erfahren, auf ganz unterschiedliche Theorieansätze zurückgeht. Den Grund für ihren Erfolg kann man darin sehen, daß sie von den genannten Autoren zur Beschreibung bestimmter auch literaturwissenschaftlich relevanter Komplexe von kognitiven, kommunikativen und pragmatischen Vorgängen und Verhältnissen eingesetzt wurden, für die der Literaturwissenschaft, wenn sie sie überhaupt thematisiert hat, bislang die Begriffe fehlten. Hinzukommt, daß die viel besprochenen semantischen Unklarheiten und Bedeutungsverschiebungen im Gebrauch dieser Ausdrücke durch die Autoren selbst von den Rezipienten dazu genutzt werden konnten, die Begriffe von 'Paradigma' und 'Diskurs' dem je eigenen Erkenntnisinteresse entsprechend zu modellieren. In Anbetracht des demzufolge in der Literaturwissenschaft bestehenden unterschiedlichen Begriffsverständnisses ist hier darzulegen, in welchem Sinne ich von 'Paradigmen' und 'Diskursen' spreche und in welches Verhältnis zueinander diese Begriffe dabei gesetzt werden.
Poesie und Trauma der Grenze : literarische Grenzfiktionen bei Ingeborg Bachmann und Terézia Mora
(2006)
Meine Überlegungen in diesem Essay gelten zwei sehr unterschiedlichen Grenzfiktionen in der Prosa von Ingeborg Bachmann und Terézia Mora, die in der Kontrastformel meines Titels als Poesie und Trauma der Grenze umschrieben sind. Damit bezeichne ich die Tendenz dieser topographisch angelegten Geschichten, eine prekäre Marginalität im Hinblick auf eine imaginäre Herkunft zu transzendieren oder als allegorisches Verfallsszenario zu chiffrieren.
Es handelt sich um Ingeborg Bachmanns Erzählung 'Drei Wege zum See', die letzte und längste von fünf Geschichten des 1972 erschienenen 'Simultan'- Bandes und auch die letzte Publikation zu Bachmanns Lebzeiten, sowie um Terézia Moras ersten Erzählband 'Seltsame Materie', dessen zehn Geschichten allesamt im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet in unmittelbarer Nähe des Eisernen Vorhangs angesiedelt sind. Für eine dieser Erzählungen mit dem Titel 'Der Fall Ophelia' wurde die 1971 in Ungarn geborene und seit dem Ende des Kalten Krieges in Berlin lebende Schriftstellerin auch mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis des Jahres 1999 ausgezeichnet. Der zeitkritische Gestus von Bachmanns Erzählung ist geprägt von einer modernen Entfremdungserfahrung und der Sehnsucht nach einem imaginären Ursprung; der anti-heimatliche Blick Terézia Moras auf das Terrain der eigenen Herkunft resultiert aus der alptraumhaften Erfahrung der Welt als Gefängnis, wie sie sie in einer Europa-Kolumne zum EU-Beitritt mittelosteuropäischer Länder im Mai 2004 skizziert hat: "Ich durfte zur ersten Generation gehören, die ihr Erwachsenenalter in einer neuen Welt begann. Vom Atomkrieg habe ich seither nicht mehr geträumt. Von Grenzschikanen bis heute. [...]"
Die Reaktionen auf das Werk Thomas Bernhards sind Paradebeispiele für das Missverständnis, Literatur habe unvermittelt etwas mit Politik, Philosophie oder anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu tun. Auch Aussagen von Bernhard selbst forcieren diesen Eindruck, gleich, ob sie in den 'faktualen' Interviews, den wenigen poetologischen Texten, den Reden zu Preisverleihungen, der meist referentiell gewerteten Textsorte Autobiographie oder in den 'fiktionalen' Texten geäußert werden: "Zu Lebzeiten war das Bild des Autors Thomas Bernhard vor allem in Österreich ganz wesentlich von Skandalen geprägt."
Inhaltlich umfassen die Themenbereiche die 'Makro-' bis zur 'Mikroebene' des Sozialen: Der Staat Österreich wird zum Ziel des Angriffs, die von Bernhard angeprangerten Kontinuitäten in nationalsozialistischer Hinsicht, der Katholizismus (die Religion), unterschiedliche Institutionen, beispielsweise das Schulsystem, die Musikausbildung, die Familie, konkrete Personen bis hin zum Leitzordner in der Auslöschung, der dann wiederum als Symbol für eine bürokratisierte österreichische und europäische 'Leitzordnerkultur' auf die Makroebene hochgerechnet wird.
Auch in der Forschung wird immer wieder die Frage nach dem Realitätsgehalt der Texte Bernhards aufgeworfen: Wieviel Dichtung, wieviel Wahrheit beinhaltet die Autobiographie, wieviel Biographie die 'Fiktion', wie ist Österreich im Text repräsentiert?
Gut zwei Jahrzehnte nach dem Werther schrieb Johann Wolfgang Goethe nach Ansicht der enthusiastischen Zeitgenossen mit ‚Alexis und Dora‘ eine "seiner besten Compositionen". Schiller, Friedrich Schlegel, Jean Paul, Wieland, sie alle feierten in Alexis und Dora eine in altgriechischen Distichen abgefaßte Hymne auf die Liebe. Sie verstanden den Inhalt als Idylle, eine Kategorisierung, die der Autor am 7. Juli 1796 in einem Brief an Schiller, wie auch im Untertitel des Erstdruckes im 'Musen Almanach für das Jahr 1797', zunächst übernahm. Drei Jahrzehnte später, am 25.12.1825, bezeichnete Goethe das Gedicht im Gespräch mit Eckermann jedoch als Elegie. Für den ehemaligen Präsidenten des Internationalen Germanistenverbandes, den Göttinger Germanisten Albrecht Schöne, verkörpert dieser aus gattungstheoretischen Prinzipien abgeleitete Gegensatz zwischen Idylle und Elegie die Essenz eines bis in unsere Tage fortwirkenden Mißverständnisses dessen, was der Autor poetisch dargestellt habe. Er nennt in seiner Neuinterpretation einiger Goethetexte die auf Schiller und seine kurz zuvor veröffentlichte Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung zurückzuführende Kategorisierung des Gedichtes im Sinne der "poetische[n] Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit [...], die durch 'innere Notwendigkeit', 'Wahrheit', und 'Schönheit', durch 'Unschuld und Einfalt'" bestimmt ist, eine bis ins 20. Jahrhundert wirksame aber irreführende Rezeptionsvorgabe. Schillers Kategorien, aus ihrem Zusammenhang der ästhetischen Reflexionen herausgelöst, hätten das Verständnis des Werkes präformiert wie verstellt und aufgrund seiner Autorität eine jahrhundertelange Fehldeutung veranlaßt.
Der sensationelle internationale Erfolg von Bernhard Schlinks Roman 'Der Vorleser', der im fünften Jahr der deutschen Einheit erschien, wird in der kritischen Rezeption des Werks selten nachdrücklich der skandalösen und leicht schlüpfrigen Liebesgeschichte zugeschrieben, die im Mittelpunkt des Buchs steht. Dennoch scheinen, wie William Donohue bemerkt hat, Leser die pubertäre Liebesaffäre zwischen dem fünfzehnjährigen Jungen Michael Berg und der sechsunddreißigjährigen Hanna "einfach zu lieben". Wenige haben sich in der Folge mit der eng damit verbundenen Frage auseinandergesetzt, was eine Liebesgeschichte dieser Art in einem durchaus ernst zu nehmenden Werk der Holocaustliteratur zu suchen hat. War die Rezeption der ersten Jahre sowohl im englisch- wie deutschsprachigen Raum durch eine seriöse Behandlung der Thematik der Schuld, beziehungsweise der entschuldigenden Darstellung von Hannas Schuld und des Problems des Analphabetismus gekennzeichnet, so haben sich bislang die Liebeserzählung und ihre Verbindung zum restlichen Geschehen einer nachhaltigen kritischen Behandlung entzogen. Die beißende Kritik etwa von Jeremy Adler, der in der Ausgabe vom 22. März 2002 des 'Times Literary Supplement' den Roman als Beispiel für "Kulturpornographie" abgetan hat, und in Deutschland das verdammende Urteil von Willi Winkler in der 'Süddeutschen Zeitung', der den Roman als "Holo-Kitsch" bezeichnet hat, haben an der positiven Resonanz des Werks erstaunlich wenig ändern können.