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Wegweisung zur Begegnung mit Gott : Religiöse Belehrung in einer Altzeller Predigthandschrift
(2009)
Vermutlich gibt es kaum eine Gattung in der Überlieferung mittelhochdeutscher Schriftlichkeit, die als solche mehr Rätsel aufgegeben hat als die Predigt. [...] Zwar legt die rhetorische Ausarbeitung mit Publikumsanreden und erkennbar geschulten Argumentationstechniken den Bezug zum Vortrag in der Messe stets nahe, aber keiner der überlieferten Texte kann als Schriftfassung einer im Wortlaut je so vorgetragenen Predigt verstanden werden. Der auf Performanz zielende Charakter verdankt sich auch der Verwurzelung der artes praedicandi in der traditionellen Rhetorik und kennzeichnet die Texte bei der stillen oder auch lauten Lektüre – mit oder ohne Zuhörerschaft – als Akte der Verkündigung. Dementsprechend nutzten die Rezipienten diese Lektüre zur eigenen Erbauung oder zum Studium von Musterbeispielen für eigene pastorale Arbeit. Die mittelhochdeutschen Predigten öffnen sich für diese Arten der Nutzung jeweils unterschiedlich stark: […] wie etwa die […] so genannten ›Schwarzwälder Predigten‹ oder die unter dem Namen Hartwigs / Hartungs oder auch Heinrichs von Erfurt überlieferten. Hier kam es in der Tradierung ganz offenbar weniger auf Authentizität an als vielmehr auf Anpassung an jeweils verschiedene Verwendungszusammenhänge. Auf den Überlegungen Ruhs aufbauend, haben die Arbeiten von Volker Mertens und Hans-Jochen Schiewer gezeigt, wie die jeweilige Einrichtung den Text verschiedenen Funktionen annähert. Demnach zeigen sich diese Predigten im Bild der divergenten Überlieferung als äußerst polyfunktionale Texte.
Inkompetente Instanzen, defizitäre Tugenden : Lehren von minne und mâze in der höfischen Lyrik
(2009)
Daß 'minne ' und 'mâze ' einander ausschließen, haben Interpretationen von Walthers Lied 'Aller werdekeit ein füegerinne ' (46,32ff.) seit fast einem halben Jahrhundert erwiesen. Wenn dennoch erneut der Versuch unternommen wird, dem Verhältnis dieser beiden Leitbegriffe der höfischen Literatur auf die Spur zu kommen, soll dies unter den Fragestellungen geschehen, welche Position der jeweilige Sprecher einnimmt, ob er Autorität beanspruchen kann, ob er als Lehrmeister oder als zu Belehrender auftritt und ob oder gegebenenfalls wie das im Text aufgestellte Dilemma gelöst werden kann. Mit Blick auf den Waltherschen Text werden solche Lieder ausgewählt, in denen 'minne ' durch ein zusätzliches Adjektiv wie 'nider' oder 'hôch ' näher qualifiziert wird oder in denen Begriffe wie 'werdekeit' oder 'herzeliebe' thematisiert werden, Lieder zudem, die nach Möglichkeit einen Lehrgestus präsentieren.
Spruchreihen im Lied
(2009)
In der Innsbrucker Handschrift der Lieder Oswalds von Wolkenstein steht als eines der letzten Lieder Kl. 115, eingetragen nach 1438, offenbar eines der spätesten Lieder Oswalds. Schon Wilhelm Grimm hat gesehen und Josef Schatz und Albert Leitzmann4 haben es im Einzelnen nachgewiesen, dass es sich bei diesem Lied um eine Umarbeitung von Freidank-Sprüchen in Liedstrophen handelt, die freilich als Oswalds eigene Lehre dargeboten werden […]. Die enge Anlehnung an die Quelle lässt erkennen, dass Oswald einer Handschrift folgte, die in etwa der von Hermann Paul als ursprünglich postulierten Anordnung von Freidanks Sprüchen entsprach. [...] Versucht man, Inhalt und Aussageweise des Lieds zusammenfassend zu charakterisieren, ist man auf höchst allgemeine Stichwörter angewiesen: Es handelt sich um elementares geistliches und weltliches Orientierungswissen und um konsensfähige Urteile, dargeboten in kurzen Sprüchen, prägnanten gnomischen Feststellungen. Derartige Sprüche hat Oswald auch sonst gern zitiert. Nirgends aber hat er diesen vielfältigen Weisheits- und Erfahrungsschatz so ausschließlich benutzt wie in dieser Bearbeitung von Freidanksprüchen, nirgends hat er so wenig auf Kohärenz der Aussagen geachtet. Haben die Zeitgenossen beim Vortrag dieses Liedes nicht ebenso wie wir die gedankliche Einheit vermisst?
In letzter Zeit wird in Bezug auf alte Bücher und Büchersammlungen immer häufiger der Blick auf die Rezeptionsgeschichte geworfen, sei es für Biografien, wenn ermittelt werden soll, welche Bücher die porträtierte Person besessen und genutzt hat, oder sei es für kulturgeschichtliche Arbeiten, wenn gefragt wird, wer zu welcher Zeit welche Lektüre betrieb. Auch die Fragen, welche Informationen über Bücher wann und wohin verbreitet wurden und welche Auswirkungen dies in Politik, Wirtschaft und Kunst hatte, scheinen zunehmend interessanter. Große Datensammlungen zu Rezeption und Provenienzgeschichte sind indes noch selten. Deshalb ist es angebracht, den Blick in Bibliotheken mit großen Altbestandsteilen zu werfen. Beispielhaft soll im Folgenden die "Sammlung Frankfurter Drucke" der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main (UB Ffm) betrachtet werden. Es soll geklärt werden, wie häufig Lese- oder andere Benutzungsspuren in Frankfurter Drucken des 16. Jahrhunderts zu finden sind. Außerdem soll versucht werden, einige der frühen Besitzer dieser Drucke zu identifizieren.
Ähnlich wie Robert Musils Kakanien sollte auch das postkoloniale Indien als ein Land des »Sowohl als auch u(nd) des Weder noch« gedacht werden. Statt der aristotelischen Logik des »Entweder-oder« sollte eine Art dialektischer Logik helfen, der Komplexität der geschichtlichen Entwicklung Indiens gerecht zu werden. Auf dem günstigen Boden eines säkularen Staats sollten die Traditionen von kultureller Toleranz, kommunikativer Mehrsprachigkeit und religiösem Synkretismus wieder ihren gerechten Platz bekommen, nachdem die Epistemologie des Kolonialismus die Komplexität Indiens als Chaos begriffen hatte und durch Grenzziehungen in allen lebensweltlichen Bereichen ›Homogenisierung‹ als identitätsstiftenden Wert erfunden und als handlungsbestimmend installiert hatte. Das säkulare Projekt war, wie wir wissen, eine Utopie, deren Charme durch den Angriff auf sie eher erhöht als vermindert wird. Sie lebt im fundamentalistisch geprägten Indien im ironischen Modus zwar weiter, aber der konzentrierte Angriff von Hindu-Fundamentalisten auf Monumente aus der Zeit der islamischen Herrschaft unterstreicht ja nur die Fragilität utopischer Projekte in Indien. Es geht um Moscheen, die angeblich auf dem Fundament (!) von zerstörten Tempeln gebaut wurden. Sie sind juristische und wissenschaftliche Streitobjekte; Orte eines neuen, religiös geprägten Gedächtnisses, das im triumphalen politischen Aufstieg historische Wiedergutmachung durch Zerstörung der Symbole der nationalen Schmach erlangen will. Es geht also nicht um die historisch behutsame Pflege von alten Monumenten oder um Restaurierung, sondern schlicht um Zerstörung und um Auslöschung des historischen Gedächtnisses.
"Nur die oberflächlichen Eigenschaften dauern", so Oskar Wilde in seinen 'Sätzen und Lehren zum Gebrauch der Jugend': "Des Menschen tieferes Wesen ist bald entlarvt". Ausgehend von der These, dass der Poetik Jelineks ein "Lob der Oberfläche" eingeschrieben ist, möchte ich im folgenden die Rolle der Mode beleuchten, und zwar nicht nur als Oberflächenphänomen, sondern auch als Übergangsphänomen, das an der Schwelle zwischen Oberfläche und Tiefe in Erscheinung tritt.
Der goldene Topf
(2009)
E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf, ein "Märchen aus der neuen Zeit", wie es im Untertitel heißt, erschien 1814 als dritter Band der "Fantasiestücke in Callot's Manier". Der Goldene Topf ist ein "Entwicklungsroman in Märchenform", in dem das Verhältnis von 'bürgerlicher' und 'wunderbarer' Welt in Form einer Liebesgeschichte erzählt wird, die sich als merkwürdige Dreiecksbeziehung entpuppt: Protagonist ist der Student Anselmus, der, hin- und hergerissen zwischen der bürgerlichen Veronika und der wunderbaren Serpentina, im Verlauf der Handlung seine 'romantische Metamorphose' vom Schreiber zum Schriftsteller erfährt. Anselmus hat eine Begabung zur Kalligraphie, zur Schönschrift also, und so macht er das Kopieren zum Beruf – doch seine Berufung ist die Poesie: die sublimierte Kalligraphie, bei der die schöne Schrift zu wahrer Schrift veredelt wird.
"Die Traumspiele der Weltliteratur sind Gedankenspiele" schreibt Arno Schmidt in seinen Berechnungen. Und er fährt fort: "Was man nämlich im allgemeinen einen 'Träumer' schilt ist in Wahrheit weiter nichts, als ein süchtig-fauler Gedankenspieler". Bereits Freud weist in seinem Aufsatz über den "Dichter und das Phantasieren" darauf hin, daß der Dichter ein "Träumer am hellichten Tag" sei und seine schöpferische Phantasie "Tagtraum".
Ich möchte im folgenden der Frage nachgehen, inwiefern Traum und Gedankenspiel nicht nur als Verfahren auktorialer Text-Konstruktion, sondern auch als Prozeß lesender Text-Rezeption gefaßt werden können. Mit Bezug auf den amerikanischen Philosophen und Semiotiker Charles Sanders Peirce möchte ich überlegen, inwiefern das Gedankenspiel der Logik des Lesens zugrunde liegt – und inwiefern sich Schmidts Überlegungen zum "Längeren Gedankenspiel" nicht nur als Konzept für "neue Prosaformen" deuten lassen, sondern auch als Konzept neuer Lektüreformen.
„Unser Erich Mühsam“, das hat seine damals kleine Gemeinde auf seinen Grabstein meißeln lassen; es steht da bis heute. Was heißt es aber heute? […]
Er wirkt, sofern er noch wirkt, als politischer Dichter, kein Zweifel. Aber nicht durch die Verve seines politischen Urteils und Einsatzes, auch wenn man diese nach wie vor sehr bewundern kann. Sondern durch diejenigen Beobachtungen, Erwägungen und Urteile in seinen Gedichten, die gedanklich und sprachlich ‚gelungen‘ sind, indem sie demonstrativ offen bleiben, überraschen, kratzen, zum Weiterdenken anstacheln, sowie durch manche entwaffnende Wendung in seinen Reden und der stark redeähnlichen Prosa […].Diese sprachlich inszenierten Attacken auf das politische Normalbewusstsein wirken auch – potentiell – auf mehr heutige Zeitgenossen als nur auf diejenigen, die das Credo des Anarchismus mit dem Autor teilen. Allerdings müssen die heute noch zündenden witzigen und hintersinnigen Produktionen aus den konventionell konstatierenden und agitatorischen regelrecht herausgeklaubt werden – deshalb wird in dieser Untersuchung erst einmal, so knapp wie kritisch, sein politisch-rhetorischer Stil charakterisiert, ehe die eigentlich die Arbeit lohnenden Funde an durchschlagenden Einfällen entfaltet werden. Mühsam wollte vor allem „brauchbare“ Verse liefern, und zwar brauchbar für die politischen Kämpfe seiner Zeit. Da seine Verse aber diese Kämpfe überlebt haben und da unsere Zeit andere politische Bewegungsformen, eine andersartige Verbindung von Bewusstsein und Aktion verlangt als die damalige, wird er es sich gefallen lassen müssen, dass wir auch von ihnen einen anderen Gebrauch machen.
Der vorliegende Band versammelt eine Anzahl grundlegender Texte der Kulturwissenschaft, die Antwort auf zwei Fragen geben sollen, nämlich erstens: Was ist Kultur? und zweitens: Was ist Kulturwissenschaft? Dabei ist davon auszugehen, daß sich beide Fragen wechselseitig bedingen, mehr noch: daß es Interferenzen zwischen Kulturbegriff und Kulturwissenschaft gibt: […]. Möglicherweise muß man bereits an dieser Stelle Zweifel anmelden, ob die beiden […] Was-ist-Fragen überhaupt sinnvoll sind – implizieren sie doch einen essentialistischen Kulmrbegriff. Sollte man sie nicht ersetzen durch die Fragen: Was macht Kultur? Und: Was macht Kulturwissenschaft? Im folgenden können vermutlich weder die Was-ist-Fragen noch die Was-macht-Fragen befriedigend beantwortet werden; vielmehr möchte ich versuchen, den Raum zwischen diesen beiden Fragestellungen zu erkunden, um zu klären, um welche Art von Raum es sich dabei handelt. Aber auch, um zu klären, was Kulturwissenschaft in diesem, aus diesem »in between space« macht. Wie transformiert sie diesen »Zwischenraum« in einen »Denkraum«?