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Der Beitrag Alexander Honolds beschäftigt sich mit der Funktionalisierung Goethes im Rahmen der literarischen Produktion um 1900. Am Beispiel Thomas Manns und partiell auch Hugo von Hofmannsthals führt er vor, inwiefern eine "Goethe-Imago" in ihren nach der Jahrhundertwende entstandenen Werken eine permanente poetologische Reflexion und eine narrative Entfaltung der "Instanz des Autors als solcher" in Gang gesetzt habe. Dabei sei es die seit dem späten 19. Jahrhundert kurrente Diskursfigur des 'Nationaldichters' und die Behauptung einer von Goethe einmalig vollzogenen Einheit von Leben und Werk, die seine Attraktivität auch für Thomas Mann fundierten. Dieser unternehme aber keineswegs den Versuch, solche Vorstellungen zu aktualisieren. Im Gegenteil müsse seine Orientierung an Goethe im Kontext "krisenhafter Begründungsversuche einer kanonfähigen, legitimierten Autorschaft" gesehen werden, die Goethe auf eine "Habitus-stiftende Funktion" festlegten. Nicht nur die seine frühen Novellen durchziehende Polarität von Leben und Kunst, auch und v. a. die Polarität von Dichtung und Literatur habe Mann wesentlich über die Rückbesinnung auf Goethe entworfen und sie konsequent in die Absicht einer "Modernisierung des Dichterbildes zur Schriftstellerinstanz" integriert. Honold weist dies vornehmlich am "Tod in Venedig" (1911) nach. Mit und neben motivischen Anspielungen wie der 'italienischen' Reise und der späten Liebe Goethes zu Ulrike von Levetzow seien es v. a. Figurationen der Autorschaft, welche die Novelle in Anlehnung an Goethe konsequent ausspiele. Sei Goethe in Italien etwa immer wieder auf die Diskrepanz zwischen antiker und moderner Kunst aufmerksam geworden, so setze die Mann'sche Erzählinstanz ihren Autor-Protagonisten wie sich selbst zeitweilig einer "antikisierenden Infektion" aus. Diesen "gespielten Verlust der erzählerischen Contenance" betrachtet Honold als Ausdruck einer Goethe-Imago, mit der sich "die moderne Autorschaft ihrem Souveränitätsproblem stellt".
Nicolas Berg wirft einen Blick auf die intensive und facettenreiche Goethe-Verehrung deutsch-jüdischer Milieus um 1900. Mit Goethe habe sich im deutschen Judentum grundsätzlich die Hoffnung auf eine Anverwandlung "universeller Werte der Kultur" verbunden, und die Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk sei aus diesem Grund weder mit bloßer "Klassikerbeflissenheit" noch mit gängigem "Kulturnationalismus" zu verwechseln. Dies erkenne man nicht zuletzt daran, dass jüdische Spielarten der Goethe-Aneignung eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe keineswegs ausgeschlossen hätten. Berg erinnert an die Fülle philologischer, philosophischer wie populärwissenschaftlicher Goethe-Arbeiten von jüdischen Autoren. Von besonderer Attraktivität sei dabei oft der Goethe'sche Bildungsgedanke gewesen, da dieser die Überwindung "beruflicher Barrieren" wenigstens im Imaginären zugelassen habe. Das Bedürfnis nach einem Ausweis deutsch-jüdischer Affinitäten zeige sich darüber hinaus an der Behauptung einer inneren Verwandtschaft v. a. zwischen Spinoza und Goethe, die spätestens um 1900 zum Topos aufsteige. Der Blick auf die gesellschaftspolitischen Realitäten der Zeit drohe freilich, die gesamte Konstellation als traurige "Phantasmagorie" offenzulegen.
Claude Haas untersucht anhand der einflussreichen Goethe-Monographie Friedrich Gundolfs (1916) die wichtigsten Eigenarten und Funktionen eines dezidiert heroischen Goethe-Kults seit 1900, die in verdeckter Form jahrzehntelang fortwirkten. Haas' Ausgangspunkt bildet eine seinerzeit ungemein kontrovers diskutierte Rede, die Karl Jaspers 1947 im Rahmen der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt hielt. Diese entwarf das Idealbild einer Goethe-Aneignung, die den Klassiker ganz auf den privaten Bereich und auf die betont bescheidenen Zwecke der "Erholung" und der "Ermunterung" festzulegen versuchte. Während Jaspers seine Überlegungen als endgültigen Bruch mit einem vermeintlich gemeinschaftlich orientierten "Goethe-Kultus" ausweist, macht Haas geltend, dass ein heroischer Goethe-Kult Gundolf'scher Prägung auf der Ebene seiner Adressierung immer schon zutiefst privatistisch orientiert gewesen sei. Dies lasse sich an der Grundtendenz von Gundolfs Studie ablesen, die über die Darstellung von Goethes Leben und Werk immanent stets auch Regeln und Ziele des eigenen Goethe-Kults abhandle. Dabei richte sich Gundolf jedoch nicht nur an den Einzelnen, sondern an den mithilfe Goethes überhaupt erst "Zu-Vereinzelnden". Indem Gundolf das 'Erlebnis' Goethes einerseits gegen die bürgerliche Moderne in Stellung bringe, indem sein Goethe-Kult andererseits aber sozial wie politisch folgenlos bleiben müsse, stellten Freizeit, Unterhaltung und 'Erholung' seinen heimlichen Fluchtpunkt dar. Unter der Hand führe bereits Gundolf den idealen Goethe-Anhänger in ein Refugium, in dem er sich mit Goethe zerstreue. Haas weist dies abschließend an dem von Gundolf konstatierten Verfall von Goethes Spätwerk nach. Gundolfs Verriss von Faust II als Unterhaltungsliteratur führt er darauf zurück, dass der Autor sich hier mit den uneingestandenen Aporien und Paradoxien seines eigenen Goethe-Kults konfrontiert gesehen habe.
Stefan Willer analysiert die zahlreichen um 1900 kursierenden Pathologien und Pathographien 'großer Männer', die Goethe oft als privilegiertes Fallbeispiel bemühen. Die diese Schriften kennzeichnende Mixtur aus "biographischem Interesse", "vitalistischer Weltanschauung" und "metaphysischer Überhöhung" betrachtet Willer als typisch für eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts prosperierende 'lebenswissenschaftliche' Goethe-Rezeption, die Goethe allerdings nicht degradiere, sondern die in der Regel sogar zu einer "umso emphatischeren Aufwertung" seiner "künstlerischen Lebensleistung" führe und Goethe auf ihre Art anschlussfähig für das neue Jahrhundert mache. Während insbesondere Schiller vom pathologischen Diskurs als ein "heroischer" (und rein biologisch Kranker) kanonisiert worden sei, schlage dieser Goethe auf die 'nervöse', 'innerliche' und partiell auch 'dekadente' Seite der Modernität. Im Zentrum von Willers Untersuchung steht die Studie "Ueber das Pathologische bei Goethe", die der Psychiater Paul J. Möbius 1898 vorgelegt hat. Neben dem "diagnostisch-lesenden Blick" und der "symptomalen Lektüre", die sowohl Goethe'sche Figuren wie Werther oder Gretchen als auch bedeutende Lebensstationen des Autors pathologisch einordnen, gilt Willers besonderes Interesse der Partizipation dieser Studie an den wichtigsten medizinischen Diskursen ihrer Zeit. Die Untersuchung verrate den Einfluss einer bereits von Cesare Lombroso wissenschaftlich behaupteten Affinität von Genie und Wahnsinn ebenso wie den der Entartungs-Theorie Max Nordaus. Die seit dem späten 19. Jahrhundert gängige Verbindung zwischen Pathologie und Degenerationsdiskurs appliziere Möbius jedoch allenfalls zaghaft auf Goethe. Stattdessen unterlege er die Goethe'sche Pathologie einer Entwicklung, die sich in Sieben-Jahres-Zyklen manifestiert habe. Willer flankiert seine Möbius-Lektüre systematisch mit anderen Goethe-Pathographien jenseits der Psychiatrie bis in den Nationalsozialismus hinein und er konfrontiert Möbius abschließend mit prominenten psychoanalytischen Goethe-Lektüren. All diesen Bemühungen sei gemeinsam, dass sie Goethe als Patienten betrachteten. Gemeinsam sei ihnen aber auch, dass die Ärzte als von Goethe permanent 'Affizierte' ihrerseits "in die Nähe des Patienten-Status" zu geraten drohten.
Alexander Schwieren untersucht die Bedeutung Goethes für die im frühen 20. Jahrhundert sich formierende Gerontologie. Zwar habe deren eigentlicher Gründungsvater Hans Thomae seine Disziplin ab den 1960er Jahren auf eine Wissenschaftsanmutung verpflichtet, die auf literarische und künstlerische Bezugnahmen zusehends verzichten musste, doch wirke die zentrale Rolle, die v. a. Goethes Alterswerk in der Vorgeschichte der Gerontologie gespielt habe, bis heute nach. So lasse sich in den Schriften Eduard Sprangers - vermittelt wesentlich über Dilthey - der Versuch beobachten, den späten Goethe unter entwicklungspsychologischem (und nicht etwa unter biologischem) Gesichtspunkt als einen Autor auszuweisen, der an seiner eigenen Vollendung im Alter gescheitert sei. Spranger weist dies an den Perspektiv- und Standortwechseln insbesondere von Wilhelm Meisters Wanderjahre nach, die in den Augen Schwierens wichtige Erkenntnisse der Narratologie vorwegnehmen, die Spranger selbst jedoch konsequent als entwicklungsbedingte Kompositionsschwäche begreift. Georg Simmels bekannte Gegenposition, die kategorische ästhetische Aufwertung des Goethe'schen Alterswerks, festige ebenfalls einen Diskurs, der das Alter als Entwicklungsstadium eigenen Rechts betrachte. Die Divergenz zwischen biologischer und psychologischer 'Lebenskurve', wie sie etwa in Charlotte Bühlers Unterscheidung zwischen 'Verenden' und 'Vollenden' manifest werde und wie sie auch Erich Rothackers Überlegungen zum Alter grundiere, habe die Gerontologie anfangs bewusst, später oft unbewusst oder gar uneingestanden unter dem Rückgriff auf ihre Lektüre des späten Goethe formuliert. V. a. die Vorstellung, dass das Alter ›scheitern‹ könne und dass es eine genuine 'Aufgabe' darstelle, wäre Schwieren zufolge ohne die gerontologische Beschäftigung mit Goethes Spätwerk in den 1920er und 30er Jahren kaum denkbar gewesen.
Jürgen Oelkers wirft einen dezidiert kritischen Blick auf den Stellenwert Goethes innerhalb der Pädagogik der Lebensreformbewegung. Am Beispiel insbesondere Paul Geheebs, dem Gründer der Odenwaldschule, und am Beispiel auch seines späteren Nachfolgers Gerold Becker führt Oelkers vor, dass die emphatische Berufung auf Goethe kaum mehr als eine "bildungsbürgerliche Leerformel" und eine Marketingstrategie des betreffenden Privatschul- und Internatswesens dargestellt habe. Die an Goethe vermeintlich anschließende Beschwörung einer "pädagogischen Provinz" habe sich als bloße Metapher schnell "verselbständigt". Auch seien die Abschottung gegen die Zivilisation und die gesellschaftsemanzipatorischen Versprechen der Pädagogik eines Geheeb oder Wyneken eher Rousseau, Pestalozzi und Fichte als dem notorisch ich-zentrierten Goethe verpflichtet, der seinerseits vor den "großspurigen Verheißungen" der berüchtigten Pestalozzi'schen Methode bereits gewarnt hatte. Aber auch diese Filiationen lässt Oelkers eher für das Selbstverständnis als für die erzieherische Praxis von Jugend- und Lebensreformbewegung gelten, die er aufgrund ihrer pädagogischen Misserfolge und aufgrund unzähliger Fälle sexuellen Missbrauchs vollständig diskreditiert sieht. Anhand der Todesanzeige Gerold Beckers legt er abschließend offen, dass ein Gedicht-Zitat aus den "Zahmen Xenien" hier die Funktion erfülle, Beckers - wie im Übrigen auch Hartmut von Hentigs - Verleugnung eigenen schuldvollen Verhaltens wiederum mithilfe Goethes zu legitimieren.
Daniel Weidner kann am Beispiel der Goethe-Studie Georg Simmels (1913) nachweisen, dass der epistemologische Rückgriff auf Goethe die Geistes- und Kulturwissenschaften auch produktiv herauszufordern vermag. Anders als Dilthey und anders v. a. als Gundolf oder Spengler versuche Simmel theoretische Probleme oder Begründungsnöte des eigenen Diskurses anhand Goethes nämlich nicht zu verschleiern oder stillzustellen, vielmehr werfe er solche Probleme in seiner lebensphilosophisch wie kulturtheoretisch interessierten Monographie überhaupt erst systematisch auf. Zwar entstehe die große Faszination Goethes auch für Simmel zunächst durchaus aus einem klassischen Einheitsbegehren. Das Versprechen einer Vereinigung 'absolut' scheinender Gegensätze in der Figur Goethes führe Simmel aber nicht in die Sackgasse einer Monumentalisierung, sondern in eine "Art heiße Zone", in der "verschiedene Oppositionen und Begrifflichkeiten" verdichtet, reflektiert und permanent neu justiert werden müssten. Weidner zeigt dies v. a. anhand der drei für die zeitgenössische Kulturwissenschaft zentralen Konzepte von 'Individuum', 'Wert' und 'Leben'. Am Beispiel der Wert-Kategorie etwa stoße Simmel immer wieder auf das Problem, dass Werte zwar relativ seien, dass sie aber immer auch dazu neigten, sich in neue Endzwecke zu verwandeln. Und die Relation von Leben und Kunst gebe in Simmels Umkehrungen und in einer an Goethe selbst zurückgespielten Dialektik den Blick auf Prozesse der Konstruktion von Relationen als solcher frei. Es sei in letzter Instanz die Einsicht in die "Übergängigkeit zwischen verschiedenen Werten oder Wertgebieten", die Simmel als Goethes größte Leistung herausstelle. Zu fragen wäre, ob die von Simmel am Beispiel Goethes kategorisch aufgeworfenen Probleme der Letztbegründung, der Relationalität sowie der konsequenten Reflexion des Verhältnisses von Phänomen und Theorie sich nicht auch für die heutige Kulturwissenschaft nach wie vor stellen.
Inwiefern Goethe prominenten geisteswissenschaftlichen Strömungen und Schulen des frühen 20. Jahrhunderts über massive methodische Bedrängnisse hinweghelfen konnte oder wenigstens sollte, zeigt der Beitrag von Harun Maye, der die Figur des 'Dämonischen' bei Friedrich Gundolf und Oswald Spengler unter die Lupe nimmt. Zwar erfülle das Dämonische als "Mittlerfigur zwischen Immanenz und Transzendenz" bereits bei Goethe selbst die Funktion, historische und biographische Entwicklungsprozesse zu "plausibilisieren". Von Geistesgeschichte und Kulturmorphologie werde das Dämonische als rhetorischer wie epistemologischer "Joker" allerdings dann zum Einsatz gebracht, "wenn ein geschichtlicher oder begrifflicher Übergang, der kausal kaum zu bewältigen ist, dennoch hergestellt werden muss." In Gundolfs Goethe-Monographie (1916) weist Maye dies im Umfeld der zentralen Konzeption der 'Gestalt' an den Brüchen zwischen organologischer und geometrischer Metaphorik nach, die das Dämonische gleichsam kitte, indem es äußere Zufälle in der Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge als 'Schicksal' erscheinen lasse. Auf diese Art werde das Dämonische indes weniger als ein Prinzip der dargestellten Geschichte denn als ein Prinzip der geistesgeschichtlichen Darstellung selbst erkennbar. Auch Spengler setze das Dämonische in "Der Untergang des Abendlandes" (1918−1922) genau dort ein, wo kausallogische Probleme seiner Geschichtsmorphologie aufbrechen. Dies zeige bereits die Uneinheitlichkeit seines Kulturbegriffs, die darin zum Ausdruck komme, dass Spengler 'Kultur' einerseits als organischen Prozess, er sie andererseits - v. a. im Kontext des entscheidenden Übergangs von 'Kultur' in 'Zivilisation' - aber auch als eine Phase innerhalb dieses Prozesses ausweise. So sehr folglich auch Spengler auf das Dämonische angewiesen bleibe, um eigene "Theorieprobleme" lösen zu können, so wenig lasse sich doch übersehen, dass das Dämonische exakt jene Paradoxien und Zirkelschlüsse offenlege, über die es ursprünglich hinwegtäuschen sollte. Es sei nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen dem 'Geist' und den 'Geistern' kausallogischer Brüche, die das Dämonische im geisteswissenschaftlichen Diskurs um 1900 sowohl zementiere als auch zum Einsturz bringe.
Dorothee Gelhard untersucht primär die methodische Bedeutung, die Goethe im Œuvre Ernst Cassirers zukommt. Genau wie Dilthey ist Cassirer das Beispiel eines Autors, der zeit seines Lebens sowohl über Goethe - nicht weniger als 23 seiner Arbeiten führen dessen Namen im Titel - als auch mit Goethe philosophiert hat. Goethe unterhalte für Cassirer den Status eines "Befreiers" aus jeder nationalistischen Enge und er verkörpere das Prinzip einer Einheit von Theorie und Praxis sowie von Leben und Werk. In erster Linie sei jedoch Cassirers Formbegriff, wie er in seinem von 1923 bis 1929 erschienenen Hauptwerk "Philosophie der symbolischen Formen" entwickelt wurde, unter dem direkten Rückgriff auf Goethe erfolgt. Genau wie dieser begreife Cassirer die Form nämlich nicht als ein feststehendes statisches, sondern als ein dynamisches historisches Phänomen. Auch übertrage er hier zentrale Parameter aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften auf die Bereiche des Mythos, der Sprache, der Kunst, der Religion und der Wissenschaft. Dies habe v. a. Konsequenzen für den Entwurf der spezifischen Prozesshaftigkeit dieser Größen, den Cassirer wiederum maßgeblich Goethe verdanke. Mit Goethe teile er die Überzeugung, dass erst ihre zeitliche und geschichtliche Veränderbarkeit eine Identität der Form zu gewährleisten vermag.
Vorbild, Beispiel und Ideal : zur Bedeutung Goethes für Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens
(2017)
Johannes Steizinger untersucht unter drei Leitaspekten die Bedeutung Goethes für die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys. Goethe stelle das Vorbild für Diltheys Weltanschauung dar; er diene ihm als Beispiel für die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Einbildungskraft; und schließlich steige die vielfach beschworene Synthese von Goethes Leben und Werk für Dilthey zum Ideal von Dichtung als einer "Steigerungsform des Lebens" selbst auf. Goethe bilde folglich nicht nur einen zentralen Gegenstand in der Entwicklung von Diltheys Ästhetik und Poetik, wie sie etwa in den unterschiedlichen Fassungen von "Ueber die Einbildungskraft der Dichter" (ab 1877) greifbar wird. Darüber hinaus beanspruche er Goethe konsequent als Lehrmeister in wesentlichen methodologischen Fragen, ja er verpflichte ihn geradezu auf eine Beglaubigungsinstanz der eigenen Philosophie, wenn er in seiner Baseler Antrittsvorlesung programmatisch festhält: "So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun." Die methodische Bedeutung Goethes für Dilthey zeige sich in erster Linie an Phänomenen wie der Selbsterforschung und dem Selbstzeugnis. Es sei in letzter Instanz der eigene Lebensbegriff, den Dilthey bereits bei Goethe systematisch vorgeprägt sieht. So lasse sich "die Relativität alles Geschichtlichen" mit Goethe als Grundtendenz an das 'Leben' selbst zurückspielen und depotenzieren; so lasse sich mit Goethe das Denken als "Ausdruck des Lebens" und nicht als dessen Widerpart begreifen; und so sei das genetische Naturverständnis Goethes wegweisend für Diltheys typologische Weltanschauungslehre. Der zentrale Stellenwert der Einbildungskraft und die 'schöpferische' Opposition, die sie zu den "pragmatischen Erfordernissen der Erfahrungswelt" unterhalte, erlaube es Dilthey sogar, die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im Rekurs auf Goethe vorzunehmen. Die Hoffnung auf eine für Goethe symptomatische Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen 'Erlebnis' und 'Ausdruck' - wie sie im Kompositum des 'Erlebnisausdrucks' manifest werde - untersucht Steizinger im Sinne Diltheys abschließend als "Ausgangspunkt jeder erkenntnistheoretischen Reflexion".
Einleitung
(2017)
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts avanciert Goethe zum wichtigsten Autor der deutschen Literatur. Er wird zum Gegenstand kultureller Identifikation und zur Gründungsfigur oder Beglaubigungsinstanz der sich formierenden Geisteswissenschaften. An Goethe lassen sich morphologische Methoden anknüpfen; auf Goethe werden die zentralen Konzepte des 'Lebens', der 'Form' und des 'Organischen' zurückgeführt; die Leben und Werk vereinende 'Gestalt' Goethes wird zu einem zentralen Topos der Geistesgeschichte.
Mit der Goethe-Rezeption Max Kommerells beschäftigt sich der Beitrag von Eva Geulen. Ausgehend von Walter Benjamins bekannter Kritik an "Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik" (1928) fragt sie nach einem "Doppelzug des Theorie- und Gegenwartsverzichts" von Kommerells literaturwissenschaftlicher Arbeit, wie er sich in herausragender Weise in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Goethe kondensiert. Dabei rückt Geulen weniger den zentralen Stellenwert Goethes im Führer-Buch oder die bis heute viel zitierten Studien über Goethes Lyrik, Faust II oder Wilhelm Meisters Lehrjahre in den Blick, sondern widmet sich stattdessen zwei Reden Kommerells, die die Bedeutung Goethes für die Jugend seiner Zeit eruieren: "Jugend ohne Goethe" (1931) und "Goethe und die europäische Jugend" (1943). Zwar zeichneten sich diese Arbeiten durch für Kommerell eigentlich untypische zeitkritische Bezüge aus. So rechne die erste Rede mit Jugendbewegung und Präfaschismus ab; und so lese sich die zweite streckenweise bereits wie ein Vorschlag zur 'Völkerverständigung' der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die besondere Pointe von Kommerells Goethe-Aneignung erblickt Geulen allerdings darin, dass die Reden das Motiv des einsamen Goethe mobilisieren und dass sie eine "absolute Aktualität und Gegenwärtigkeit" Goethes "mit seiner absoluten Entrückung im Knotenpunkt der Einsamkeit" verschränken. Aktuell und gegenwärtig sei Goethe für Kommerell just aus dem Grund, dass er sich bereits von seiner eigenen Gegenwart nicht habe vereinnahmen lassen. Dieses "Widerspiel von Entrückung und Vergegenwärtigung" lasse Goethes Aktualität mit seiner Unzeitgemäßheit durchgängig koinzidieren. Und nicht zuletzt dies bewahre sowohl Kommerell als auch Goethe vor dem Altmodisch-Werden: "Kann er nicht gegenwärtig sein, so wird er auch nie vergangen sein." Im Hinblick auf Kommerells "beharrliche Entrückungsstrategie" Goethes wirft Geulen auch die Frage nach Chancen und Grenzen des gegenwärtigen Interesses an Kommerell auf.
Am Beispiel des Stalkerfilms diskutiert Michaela Wünsch filmästhetische Verfahren der Evokation des Unheimlichen und der Angst. Eine Technik, das Unheimliche aufzurufen, besteht darin, die Filmkadrierung durch Rahmungen im Filmbild selbst zu verdoppeln. Wünsch macht deutlich, dass konkrete Techniken in den größeren Zusammenhang einer allgemeinen Unheimlichkeit des Medialen gestellt werden können. Anhand exemplarischer Filmszenen aus "Halloween" analysiert sie die Rahmungen genauer und entwickelt unter Bezugnahme auf Lacans "Seminar X" eine medientheoretische Unterscheidung zwischen dem Gefühl des Unheimlichen und der Angst.
Ausgehend vom Freud'schen Verständnis des Unheimlichen beleuchtet Roman Widholm aus psychoanalytischer Perspektive, wie sich Autismus nicht nur für den Behandelten, sondern auch für den Behandelnden zeigt und welche Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung dabei beobachtet werden können. Gleichzeitig wird der Fokus auf die praktischen Folgen der fast vollständigen Beseitigung der Psychoanalyse aus dem Feld der Therapie und Betreuung von Menschen mit Autismus gerichtet. Das seit Mitte der 1990er Jahre erforschte 'Affective Computing', die technische Emulation menschlicher Gefühlsbewegungen in Computermodellen, wird schließlich zum Anlass genommen, um behavioristische neurowissenschaftliche Ansätze als Techniken zu kritisieren, die vor allem dazu geeignet sind, sich Gefühlen der Angst und des Unheimlichen in der Auseinandersetzung mit Autismus zu entziehen.
Beginnend mit der Rahmenerzählung aus E.T.A. Hoffmanns "Die Serapions-Brüder" (1821) verbindet Tan Wälchli das poetologische Konzept des 'Scheinlebens' oder 'scheinlebendigen Bildes' mit theologischen Diskursen im frühen 19. Jahrhundert. Darüber hinaus analysiert er Achim von Arnims Inszenierung der Golem-Figur in "Isabella von Ägypten" (1812) und in der "Zeitung für Einsiedler" (1808). Sowohl bei Hoffmann als auch bei Arnim zeichnet sich ein poetologisches Konzept eines 'Körpers ohne Seele' ab, das von beiden Autoren polemisch gemeint ist. Mangelhafte künstliche Wesen werden aufgerufen, so Wälchli, um klassizistische und frühromantische Konzepte des Dichters als Nach-Schöpfer Gottes anzufechten. Dies ist wiederum dem auf dem Feld der romantischen Literatur belesenen Freud nicht entgangen, für den die Figur des Golems in seinem Aufsatz über das Unheimliche von besonderem Interesse war.
Dass die prominente Figur des Doppelgängers um 2000 ihre Aktualität noch immer nicht verloren hat, veranschaulicht Catharine Smale. In ihrer Lektüre von Irina Liebmanns Romanen "In Berlin" (1994) und "Die freien Frauen" (2004) arbeitet sie eine Parallele zwischen der literarischen Inszenierung Berlins und der Dialektik des Doppelgängers heraus. In diesem Zusammenhang betont sie den für Liebmanns Poetik wesentlichen Status von Spiegeln, was sie zu der Frage nach der literarischen Mimesis in der Postmoderne führt. Mit Bezug auf das Konzept des Unheimlichen weist Smale nach, dass die Doppelgänger-Figuren als Verkörperungen der Identitätskrisen aufgefasst werden können, die die Protagonisten angesichts der verfremdenden Erfahrung der 'Wende' durchleben.
Der Körper der Puppe
(2011)
Claudia Peppel betrachtet Puppen aufgrund ihrer funktionalen Ambivalenz als Schlüsselfiguren des Unheimlichen bzw. Nicht-mehr-Heimischen. In ihrem historischen Überblick - von Puppen-Ahnen (ca. 7000 v. Chr.) über Vodou-Praktiken bis hin zur gegenwärtigen Modefotografie - richtet sie ihr Augenmerk auf die vielgestaltigen Beziehungen zwischen Puppen und Menschen in Religion, Kunst, Psychotherapie und Ökonomie. Als Teil von Inszenierungen überschreiten Puppen, gleichermaßen der Wirklichkeit wie der Einbildungskraft verpflichtet, je die Grenzen zwischen lebendig und artifiziell: Sie verweisen und repräsentieren und sind stets Kunstkörper, Ding, Modell und Menschenleib zugleich.
Zwischen Animismus und Computeranimation : das Unheimliche als Unbegriff im 20. und 21. Jahrhundert
(2011)
In ihrer ausführlichen Einführung in die Thematik des Bandes widmet sich Anneleen Masschelein den divergenten Konzeptualisierungen des Unheimlichen nach Freud. Quer durch unterschiedliche Disziplinen zeichnet sie die uneinheitlichen 'Wucherungen' des Begriffs bis in die Gegenwart nach. Das Unheimliche, so ihre zentrale These, ist als Konzept weniger das Ergebnis einer organischen Entwicklung, sondern je Resultat ihm aufgepfropfter heterogener Bedeutungen und Theorien. Diese Ambivalenz hat dem Begriff einerseits permanente Infragestellungen eingetragen, weil sie zu Denkansätzen geführt hat, die sich sehr weit von Freud entfernten. Andererseits ist diese Offenheit seine Stärke, weil sie zu fortwährenden Aktualisierungen Anlass gegeben hat. Masschelein geht diesen historischen Neubestimmungen des Unheimlichen, insbesondere seinem Verhältnis zum Belebten und Unbelebten nach. Sie erörtert, wie es sich vom Animismus am Ende des 19. Jahrhunderts bis zu Robotik, Virtueller Realität und Computeranimation im 21. Jahrhundert konzeptuell transformiert hat.
Dass zu den erfolgreichsten Wörtern in der Zeit der Aufklärung die Begriffe Gespenst und Geist zählen, unterstreicht Elisa Leonzio in ihren Ausführungen. Je entschlossener die Rationalisierungsversuche solcher Phänomene in Angriff genommen werden, desto mehr verbreitet sich paradoxerweise die (technische) Geisterseherei und steigt die Faszination für das Übernatürliche. Ausgehend von dem dualistischen Einschluss des Unheimlichen in die Gattung des Romans untersucht Leonzio Christoph Martin Wielands "Agathon" (1766) und Jean Pauls "Unsichtbare Loge" (1793). Dabei wird erkennbar, wie wesentlich für Jean Pauls Poetologie das zeitgenössische Wissen über technische Apparaturen war, mit denen Geister aus dem Jenseits 'herbeigerufen' wurden.
Wie wir unseren Tod verloren : Biopolitik, Raum und Unheimlichkeit zwischen Neuzeit und Moderne
(2011)
Matthias Korn befasst sich mit einem Phänomen, das für gewöhnlich unter dem Signum der 'Verdrängung des Todes' gefasst wird. Er argumentiert jedoch, dass in Anbetracht der historischen Dokumente über den Umgang mit dem Tod und den Toten seit dem Mittelalter präziser von einem Ausschleichprozess gesprochen werden muss. Am Beispiel des neuzeitlichen Verhältnisses zum eigenen Tod als einem Gegenüber (Descartes) zeichnet Korn die biopolitischen Maßnahmen nach, die zu seiner allmählichen gesellschaftlichen Marginalisierung geführt haben und in die Errichtung von Friedhöfen außerhalb der Städte mündeten. Dies wird anschließend mit der Methode des Physiologen Xavier Bichat verglichen, wobei der Nachweis erbracht wird, dass die 'medizinisch-experimentelle' Dezentralisierung des Todes als analoger Versuch zu verstehen ist, dessen Unheimlichkeit zu bannen.
Eine Interpretation des relativ unbekannten Fragments "Clara, oder Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt" (1810-1811), das Friedrich Wilhelm Joseph Schelling kurz nach dem Tod seiner Frau Caroline schrieb, leistet Laurie Johnson. Obwohl dieses Fragment auch als Teil der damals aktuellen Diskussion über Techniken des Hellsehens und die Möglichkeit der Unsterblichkeit verstanden werden kann, richtet es sich vor allem auf die unheimliche Integration der Toten in den Alltag der Lebendigen. Johnson argumentiert, dass Clara als legitimer Bestandteil von Schellings Philosophie gelesen werden kann und daher als bedeutungsvoller Beitrag sowohl zum romantischen Theorie-Diskurs als auch zur Geschichte des Unheimlichen.
Jan Niklas Howe untersucht Freuds Modell des Unheimlichen im Hinblick auf ästhetische und reale Emotionen und bezieht sich dabei auf neuere psychologische Forschungen von 'mere exposure', 'prototypicality' und 'cognitive fluency'. Das Gefühl des Unheimlichen lässt sich Howe zufolge auf Wiederholungsprozesse zurückführen und als Rekontextualisierung ästhetischer Lust beschreiben, die notwendig zu höchst realer ästhetischer Unlust führt.
Von Okkultisten und Spiritisten an- und aufgeführte 'Geister-Zitationen' waren auch Sigmund Freud nicht entgangen. Sein Begriff einer 'Technik der Magie' nimmt in mehrfacher Hinsicht, so Rupert Gaderer in seinen Überlegungen, eine zentrale Rolle für das 'dynamische' Modell des Unheimlichen ein. Einerseits ist die 'Technik der Magie' ein Referenzpunkt zum 'primitiven' Zeitalter des Animismus, andererseits kann sie als spezifische Operation verstanden werden, die ein ambivalentes Wissen über das Unheimliche entstehen lässt. Dem folgend weist Gaderer darauf hin, dass Freuds Analyse der 'Technik der Magie' die Psychoanalyse selbst hat unheimlich werden lassen.
Konstruierte urbane Räume : zur unheim(e)lichen Interaktion und Interdependenz von Emotion und Beton
(2011)
Sandra Evans konzentriert sich in ihren Ausführungen auf sogenannte 'gated communities' und fragt, warum Menschen sich in selbstverwaltete Wohnkomplexe mit schützenden Mauern und Überwachungstechnologien zurückziehen. Um die in diesem Kontext häufig genannten Ursachen - Gefühle des Bedrohtseins, der Furcht und der Angst - genauer beleuchten zu können, rekurriert sie auf das Unheimliche in seiner sozio-politischen Dimension. Vor diesem Hintergrund kann sie erklären, dass das Vertraute - unabhängig etwa von der tatsächlichen Kriminalitätsrate - nicht selten mit Sicherheit in eins gesetzt wird, während das Unvertraute oder Unbekannte als unheimliche Bedrohung empfunden wird. Anstatt sich aber mit den eigentlichen Faktoren der Angst auseinanderzusetzen, verfallen Bewohner von 'gated communities' selbsttäuschenden Vermeidungstaktiken.
Geister versammeln : Vorwort
(2011)
Bereits zu Beginn seiner Abhandlung "Das Unheimliche" (1919) weist Sigmund Freud darauf hin, dass "dies Wort nicht immer in einem scharf zu bestimmenden Sinne gebraucht wird". Entsprechend charakterisiert sich für Freud das Unheimliche durch eine Vielzahl an schwer zu fassenden Eigenschaften: Es bezeichnet eine seltsame Nähe zwischen Wissen und Nichtwissen, erscheint als etwas Vertrautes in fremder Gestalt oder als etwas Fremdes mit vertrauten Eigenschaften. Diese Unfassbarkeit und Definitionsresistenz führt Freud implizit darauf zurück, dass das Unheimliche als "abseits liegendes" Thema vom ästhetischen Fachdiskurs weitgehend vernachlässigt wurde. Dieser Vorwurf hat mittlerweile deutlich an Aktualität eingebüßt: Längst fehlt es nicht mehr an einschlägigen Abhandlungen, deren Faszination für das Thema sich allerdings nicht daraus speist, dass das Unheimliche inzwischen eine eindeutige Bestimmung erfahren hätte, sondern umgekehrt daraus, dass es so vielgestaltig und schwer zu fassen ist.
Innerhalb des kulturellen Kontextes des vereinten Italien ist die unmittelbare Nähe von Wissenschaft und Unterhaltung von primärer Bedeutung. Einer der Gründe dafür war die "Theatralisierung der Wissenschaft" - ein Phänomen, das im neunzehnten Jahrhundert weit verbreitet war. In den 1860er und 70er Jahren gab es besonders in Mailand eine große Anzahl von Vorführungen, bei denen Phantaskope eingesetzt wurden und die sich außerordentlicher Beliebtheit erfreuten. Die überraschende Wirkung phantasmagorischer Aufführungen wurde durch Phänomene wie Magnetismus und Spiritismus verstärkt. Beide Kuriosa verbreiteten sich zu jener Zeit in Italien und stellten eine strikte Scheidung zwischen Wissenschaft und Unterhaltung in Frage. Im Folgenden werden die aufschlussreichsten Äußerungen dieser kulturellen Situation in einer Reihe populärer und politischer Zeitschriften der 1860er und 70er Jahre untersucht. Dabei ist von Interesse, dass mittels eben dieser Zeitschriften zum ersten Mal phantastische Literatur Eingang in die literarische Szene Italiens fand. Untersucht werden insbesondere Formen des Phantastischen, die durch die Interpretation von Phantasmagorien in einer Auswahl nicht-fiktionaler Texte noch verstärkt wurden. Es wird deutlich, dass in Italien zu dieser Zeit Phantasmagorien-Vorstellungen mit der politischen Rhetorik eng verwoben waren.
Voltaires Verwirrung
(2011)
Ausgehend von einer Anekdote über den 80 Jahre alten Voltaire hebt Fabio Camilletti die Wiederholungserfahrung als zentralen Aspekt des Unheimlichen hervor. Den Philosophen Voltaire, der durch den Anblick eines abendlich betenden Mädchens plötzlich beunruhigt und schockiert wird, versteht Camilletti als eine vielsagende Figur der ängstlichen Verzauberung. Dieser Begebenheit folgend untersucht der Beitrag das Unheimliche im Primitivismus des 19. Jahrhunderts und macht deutlich, dass die jeweiligen Bestrebungen, die Vergangenheit wiederzubeleben, mit Rückgriff auf die Struktur des Verdrängungsprozesses interpretiert werden können.
Dinge besitzen eine Ausstrahlung, sie können bezaubern und erschrecken, faszinieren und bannen. Diese Erfahrung machen Menschen nicht nur mit 'auratischen' oder 'authentischen' Kunstwerken, auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit scheinen Dinge ein Eigenleben zu führen. Nachdem konstruktivistische Zugänge versuchten, ihnen genau dieses auszutreiben, kehrt es seit einiger Zeit wieder: in der Rede von der Aktivität der Objekte und der Macht der Dinge. Dies lässt sich mit der Vokabel 'Fetischismus' ideologiekritisch brandmarken oder kulturtheoretisch verherrlichen. In diesem Beitrag wird ein anderer Weg beschritten. Zu Beginn konstatiert er eine Sehnsucht nach dem unmittelbaren Gegebensein der Dinge und präsentiert sodann einen Zugriff, der diesen Befund berücksichtigt, ohne auf den Bereich des Sakralen zurückzugreifen: sei dies in magischer, mythischer oder fetischistischer Form. Vielmehr baut er auf die Phantasmagorie, die sich im Profanen ansiedelt und es erlaubt, systematisch Ästhetik und Ökonomie, Technik und Politik aufeinander zu beziehen. Die Ausführungen laufen auf die These hinaus, dass sich mit der Phantasmagorie eine kritische Alternative zum Fetisch formulieren lässt, welche die profane Moderne mit ihren produktiven Möglichkeiten und Risiken in all ihrer Ambivalenz auf den Begriff zu bringen vermag.
Konzepte digitaler (Re-)Präsentationen von Literatur zwischen Pluralisierung und Standardisierung
(2019)
Einleitung
(2019)
Einleitung
(2017)
Das religionswissenschaftliche und ethnologische Kompositum Kulturheros bezeichnet Gestalten, die zwischen Göttern und Menschen stehen und die "für die Menschen überlebenswichtige[s] Kulturwissen zum ersten Mal einführen". Die Taten eines Kulturheros - etwa die Übergabe des Feuers an die Menschen - können in die Tradition der jeweiligen Gesellschaft eingehen, "zu bestimmten Anlässen feierlich erinnert" und "die Stiftungslegende eines Kults bilden". Die Enzyklopädie des Märchens definiert den Kulturheros als "mythische Figur meist früherer Überlieferungen, die für die jeweilige Gesellschaft Entscheidendes und Lebenswichtiges leistet". Donald Ward, der Verfasser dieses Eintrags, spricht zwar davon, dass neben Heiligen auch "Begründer, Reformer, Erfinder und politische Führer manchmal als echte Kulturheroen" (etwa Luther oder Kolumbus) gesehen werden können, seine Argumentation bleibt aber weitgehend auf Gestalten aus der Mythologie beschränkt. In unserem Band geht es hingegen nicht um mythische Figuren wie etwa Prometheus, sondern um ein neuzeitliches Phänomen: Mit Kulturheroen meinen wir Schriftsteller, Dichter, Wissenschaftler, Künstler oder Intellektuelle, denen ebenso wie den Kulturheroen der Religionswissenschaft bzw. Ethnologie in der Regel posthum eine herausragende kulturstiftende Rolle in der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft zugeschrieben wird. Seit der Neuzeit werden Kulturheroen in dieser Weise medial konstruiert und durch Kultpraktiken geehrt, die früher eher militärischen oder politischen Helden vorbehalten waren.
Das Thema im Allgemeinen sollen die Funktionen des Kulturheros sein, die er an signifikanten historischen Stellen einnimmt, und die Verschiebungen, die sich in diesen Funktionen in unterschiedlichen historischen Phasen ergeben. [...] Da sie im politischkulturellen Feld agiert, ist der Figur erstens ein historisch-politischer Index eingeschrieben. Die Frage ist dabei, welchen staatspolitischen Index diese Gründungsfigur hat, das heißt, in welchem Verhältnis die Figur zu staatlich-politischen Gebilden und historischen Prozessen steht und in welcher Weise, durch welche Rituale, welche Praxis der Bezugnahme, welche Symbolkomplexe dieses Verhältnis angezeigt wird. [...] Als Heros eignet der Figur zweitens eine gewisse Monumentalität, zumindest jedoch Größe. [...] Er ist drittens eine Figur am Übergang zwischen Profanierung und Sakralisierung, zwischen Kultur und Kult, zwischen politisch-historischem Außenraum und innerem Imaginationsraum [...] Von besonderer Relevanz für den Diskurs über den Kulturheros ist dabei die Reichsgründung von 1871, da sich mit ihr eine Umbesetzung seiner Funktion vollzieht - so die erste Leitthese des vorliegenden Beitrags: Läßt sich seine Funktion vor der Reichsgründung als die einer Imagination von Einheit auf dem Boden einer allen Mitgliedern der Nation gemeinsamen Kultur bezeichnen, deren Garant der Heros war, so diversifiziert sich seine Funktion nach Erreichen eines einheitlichen Staatsgebildes, werden wechselnde Besetzungen der vakanten Stelle möglich, beispielsweise die des Narrativs einer Tradition der verspäteten Nation. Mit der Gründung des Literaturarchives im Jahre 1885, der bald weitere Gründungen und Gründungsprojekte folgen sollten, kommt eine weitere, eine ganz neue Dimension ins Spiel - so die zweite Leitthese: nun gelangen die Hinterlassenschaften - textförmige oder dingliche - des Kulturheros ins Archiv oder ins Museum. Damit werden neue Prozesse im "Kultus" um den Kulturheroen initiiert, werden Sakralisierungen durch Kultobjekte ermöglicht oder dazu gegenstrebige Tendenzen ins Werk gesetzt. Dadurch erhält das Nachleben der Kulturheroen gleichsam einen materiell-dinglichen Körper, werden ebenso Auratisierungsprozesse potenziert wie Entzauberung durch wissenschaftliche Forschung befördert. Abgeschlossen werden die Ausführungen durch einige methodologische Überlegungen zur Forschung im politisch-kulturellen Feld, insbesondere zum Verhältnis der Paradigmen Raum und Zeit sowie zum Aspekt der Gleichzeitigkeit.
Vor dem Hintergrund der stalinschen Nationalitätenpolitik und des propagierten Bildes von der UdSSR als einer in "brüderlicher Freundschaft" vereinten "Völkerfamilie" kam der zeitlichen Nähe beider Dichterjubiläen eine besondere Bedeutung zu. Bereits der erste sowjetische Schriftstellerkongress im Spätsommer 1934 diente als Bühne einer akribisch vorbereiteten Inszenierung der "nationalen Vielfalt" der Sowjetliteratur. Diesem propagandistischen Ziel entsprach die Absicht, in pompösen Jubiläumsfeiern jeweils national tradierte Dichterbilder an die veränderten ideologischen Prämissen anzupassen. Jede Möglichkeit, ein rundes Datum für eine öffentliche Inszenierung der sowjetischen Kulturheroen zu (er)finden, wurde wahrgenommen. In der Forschung ist gezeigt worden, dass sich der sowjetische, staatlich organisierte Dichterkult leichter mit toten Dichtern umsetzen ließ, da sich diese einer politisch motivierten Manipulation ihrer Texte und ihrer Biographien nicht mehr widersetzen konnten. Nachfolgend werden am Beispiel der 1937 sowjetweit begangenen Jubiläen von Puškin und Rustaveli einige Strategien untersucht, mit denen sie als sowjetische Kulturheroen inthronisiert wurden.
Heiland oder Führer? : der Dichter als Kulturheros in der Literaturwissenschaft des George-Kreises
(2017)
Sowie der Heldenkult nicht länger die privilegierte Rezeption des 'heroischen' Werkes darstellt, wird er auf Politik umgestellt und dieser die Aufgabe zugewiesen, das Werk des Kulturheros gleichsam zu vollenden. Heldenpolitik kann aber niemals friedliche Politik sein. Claude Haas geht der Grundspannung zwischen 'kultischer' und 'politischer' Perspektivierung des Kulturheros im Folgenden am Beispiel jener Formation nach, die den Kulturheros in vielerlei Hinsicht in den Mittepunkt ihrer geistigen Bemühungen stellte und die seinen wirkmächtigsten Sympathisanten in der deutschen Tradition überhaupt bilden dürfte: an dem Kreis von Wissenschaftlern und Intellektuellen, sie sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts um den Dichter Stefan George herum gruppierten. Dabei ist es nicht der Kult um George selbst, den Claude Haas in den Blick bringen will, sondern zentrale wissenschaftliche Schriften aus seinem näheren Umfeld, die die Vorstellung des Kulturheros am differenziertesten - wie auch am problematischsten - entfalten. Diese sind nicht zuletzt insofern von Interesse, als sie der wissenschaftlichen Darstellung als solcher kultische Aufgaben zuweisen und sie die Wissenschaft implizit als eine Art Praktik zur Erschaffung des Kulturheros einsetzen. Dabei kann der wissenschaftliche Diskurs die Konturen sowohl eines privilegierten und exklusiven als auch die eines lediglich als vorläufig begriffenen Kultes annehmen, der nicht seinen eigenen Endzweck darstellt, sondern der in die große politische Tat einzumünden hat. Ein besonderes Gewicht kommt hier dem immanenten Anhänger des Kulturheros zu, denn dieser avanciert in der Konzeption der Figur selbst zur strukturgebenden Größe. An ihm zeigt sich erst, wo genau der Kulturheros zu sich selbst kommt - in der Kirche der Wissenschaft oder auf den Schlachtfeldern der Politik. Über die Analyse des Anhängers wird folglich der Frage nachzugehen sein, ob der Kulturheros eher als säkularer Gott (Heiland) oder als sakraler Herrscher (Führer) beschworen wird.
Das zunächst wissenschaftlich geprägte Interesse an mündlicher Dichtung verlagerte sich rasch in Richtung auf eine Popularisierung von Volksdichtung. [...] Eine zentrale Figur bei dieser Popularisierung war der Übersetzer und umtriebige Journalist Vsevolod I. Kuznecov, dessen Übersetzungen eines bis dahin unbekannten kasachischen Sängers namens Maibet auf großes Interesse stießen. [...] Da jedoch Maibet trotz intensiver Bemühungen unauffindbar war, einigte sich das Festkomitee darauf, statt Maibet den lokal bekannten, 80-jährigen, des Russischen nicht mächtigen und schriftunkundigen Džambul Džabaev in die kasachische Delegation aufzunehmen, damit er ein Poem zu Ehren Stalins dichtete [...]. Bei der mysteriösen Unauffindbarkeit Maibets, der Džambul Džabaev letztlich seine Entdeckung und seinen Aufstieg in das Pantheon sowjetischer Kulturheroen verdankt, handelt es sich um eine Mystifikation des Übersetzers Kuznecov, der unter dem Namen Maibet Übersetzungen von nicht existenten Originalen fingiert hatte. [...] Bei all ihrer Kuriosität wirft diese Mystifikation aber auch ein Licht auf das von Kuznecov und anderen betriebene Übersetzungsmetier. Sie stellt in gewisser Weise eine radikale Konsequenz dar, aus einer an den Maßgaben der sowjetischen Massenkultur sich ausrichtenden Übersetzungsarbeit. Diese orientiert sich keineswegs am philologischen Ideal der semantischen Treue zum Original, sondern besteht in einer schöpferischen Hervorbringung von Texten, die durch eine in Rohübersetzung vorliegende fremde Rede des Originals angeregt wird, ohne dass dabei der schöpferische Übersetzer der Sprache des Originals kundig ist. [...] Auf einem solchen "intuitiven" und "künstlerischen" Übersetzungskonzept beruhen die Džambul zugeschriebenen Texte. Dass diese mit den vermeintlichen Originalen kaum etwas zu tun haben, war von Anfang an ein offenes Geheimnis, aber gleichwohl ein strikt gehütetes Tabu. [...] Diese Eigentümlichkeit der Übersetzung der Džambul zugeschriebenen Texte, soll im Weiteren im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Jurij Murašov zeigt, wie in der "künstlerischen" und "intuitiven" Übersetzungsarbeit, die im Namen des Volkssängers Džambul Džabaev Kuznecov und andere Übersetzer und Schriftsteller betreiben, Texte entstehen, die eine spezifische, für die sowjetische Kultur grundlegende mediale Poetik (re-) produziert und die dann über die Zuschreibung auf die empirische Figur des Džambul Džabaevs massenmedial popularisiert werden kann. Es ist eben diese Poetik, durch die nicht nur der Volkssänger Džambul seinen eigenen Platz im Pantheon der sowjetischen Kulturheroen behauptet, sondern die letztlich den medialen Mechanismus ausmacht, über den sich die Kultur des Sowjetischen als Ganzes begründet.
Als Erfinder sind Kulturheroen mit jener "instrumentellen Vernunft" ausgestattet, die das Denken der Moderne im Guten wie Schlechten prägte. Die Heroen verfügen meist auch über eine spezielle Physis und technologisches Talent. Als Trickster- oder Schelmenfigur überwinden sie alle Hindernisse. Niemand sonst verkörperte dieses heroische Idealbild besser als der sowjetische Wissenschaftler, der keine gottgegebenen Grenzen akzeptierte und systematisch an einer Entzauberung der Natur arbeitete. Wenn Heroen Göttliches usurpieren, erhalten sie gottgleichen Status und gehören daher zwei Sphären an. Als Doppelwesen repräsentiert der Kulturheros eine halbherzige Säkularisierung - löst doch die Epoche der Heroen nach der Revolution die Ära der Götter ab, ohne die religiöse Verehrung ganz aus der Welt zu schaffen. Erich Voegelin diagnostizierte bereits 1938 bei den modernen politischen Massenbewegungen in Deutschland und in der UdSSR Säkularisierungen des religiösen Glaubens, die zu "politischen Religionen" werden. In der Moderne können gewöhnliche Menschen durch para-religiöse Rituale und durch medialisierten Kult selbst zu Heroen werden. In der UdSSR war eines der wichtigsten Medien zur Produktion von Heroen der vom Staat finanzierte Kinofilm für Millionen von Zuschauern. In ihm geschah diese Heroisierung durch den Schauspieler, der den Wissenschaftler als göttlich-heroisches Doppelwesen auf der Leinwand performiert. Die Heroisierung beginnt durch die Einführung der das Gesicht verändernden Maske in den Filmbiographien von Wissenschaftlern der 1930er Jahre. [...] Die untersuchten Filmbiographien befinden sich in einem sowjetischen und einem internationalen Gattungskontext. Durch den Vergleich der medialen Konstruktion des Heroischen kann die Genese des sowjetischen Genres der Filmbiographie rekonstruiert werden. Weiter kann man fragen, in welcher Hinsicht das Medium des Films für die Konstruktion der kulturstiftenden Rolle des russischen Wissenschaftler-Heros geeignet war. Eine zentrale Rolle kommt dem Verfahren der Maske zu, die die Heroen tragen und so über ihre Kultur Aussagen treffen.
Unschätzbare Gesichter : Kulturheroen in der politischen Ikonographie der georgischen Banknoten
(2017)
Die Einführung einer neuen georgischen Währung im Herbst 1995 sollte die finanzielle Souveränität des 1991 von der UdSSR unabhängig gewordenen Staates zum Ausdruck bringen. [...] Abgesehen von der pragmatischen Notwendigkeit einer Währungsumstellung brachten die neuen Banknoten jedoch auch einen neuen Diskurs in Umlauf. Anders als die neue Fahne und die Hymne, die eine Kontinuität zur Georgischen Demokratischen Republik (1918−1921) suggerierten, fiel der neuen Währung, so Eka Meskhis These, die Aufgabe zu, die Idee einer neuen georgischen Staatlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Diese Aufgabe scheint umso bedeutender gewesen zu sein, als Ševardnaʒe seine Staatsdoktrin nie (oder zumindest nie eindeutig) diskursiv formulierte, so dass die Gestaltung einer neuen Währung als ein einzigartiges symbolpolitisches Manifest angesehen werden kann. In diesem Manifest - so eine weitere These - stützte sich Ševardnaʒe auf die in der Sowjetzeit diskursiv und bildlich ausgearbeitete Idee Georgiens als Kulturnation, die sich primär in einer Galerie von Kulturheroen manifestierte. In diesem Beitrag analysiert Eka Meskhi die georgische Währung als eine Trägerin von Diskursen des Nationalen kritisch, interpretiert die Bedeutung ihres Bildprogramms und legt die Mechanismen offen, mit denen der Staat seiner Souveränität Ausdruck verleiht und sich damit nach innen und außen repräsentiert. Im ersten Abschnitt wird das georgische Papiergeld beschrieben sowie das theoretische Interesse und die methodischen Zugänge erläutert. In einem zweiten Schritt wird das Bildprogramm des georgischen Papiergeldes interpretiert und im dritten und letzten Schritt dieses Bildprogramm genealogisch aus dem visuellen und narrativen sowjetgeorgischen Verständnis Georgiens abgeleitet.
Vom Schriftexegeten, Kirchenlehrer und wahren Propheten respektive Apostel im 16. und 17. Jahrhundert, der mit Gotteshilfe Übermenschliches geleistet habe, über den Befreier der Vernunft und des Gewissens in der Aufklärung bis hin zum Nationalhelden, Heroen der deutschen Kultur und Vorbild bürgerlicher Lebensführung im 19. Jahrhundert - dies sind nur wenige Haupttransformationen, denen Luther im Laufe der Geschichte unterworfen wurde und an deren Vollzug sowie Tradierung die bildende Kunst entscheidend beteiligt war. Die Tatsache, dass sich jede Epoche, ja jede Generation "ihren eigenen Luther schuf", wurde zusammen mit der Heterogenität dieser zeitgebundenen Konstrukte spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als ein gravierendes Forschungsproblem erkannt, das den deutschen Theologen und Kirchenhistoriker Heinrich Böhmer 1906 dazu veranlasste, ernüchtert festzustellen, dass es "so viele Luthers gibt, als es Lutherbücher gibt". In seiner herausragenden Studie zu Lucas Cranachs Bildnissen des Reformators von 1984 zeigte jedoch der Kunsthistoriker Martin Warnke, dass es bereits zu Lebzeiten und unmittelbar nach dem Tod des Wittenberger Theologen 1546 vor allem so viele Luthers gab, als es Lutherbilder gab. Cranach, der Hofmaler des sächsischen Kurfürsten, schuf mit den auffällig in ihrer Ikonografie variierenden und für die breite Öffentlichkeit bestimmten druckgraphischen Portraits ein wirkmächtiges "Image" des Reformators, das zum fundamentalen Bestandteil der protestantischen Publikationspolitik wurde und dabei zugleich gerade durch seine Mannigfaltigkeit eine mediale Angriffsfläche für das katholische Lager bot. Die Werke Cranachs, in denen das offizielle Bildnis des Theologen gleichsam generiert und autorisiert wurde, weisen differenzierte künstlerische Strategien der Sakralisierung und Heroisierung auf, welche von der Mehrzahl der etwa fünfhundert zeitgenössischen (Rollen-)Portraits Luthers kontinuierlich rezipiert und innovativ uminterpretiert wurden. Sie feiern den Wittenberger Bibelprofessor nicht nur als omnipräsenten und omnipotenten Gottesmann, sondern verklären ihn zur universellen Verkörperung der Reformation, zum personalisierten Sinnbild der neuen Theologie. Der Genese, den Facetten sowie der zeitgenössischen Rezeption dieses Phänomens in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts möchte der vorliegende Text anhand der exemplarischen Analyse ausgewählter Bildnisse des Reformators nachgehen.
Wie kaum eine andere Machtform ist die autoritative Macht an Personen gebunden: an das Charisma der Autoritäten. Doch kann die "maßgebende Macht" auch ihre "transzendente Legitimation" einbüßen, nicht allein durch den Umsturz einer geltenden Ordnung, sondern vor allem durch den Tod ihrer Vermittler, der Heroen jeweiliger Kulturen. Die Stabilisierung autoritativer Macht bedarf darum hoher Symbolisierungsleistungen, beispielsweise durch Rituale der Kontinuität, die sowohl zwischen Funktion und Person differenzieren, als auch die Übertragung von Autorität ermöglichen sollen. [...] Daher mussten Unterbrechungen der autoritativen Macht - eine Zeitspanne des gefürchteten Interregnums - symbolisch überbrückt werden, etwa durch komplexe Bestattungsrituale. Im Rahmen solcher Bestattungsrituale wurden Wachsmasken und Puppen des toten Herrschers verwendet, wie sie bereits in der römischen Antike eingesetzt wurden. Totenmasken bezeugen das Überleben der Macht. [...] Ein Museum der Totenmasken kann im Dienst der Erinnerung stehen, des Kults der "grands hommes". Im Horizont dieses Kults wurde der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit durch die Hoffnung auf Prominenz und ein dauerhaftes Nachleben im Gedächtnis künftiger Generationen ersetzt. Napoleon, Goethe oder Beethoven fungierten als die säkularen Gottheiten jener parareligiösen Strömung, die der Wissenschaftshistoriker Edgar Zilsel in einer 1918 publizierten, hellsichtigen Analyse als "Geniereligion" charakterisierte. Zu den Dogmen dieser Religion zählte die Vorstellung von einer höheren Unsterblichkeit der Genies, die sich gerade daraus ergeben sollte, dass sie zu Lebzeiten "verkannt" werden. [...] Die prominenteste Totenmaske des frühen 20. Jahrhunderts wurde indes keinem Herrscher, Revolutionär oder Genie abgenommen, sondern einer Unbekannten. Schon zur Jahrhundertwende verbreitete sich die Legende von einer unbekannten Selbstmörderin, die aus der Seine geborgen wurde; ihr friedlich und geheimnisvoll lächelndes Gesicht habe einen Mitarbeiter der Pariser Morgue so gerührt, dass er der Toten eine Gipsmaske abnahm.
Seit Jahrzehnten steht eine Gestalt an oberster Stelle des Kanons historisch bedeutsamer Figuren in der Ukraine: der Dichter und Maler Taras Ševčenko (1814−1861). Im Land besteht Einigkeit über seine identitätsstiftende Funktion für die imaginierte Gemeinschaft Ukraine. Er wird über die Regionen hinweg als verbindende Gestalt wahrgenommen - besonders in Zeiten, in denen ein mögliches "Auseinanderbrechen" des Landes intensiv diskutiert beziehungsweise befürchtet wird. Ein Grund dafür ist, dass Ševčenko für die historisch unterschiedlich geprägten Regionen einen gleichermaßen festen Bezugspunkt darstellt: Er lebte im Russischen Reich und stammte aus einem Gebiet, das heute zur Zentralukraine gehört; gleichzeitig konnte und kann man sich in der Westukraine mit der Idee von Ševčenko als einem der wichtigsten Träger ukrainischer Identität identifizieren. In Ševčenko laufen zentrale gesellschaftliche und erinnerungskulturelle Diskussionen und Projektionen über Vergangenheit, den gegenwärtigen Zustand und mögliche zukünftige Entwicklungen des Landes zusammen, und die spannungsreichen Veränderungen und erinnerungskulturellen Widersprüche in der Geschichte der Ukraine drücken sich ganz besonders in der Auseinandersetzung mit Ševčenko aus. Ševčenko ist also auch nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 der Kulturheros schlechthin. Diese Umwertung der Ševčenko-Gestalt wird heute vor allem bei renommierten Wissenschaftlern und Ševčenko-Forschern, aber auch in Reden von Politikern deutlich. Demgegenüber bestehen in der Gegenwartskultur jedoch zahlreiche andere Entwürfe, die die Gleichsetzung Ševčenkos mit der Nation in Frage stellen. Dabei führen die Um- und Neudeutungen zu einer Pluralisierung des Ševčenko-Bildes; und auch wenn Gegenentwürfe als Bedrohung empfunden werden - gerade durch sie wird Ševčenkos Bedeutung aktualisiert und seine Gestalt auch für jüngere Generationen zugänglich und interessant gemacht. Der Kulturheros Ševčenko, der in der Sowjetzeit etabliert und in Folge hoch verehrt wurde, ist weiterhin äußerst populär und ein beliebtes Objekt kultureller, wissenschaftlicher und medialer Auseinandersetzungen in der Ukraine.
Dass Jurij Gagarin mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Weltraumflug noch eine politische Symbolkraft für die zivilgesellschaftliche Opposition entfalten kann, ist auf den ersten Blick höchst erstaunlich und zugleich symptomatisch. Erstaunlich, weil Gagarin Zeit seines Lebens ein Mann des sowjetischen Systems, des Militärs und der Macht war, der alle Privilegien der Nomenklatura genoss und alle Positionen der Herrschenden vertrat, also für jede Oppositionsbewegung eigentlich ein rotes Tuch sein müsste. Symptomatisch aber ist seine exzeptionelle Verehrung zugleich, da er zwar die offiziellen Parolen von Freundschaft und Frieden (Družba i mir) wie kein anderer verkörperte, diese aber in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person gerade nicht mit einer diesseitigen zivilgesellschaftlichen Reform des Alltagslebens verbunden waren. Denn egal welche politischen Positionen er auch vertrat, der Held aller Herzen blieb er aufgrund seines Weltraumflugs, der vor allem maximale ideologische und imaginäre Ferne von den Polen der Macht und der Politik verhieß: Seine leibhaftige Person versprach als "Kolumbus der Sternenozeane" (Kolumb zvezdnych okeanov) und "Himmelssohn" Ausbruch aus dem irdischen Elend und überirdische Erlösung. Schaut man sich diese ambivalente Konzeptualisierung von Gagarin als Gründungs- und Identifikationsfigur einer russischen Zivilgesellschaft jedoch näher an, stellt man fest, dass sie Produkt verschiedener, teils parallel, teils sukzessiv verlaufener Konstellationen und Genealogien ist. Hinter Gagarin als Kulturheros verbergen sich unterschiedliche religiöse, philosophische und kulturelle Konzepte und Muster, was gerade die Attraktivität und Langlebigkeit seines Mythos sicherte. Für die einen stand er noch fest auf dem Boden der sozialistisch-realistischen Heldenkonzeptionen, so wie sie für den Kulturheros der Stalinzeit entwickelt worden sind (Abschnitt 2), für andere war er vor allem der Himmelsbote, der ein höheres – extrapolierendes – Wissen aus den Weiten des Weltraums zur Erde brachte (3). Andere brachten ihm als identitätsstiftender Erinnerungsfigur wiederum eine nahezu kultische Verehrung entgegen (4), während sich sein imaginärer Körper in einer globalisierten Populärkultur zu einer an keine bestimmten kollektiven Zugehörigkeiten und Gesellschaftsprojekte gebundenen Ikone des Fortschritts entwickelte (5). Sein zum geflügelten Wort gewordener Ausruf "Poechali!" - "Los geht’s!", den er kurz vor seinem Weltraumflug äußerste, wurde als Aufbruchssignal in eine ungewisse Zukunft ganz unterschiedlich rezipiert.
Obwohl mit dem "Personenkult" um Josef Stalin (1878−1953) vor allem die Inszenierungen seiner Macht und sein Führungsstil bezeichnet werden, ging der Kult um seine Person über den Rahmen des Politischen hinaus: Stalin wurde mit der Zeit zunehmend zu einer kulturstiftenden Figur, ja gar zu einem kulturellen Symbol stilisiert, das eine ganze Epoche prägte. Wenn überhaupt von einem "Gesamtkunstwerk Stalin" (Boris Groys) die Rede sein kann, dann bezeichnet dieser Begriff gleichermaßen die Epoche Stalins wie ihren Hauptprotagonisten, dessen Selbstinszenierungen als ein Kulturphänomen, ein 'Kunstwerk' der Zeit betrachtet werden können. In diesem "Gesamtkunstwerk" erscheint er sowohl als ein demiurgischer Herrscher als auch als ein prometheischer Heros - als Befreier und Kulturstifter. Der "Führer", der die sowjetischen Völker zum Siege führt, ist zugleich der "Lehrer", der lehrt was richtig und was falsch ist. [...] Er ist eine Figur der Revolution, berufen, sein Land aus dem Chaos zu führen und eine neue Ordnung herzustellen. Diese neue Ordnung reicht über das Machtpolitische hinaus ins Kulturelle: Der revolutionäre Heros ist ein Kulturstifter, dessen Mission eine prometheische Tat, und zwar die Erschaffung eines neuen Menschen ist. Die Herrscher, die als Kulturheroen inszeniert werden, sind vor allem nationale Heroen und werden mit einer Nation identifiziert, die sie vertreten. Im Falle Stalins ist dieses Modell komplizierter, denn er steht an der Spitze des Vielvölkerstaates, der sich als eine "Völkerfamilie" darstellt. Daher muss er als Heros für alle Völker der UdSSR gleichermaßen gelten. Zugleich ist er aber ein Georgier und diese Tatsache beschert seinem Geburtsland eine symbolische Sonderstellung, sie verleiht Stalin als kulturheroischer Figur gewissermaßen zwei Gesichter: das allgemeinsowjetische und das national-georgische.
Zeitgenossen und Nachfolger Wagners griffen die von ihm selbst akzeptierte Inszenierungsstrategie als nationaler Kulturheros auf. Wagners "außerordentliche Verflechtung mit der deutschen Geschichte" war von ihm selbst beabsichtigt und vom Ehrgeiz bestimmt, "mit seinem Werk an der Nationwerdung der Deutschen im 19. Jahrhundert mitzuwirken. Dies ist ihm in einem Ausmaß gelungen, wie es bei keiner anderen Gestalt der deutschen Kulturgeschichte seit Luther festzustellen ist." Das Wagnersche Werk wie seine Selbstinszenierungen wurzeln sowohl in der europäischen Moderne als auch im spezifisch deutschen kulturell-politischen Kontext des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Beide Bereiche verraten allerdings eine gewisse interne Brüchigkeit, wie sie schon Adorno als Wagners Grundmerkmal diagnostiziert hatte. Er konstatierte eine den Wagnerschen künstlerisch-theatralischen und politisch-selbstrepräsentativen Gesten inhärente Tendenz zur Selbstde(kon)struktion. Nachfolgend wird diese Brüchigkeit analysiert, die sich in die Produktionsbedingungen seiner als heroische Kulturtaten konstruierten Werke eingeschrieben hat.
Anders als Schiller taugt Goethe, nicht zum literarischen Stichwortgeber der Befreiungskriege. Zu offensichtlich ist seine Bewunderung für Napoleon, zu gering seine Bereitschaft, sich im hohen Alter noch patriotisch zu erhitzen. Schiller konnte sich aufgrund seines unerwarteten Todes im Jahr 1805 nicht mehr selbst zur erwachenden Nationalbegeisterung äußern. Zwar soll ihm der korsische "Eroberer" und "Unterdrücker", den er an keiner Stelle seines Werkes explizit nennt, "durchaus zuwider" gewesen sein, doch ist seine Funktionalisierung für patriotische Zwecke ein postumes Rezeptionsphänomen. Gerade Schillers späte historische Dramen laden zu identifikatorischen Lektüren ein. Das von Christian Jakob Zahn vertonte Reiterlied aus Wallensteins Lager, das die Überwindung der Todesangst zur erhabenen, ich-steigernden Freiheitserfahrung verklärt, erfreut sich bei Soldaten und Theaterbesuchern über Generationen hinweg großer Beliebtheit [...] Die Schiller zugeschriebenen Merkmale bleiben über einen langen Zeitraum stabil und verbinden sich mit den verschiedensten ideologischpolitischen Gehalten. Das Bild des Dichters speist sich dabei sowohl aus der Sphäre weltlichen Heldentums wie der religiösen Verheißung. [...] Die Kanonisierung Schillers zum Nationalhelden wird durch die territoriale Streuung und fragmentierte Überlieferung seiner Lebenszeugnisse kaum gebremst. Vielmehr entsteht das Bedürfnis zur Pflege des materiellen Erbes erst aus der Dynamik der Kultgeschichte. [...] Die Erhebung Schillers zum Garanten militärischer und moralischer Überlegenheit nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offen chauvinistische Züge an. Kritik an den Klassikern erscheint in diesem Zusammenhang als Hochverrat, der das Heil der Nation gefährdet.
Über das Leben Voltaires, das in Paris 1694 begann und 1778 endete, sind wir dank einer ungeheuren Korrespondenz von reichlich 20 000 Briefen hervorragend unterrichtet. Sein Lebensweg, sein Zeitalter und die bestimmenden Ideen der Epoche sind darin dokumentiert. Der in der Religionswissenschaft gebräuchliche Begriff 'Kulturheros' muss für den notorischen Religionsspötter daher zunächst irritierend unpassend erscheinen, was die Überschrift zum Ausdruck bringt. Für den Intellektuellen im politischen, nicht im soziologischen Sinne ist dagegen bezeichnend, dass sein Name in der Öffentlichkeit schon Gewicht hat, wenn er ungefragt und ohne Auftrag zu einer Frage Stellung nimmt, die außerhalb seiner Zuständigkeit liegt, wobei er im Namen höherer Werte für die unterlegene Seite Partei ergreift. Nicht alle Geistesschaffenden sind also schon Intellektuelle in diesem Sinne, sondern nur da, wo sie "von ihrem beruflichen Wissen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Gebrauch machen". Als Ahnherr dieses Intellektuellentypus aber gilt Voltaire, dem es im vorgeschrittenen Alter gelang, auf beispielhafte Weise für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten. [...] Um zu verstehen, wie Voltaire zum politischen Mythos werden konnte, sollen im Folgenden einige Problemstellungen aus seinen Schriften und seinem Wirken skizziert werden.
Peter I. als ambivalenter Kulturheros : zivilisatorischer Titan und/oder despotischer "Antichrist"
(2017)
An der Gestalt Peters I. scheiden sich seit Jahrhunderten die Geister. Peter I. ist und bleibt ein wirkungsmächtiger Mythos sowie eine nationale Kultfigur. Viele Aspekte seines Wirkens sind im russischen kulturellen Gedächtnis dem wissenschaftlichen Diskurs entzogen. Im kulturologischen und geschichtsphilosophischen Denken ist neben differenzierten Zugängen eine Opposition zwischen dem kraftvollen "Zivilisator" Russlands, einem sakralisierten Titanen einerseits und einem dämonischen Despoten oder "Antichristen" andererseits zu beobachten. In literarischen Texten kann dieser Dualismus mitunter dialektisch aufgebrochen und können seine Extreme dialogisch aufgehoben und enttabuisiert werden. Die große Faszination für die Konstruktion des Bildes von diesem Zaren geht aber wohl gerade von seinen Extremen aus. Weder seine Apologeten noch seine Kritiker können sich offenbar der potentiellen Suggestivkraft dieser historischen Persönlichkeit entziehen. Die Popularität Peters I. ist nicht nur durch seine fortdauernde Inszenierung und Präsenz im öffentlichen Raum und im kulturellen Gedächtnis Russlands ungebrochen, sondern auch durch den Umstand, dass bislang eklatante Tabubrüche in seiner Wirkungs- und Deutungsgeschichte ihm kaum etwas anhaben konnten. Dieser ambivalente Kulturheros ist nach wie vor für die nationale Identitätskonstruktion Russlands unverzichtbar.
Luther war nicht nur zu Lebzeiten, sondern weit über seinen Tod hinaus eine Instanz, die wie wenige andere Kirchenleute nicht nur in religiöser Hinsicht, sondern umfassend als moralische, gesellschaftliche, politische und nationale Instanz galt. Anknüpfend an diese immense Bedeutung Luthers für die deutsche Kulturgeschichte, soll im vorliegenden Aufsatz die Geschichte dieser dezidiert deutschen Heroisierung bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden. [...] Um diesen Prozess historisch zu begreifen, ist es zunächst erforderlich bis zu Luthers Selbststilisierungen und bis zu den Anfängen der Lutherverehrung zurückzugehen, um eine Genealogie des Heros Luther zu entwickeln. Nach einigen einleitenden Überlegungen dazu (1.) wird es (2.) am Beispiel des Reformationsjubiläums 1617 um die Frage gehen, wie kulturelle Heroisierung kulturelle Anti-Heroisierung und damit Parteilichkeitsbildung bedingen kann. Im Anschluss (3.) wird die Frage erörtert, wie durch gezieltes Anknüpfen an bestimmte Momente der Reformation auf dem Wartburgfest 1817 versucht wurde, der Parteibildung der freiheitlich-nationalen Bewegung in Deutschland eine kulturelle Dimension zu geben. Schließlich wird (4.) nach der Gegenwart und Zukunft des Heros Luther gefragt. Da die Deutung Luthers als Heros, wie wir sehen werden, eng einherging mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins in Deutschland, steht zu vermuten, dass der Heros Luther in den letzten Jahrzehnten ins Wanken geraten ist. Ob dem so ist oder ob das heroische Konzept fortbesteht, wird dabei und den Beitrag abschließend ebenfalls zu erörtern sein.
Im geographischen Areal der ehemaligen Sowjetunion existiert ein fast dreihundertjähriges Wechselverhältnis zwischen dem Feld der Macht und dem Feld der Literatur (und Kunst). Das "Denkmal" fungiert als Medium dieses Wechselverhältnisses, als ein Relais, das das Oszillieren des Heroischen zwischen dem Politischen und dem Künstlerischen, vom Staatslenker zum Künstler und zurück ermöglicht. Im Folgenden verfolgt Zaal Andronikashvili die Entstehung und Rezeption des Kulturheros aus und im Denkmal in fünf Schritten. Im ersten Schritt geht er auf die Aporien des Denkmals als eines absolutistischen Repräsentationsmediums ein. Der absolutistische Monarch ist zwischen dem Anspruch auf die ewige Präsenz und der nekrotischen Semantik des Denkmals hin- und hergerissen: er ist einerseits lebendig und immer präsent, andererseits erhebt er diesen Anspruch in und durch die Maske verstorbener Heroen. Im zweiten Schritt geht er den Konsequenzen nach, die die Einführung monarchischer Repräsentationsformen im Medium der Vollplastik im orthodoxen religionskulturellen Kontext hat: Sie setzt ikonoklastische Ressentiments frei und aktualisiert idolatrische Gefühle. Das Denkmal wird semantisch mit den Qualitäten des ambivalenten - sowohl heil- als auch unheilspendenden - Heros aufgeladen. Im dritten Teil untersucht Andronikashvili die künstlerische Kritik an solchen absolutistischen Repräsentationsformen sowie Fragen der Repräsentierbarkeit eines Künstlers am Beispiel der Denkmal-Gedichte von Aleksandr Puškin. Diese ist zugleich ikonoklastisch und ikonodul. Als ikonoklastische Kritik prangert sie das Gemachte, Künstliche, Tote der Repräsentation an. Der Künstler eignet sich aber auch monarchische Repräsentationsformen an, selbst wenn er sie sakral (freilich nicht im religiösen Sinne, sondern als Freiheitskampf) umdeutet. Dadurch begründet der Künstler einerseits einen vom Monarchischen unabhängigen politisch-poetischen Raum, andererseits übernimmt er sowohl die heilspendende als auch die nekrotische Semantik des Heros. Im vierten Teil verfolgt Andronikashvili die Transformation der künstlerischen Rezeption des Denkmals als Metapher zum tatsächlichen Denkmal des Künstlers im Russland des 19. Jahrhunderts. Im letzten Schritt wird gezeigt, wie die ikonoklastische Rezeption der Avantgarde den Künstler von seinem (metaphorischen) Denkmalpostament stürzt und das Künstlerische im Zuge der Oktoberrevolution wieder dem Politischen unterordnet. Die dadurch entstandene Leerstelle des Künstlerischen wird wiederum von der politischen Führer-Repräsentation gefüllt, die nicht nur die Erbschaft monarchischer Repräsentation, sondern auch die der kulturheroischen Repräsentation antritt.
Andrea Albrecht zeichnet in ihrem Beitrag, ausgehend von punktuellen Textbelegen, eine Skizze der unterschiedlichen diskursiven Verbindungen, die sich in der Rede vom "Held der Wissenschaft" abbilden können. In einem ersten Schritt wird zunächst das konnotative Umfeld nachgezeichnet, in dem sich die Rede vom "Held der Wissenschaft" situieren und etwa vom "Märtyrer der Wissenschaft" abgrenzen lässt (I). Die folgenden Abschnitte versammeln und analysieren Textbeispiele, in denen Heroismus und Wissenschaft auf unterschiedliche Weise verknüpft werden. Denn die Attribuierung eines wissenschaftlichen Akteurs als "Held" kann wörtlich genommen werden, sie kann aber auch metaphorisch sein oder auf die positive (oder auch negative, mitunter ironische) Auszeichnung von generellen oder auch speziellen Gemeinsamkeiten von Gelehrtentum und Heldentum hinauslaufen. Je nach argumentativer Absicht und Funktion kann man dabei symbiotisch verbindende (II), metaphorisch-analogisierende (III und IV), generalisierende und subsumierende Zuschreibungen (V) unterscheiden. Eine Grenzfigur stellen faktische Zuschreibungen dar, die aus einem zunächst metaphorischen Vergleich auf tatsächliche Übereinstimmungen des Verglichenen schließen (VI). Insgesamt aber sind es diese Koordinaten, die eine historische Perspektivierung des Themas mitbestimmen oder dieser vorausgehen müssten (VII).
Weibliche Vorbilder und Kulturheroinnen sind selten, besser gesagt: Sie gehören zum Personal mythischer Narrationen. Doch im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts, zur Zeit der Hussitenkriege, avancierte ein Bauernmädchen aus dem Dorf Domrémy in Lothringen zum weiblichen Vorbild schlechthin. [...] Während Jeanne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorwiegend als historisches, danach auch als mystisch-religiöses Bildmotiv oder als Monument reüssierte, rückte sie spätestens nach dem Ende des zweiten Kaiserreichs und dem Deutsch-Französischen Krieg als nationaler Topos in den Vordergrund. [...] Am 16. Mai 1920 wurde Jeanne d'Arc heiliggesprochen; die von Stimmen geleitete Analphabetin wurde zur Schutzpatronin der Medien, der Telegraphie und des Rundfunks erklärt. Seither zirkuliert sie als transnationale Heldin der Sendungen und Übertragungen: Die vielfältige Wirkungsgeschichte der Jungfrau von Orléans hat sich in der Moderne weder auf Frankreich oder auf ein bestimmtes politisches Programm beschränkt, noch auf Kunstgattungen oder bestimmte Medien. [...] Trotz (oder vielleicht gerade wegen) dieses beispiellosen Erfolgs ist das Mädchen aus Lothringen eine politisch umkämpfte Persönlichkeit geblieben, die vom Front National Jean-Marie Le Pens ebenso beansprucht werden kann wie umgekehrt von der Linken, die den visuellen Topos der bewaffneten Jungfrau bald mit dem Bild der revolutionären Marianne in Verbindung brachte.
Verkleidung und Entstellung, Verfälschung und Verfremdung gehören ebenso zu Carlyles intellektuellen Techniken wie Übertreibung und Provokation. Auch sein größter Coup - die gut besuchten und mit viel Beifall bedachten Vorlesungen "On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History" (1840) - sind vor diesem Hintergrund zu betrachten: Sie überzeugten nicht aufgrund ihrer sachlichen Argumentation, sondern Carlyles affektive Hingabe an sein eigenes kulturkritisches Ressentiment riss die Zuhörer mit. Seine Zeitgenossen wollte Carlyle davon überzeugen, dass im Erkennen der wahren Helden und ihrer Verehrung die einzige Möglichkeit zur Rettung bestünde - eine These mit großer Wirkung, für deren Propagierung er sein ganzes rhetorisches Talent einsetzte. In den Vorlesungen "On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History" (1840) entwarf Carlyle vor den Augen seiner Zuhörer ein beeindruckendes Panorama des Heldentums, das überraschende Figuren aufweist. Nicht nur Götter, Propheten und Könige, sondern auch Poeten, Priester und Schriftsteller gehören Carlyles Elysium an.
Die Figur des Heiligen, so wie sie das Christentum hervorbrachte, gehört zum Kernbestand des Religiösen. Das Fortleben dieses Kernelements in der Welt der Moderne bedeutet, dass die durch Aufklärung und Säkularisierung freigesetzte religiöse Aura aufgehoben und auf 'große Männer', auf die "Helden der Neuzeit" übertragen wurde. Diese These [Ernst] Cassirers behauptet eine Genealogie des Mythos vom außergewöhnlichen Menschen, der gemäß der historischen Zeitlage ideologiekonform seine Gestalt wechseln kann, wobei die Antriebskraft der kultischen Verehrung bestehen bleibt. Wenn der neue "Held der Moderne", der in [Thomas] Carlyles Figur des Kulturheros seinen Ursprung hat, ein Geschöpf des säkularen Zeitalters - ein "verweltlichter Heiliger" - ist, so lässt sich Cassirers These dahingehend ergänzen, dass der christliche Heilige als dessen Präfiguration betrachtet werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, die Figur der Kulturheroen direkt von der des Heiligen herzuleiten. Vielmehr kann der Heilige im Kulturheros in vielerlei Hinsicht als Präfiguration wiedererkannt werden. Der Heilige wiederum weist seinerseits nicht nur historisch, sondern auch genealogisch Verbindungen mit einer anderen Figur auf, und zwar dem vorchristlichen Heros, welcher zwar kein göttliches, aber ein über den Menschen stehendes Wesen ist. In diesem Sinne kann man den Heiligen als eine genealogische Stufe zwischen den mythischen Heroen der Antike und den 'großen Männern' der Moderne betrachten, welcher Eigenschaften sowohl seiner Vorläufer als auch seiner Nachfolger aufweist. Die Absicht des vorliegenden Beitrages liegt darin, diese genealogischen Linien zu verfolgen und sowohl Ähnlichkeiten als auch Differenzen aufzuzeigen.
Athleten des Genusses, im Übermaß Leidende : zur Erscheinung von Heros und Heroine in der Antike
(2017)
Der Heros und sein weibliches Pendant, die Heroine, begegnen uns in der griechischen Literatur- und Religionsgeschichte von früh an, auch wenn letztere ein eigenes Vokabular erst ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. erhält. Allgemein lassen sich beide als Zwischenwesen bestimmen, das sowohl göttlichen als auch menschlichen Ursprungs ist: "hemitheos", der "Halbgott". [...] Gerade der Umstand der Sterblichkeit macht jedoch die besondere Macht des Heros aus. Erst als Toter, der um Schutz und Hilfe angerufen wird und durch Opfergaben besänftigt werden muss, ist ein Halbgott Heros. Er erscheint als "Toter, der von seinem Grab aus im Guten oder Bösen mächtig wirkt und entsprechende Verehrung fordert". [...] Heroen wirken aber nicht nur von ihrem Grab aus, sondern sie sind auch aufgrund ihres außergewöhnlichen Lebens zu Ahnherren oder Ahnfrauen eines vornehmen Geschlechts berufen, das sich von ihnen herleitet. [...] Anders noch als über ihre Zugehörigkeit zu einem heroischen Zeitalter lassen sich die Heroen über den Kult bestimmen, der ihnen zukommt. Dessen archäologischer Nachweis ist freilich erst ab dem achten Jahrhundert v. Chr. unbestritten, einem Zeitpunkt, der in der griechischen Religions- wie allgemeinen Geschichte einen wesentlichen Einschnitt darstellt. 776 v. Chr. werden die panhellenischen Spiele gegründet, wenig später in den verfallenen mykenischen Gräbern die Heroen verehrt. Ihr Kult wäre also ein nachhomerisches Phänomen, das auch in der mykenischen (Vor-)Zeit unbekannt gewesen sei, wenngleich er gerade an sie anzuschließen wünsche.
Die Frage ist, ob und in welcher Weise säkulare Texte auf religiöse Auslegungspraktiken und Deutungsmuster rekurrieren, und welche Verschiebungen dabei zwischen ihnen stattfinden. Die Autoren gehen dabei erstens davon aus, dass der Kommentar eine paradoxe Textpraxis ist, und zweitens davon, dass diese Paradoxie in der Moderne besonders dort manifest wird, wo sie sich mit denjenigen Paradoxien berührt oder überschneidet, die im Prozess der Säkularisierung entstehen.
Wie der Beitrag von Herbert Kopp-Oberstebrink zeigt, brachte tatsächlich gerade die Publikation von Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft" (1781/87) - nicht zuletzt wegen Kants neuartiger Terminologie - einen regelrechten "Kommentierungsfuror" hervor, der christlicherseits interessanterweise hauptsächlich dem protestantisch-theologischen Umfeld entstammte. Anhand der Kant-Kommentare Georg Samuel Albert Mellins (1794/95), Arthur Schopenhauers (1819) und Hans Vaihingers (1881) zeigt der Beitrag, dass philosophische Kommentare selbst eigenständige Theoriearbeit leisten, deren Voraussetzungen sich aus der protestantisch geprägten (Bibel-)Hermeneutik herleiten, und in denen immer auch das Verhältnis von Philologie und Philosophie zur Debatte steht.
Nicht nur die Philologie, sondern auch die Philosophie setzt sich jedoch in der Moderne mit dem Kommentar und seiner religiösen Dimension auseinander. Der Beitrag von Christoph Schulte zeigt dies an zwei Maimonides-Kommentaren aus der Haskala, der jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert: Sowohl der Kommentar Moses Mendelssohns (1761/65) als auch derjenige Salomon Maimons (1791) greifen auf die kanonische Autorität des mittelalterlichen Autors zurück, um die moderne Philosophie der Aufklärung unter ihren jüdischen Zeitgenossen zu propagieren. Nicht zufällig verwenden sie dafür das Genre des Kommentars, die dominante literarische Gattung im rabbinischen Judentum, und damit eine eminent religiöse Form. Dabei will Mendelssohns Kommentar zu Maimonides' Kommentar zu Aristoteles' Logik und Metaphysik die jüdische Religion selbst als kompatibel mit der Aufklärung erweisen. Salomon Maimon hingegen liefert in seinem Kommentar zu Maimonides' philosophischem Hauptwerk "Führer der Unschlüssigen" eine hebräische Einleitung in die Terminologie Immanuel Kants (mit Übersetzung der zentralen Begriffe) wie auch die erste moderne Wissenschafts- und Philosophiegeschichte in hebräischer Sprache überhaupt. Beiden Aufklärern ist also gemeinsam, dass sie sich zwar der nichtjüdischen Welt der Aufklärung öffnen, dabei aber nicht die rabbinische Tradition des religiösen Judentums preisgeben.
Claude Haas untersucht die Goethe-Kommentierung Heinrich Düntzers im späten 19. Jahrhundert, die konsequent gegen das säkulare Selbstverständnis der eigenen Disziplin verstößt - und von dieser damit wiederum als verachteter Außenseiter verstoßen wird. Düntzer unterläuft die Sakralisierung der Dichtung, indem er dem Dichter immer wieder im Namen einer - etwa sachlichen - Wahrheit widerspricht und diese Wahrheit noch dazu katholisch grundiert (und mit Spitzen gegen protestantische Goethe-Ausleger versieht). Denn Wahrheit ist dabei in Düntzers Augen erstens nicht schriftlich kodiert und gleicht zweitens strukturell der theologischen Figur des "deus absconditus", sodass sie gerade in dieser Abwesenheit 'sakralisiert' wird. Die 'katholisierenden' Kommentare Düntzers zu Goethes Iphigenie auf Tauris und Faust II erklären Literatur selbst gleichsam zu Religion und zeigen damit gewissermaßen die Kehrseite des Versuches, nicht mehr die Heilige Schrift, sondern den Kanon der Klassiker ins Zentrum der Textkultur zu stellen.
Arkanisierung des Vorklassikers : zur Lessing-Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen
(2017)
Die Spannung von religiöser und säkularer Kommentierung prägt nicht nur den Umgang mit der Bibel, sondern auch mit anderen Texten, etwa mit den 'Klassikern' der Nationalliteraturen. Kai Bremer untersucht am Beispiel der Lessing-Philologie eine Arkanisierungsstrategie, die den Kommentar selbst hermetisch abriegelt und nur für 'Eingeweihte' zugänglich macht. So zeigt er, dass die sog. "P/O", d.h. die Lessing-Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen (1925-1935) nur solchen Lesern zugänglich ist, die bereits umfassend mit der zeitgenössischen Lessing-Philologie vertraut sind und insbesondere die früheren Lessing-Kommentare der Editoren kennen. Somit 'arkanisieren' die Herausgeber ihren eigenen Kommentar und damit auch die eigenen philologischen Praktiken: Sie schaffen einen philologischen Raum, der - vergleichbar einem heiligen Raum - nur Eingeweihten zugänglich ist.
Caroline Sauter beschäftigt sich am Beispiel der Theorie und Praxis des Kommentierens bei Walter Benjamin damit, wie traditionelle religiöse Kommentarformen in Kommentare zu moderner Literatur übertragen werden und vice versa. Dabei wird die strikte Grenzziehung zwischen Theologie und Säkularisierung unterlaufen, die gerade in der Benjaminforschung gerne bemüht und auf die Formel einer vermeintlichen Alternative von "Messianismus vs. Materialismus" gebracht wird. So zeigen zwei konkrete Beispiele aus Benjamins Einbahnstraße (1928) und seinen Brecht-Kommentaren (1938), dass Theologie und Philologie - laut Benjamin die beiden "Grundwissenschaften" des Kommentars - in seinem Kommentarwerk ineinander übergehen. Die Alternative von 'Theologie' einerseits und 'Säkularisierung' andererseits ist also für Benjamin nicht ohne weitere Differenzierung haltbar; vielmehr durchdringen die beiden Dimensionen einander gerade in seinem Umgang mit der Gattung des Kommentars, der ein kritisches Verständnis der Theologie selber anschaulich macht.
Die erste Sportverletzung : Genesis 32 zwischen religiösem Kommentar und säkularer Philologie
(2017)
Der Beitrag von Brian Britt befasst sich mit Bibelkommentaren, genauer mit Kommentaren zu Genesis 32, geht allerdings nicht von der theologischen Exegese, sondern von der (post-)strukturalistischen Kommentierung dieser Bibelstelle durch Roland Barthes aus. Dabei wird Britts Lektüre von vornherein dadurch geleitet, dass er ein "Spannungsfeld" zwischen dem traditionellen, religiösen Kommentar (etwa Rashi, Calvin u.a.) einerseits und der modernen, wissenschaftlichen, säkularen Philologie (etwa Barthes, Sherwood u.a.) andererseits annimmt - und dies innerhalb wie auch außerhalb der Bibelwissenschaft. Dabei zeigt er, dass die strikte Grenzziehung zwischen 'frommer' und 'wissenschaftlicher' bzw. 'religiöser' und 'säkular-philologischer' Deutungspraxis nicht nur von den Kommentaren, sondern bereits von den kommentierten Bibeltexten selbst unterlaufen werden. Die Bewegungen von Text und Kommentar ähneln sich also, woraus Britt folgert, dass auch die modernen, wissenschaftlich-säkularen Bibelkommentare letztlich der biblischen Tradition angehören, insofern sie methodisch den keineswegs widerspruchsfreien biblischen Texten selbst nachempfunden sind.
Andreas Mauz betrachtet, methodisch und disziplinär zwischen der Theologie und der Literaturwissenschaft changierend, zwei theologische Kommentare zur Johannesoffenbarung aus dem 20. Jahrhundert, und zwar aus narratologisch-poetologischer Perspektive. Ausgehend von der Patmos-Szene von Offb 1, deren "Selbstsakralisierung" ihre hervorstechendste Autorisierungsstrategie ist, fragt Mauz danach, wie Bibelkommentare mit dieser umgehen. In den betrachteten Kommentaren von Bousset (1906) und Lohmeyer (1926) finden sich dabei 'säkularisierende' und 'sakralisierende' Bewegungen, in denen Vokabulare der "visionären Autorschaft" bewusst eingesetzt werden, um theologische Dogmen zu untermauern. Somit stellt sich die Frage nach Säkularisierungs- und Sakralisierungsdynamiken in der Kommentarpraxis selbst, wobei gerade die selbstreflexiven Eröffnungsgesten, oder "Schrift-Schriftstellen", oft zur Konsolidierung fundamentaltheologischer Autorisierungen herangezogen werden. Ein Korrektiv zu dieser Tendenz, so Mauz' Schlussfolgerung, könne ein literaturwissenschaftlicher Spezialkommentar zur Offenbarung darstellen, der bis heute fehle.
Der Beitrag von Daniel Weidner stellt anhand dreier kommentierter Bibelübersetzungen im 18. Jahrhundert verschiedene Kommentierungsverfahren als Möglichkeiten kritischer Bibellektüre vor, die sich eben nicht nur an ein Fachpublikum, sondern vor allem auch an die Öffentlichkeit wendet. Seine Untersuchung setzt an der Zäsur in der Aufklärung an. Anhand der Kommentierungsverfahren in der Wertheimer Bibel (1702-1749), in Michaelis' kommentierender Bibelübersetzung "mit Anmerkungen für Ungelehrte" (1769-1792) und in Herders Liedern der Liebe (1778) zeigen sich durchaus verschiedene Strategien der Übertragung, Aktualisierung und Anpassung: Die Wertheimer Bibel 'übersetzt' die Wörter der Bibel in die Sprache der kritischen Vernunft, Michaelis will popularisieren, nutzt aber die Historisierung auch zur Apologetik gegen etwa deistische Kritik, und Herder zerlegt den Text kritisch, um ihn poetisch lesen zu können und den Leser zu erreichen. Indem die verschiedenen Kommentare dabei auch ihre eigenen Spannungen und Paradoxien ausstellen - etwa, indem sie ihrerseits weitere Kommentare fordern oder sich unlösbare Aufgaben stellen -, wird deutlich, wie schwer auf einen Nenner zu bringen der Übergang zur Moderne ist.
Der historisch-systematische Beitrag von Melanie Köhlmoos über den Kommentar als theologische Gattung eröffnet den Band. Ausgehend von der durchaus symptomatischen Beobachtung, dass es bislang keine systematische Geschichte des Bibelkommentars innerhalb der Theologie gibt, obwohl der Kommentar eine der wichtigsten theologischen Textformen darstellt, versucht die Autorin, die Geschichte des Kommentars zumindest zu skizzieren, wobei sie in der Aufklärung, d.h. auf der Schwelle zur Moderne, eine deutliche Zäsur feststellt: Weil die Bibel seit der Aufklärung kaum mehr als kohärente, widerspruchsfreie Einheit angesehen wird, sondern stattdessen als Texte-Sammlung, kommt es zu einem Bruch zwischen Exegese und Dogmatik, wobei sich die Exegese als säkulare historische Textwissenschaft versteht. Ganz in diesem Sinne gewinnt auch die Einleitung zum Stellenkommentar seit dem frühen 18. Jahrhundert an Bedeutung. Dass seitdem in weiten theologischen Kreisen nicht mehr vom Dogma der Einheit der Schrift her kommentiert wird, bezeichnet Köhlmoos als Säkularisierung des theologischen Kommentars in der Moderne - der nicht zuletzt auch dadurch geprägt sei, dass auch die Bibeltexte selber, wie sie abschließend zeigt, mehr und mehr zu allgemeinem Kulturgut werden.
Bei "Litteratur, Kunst und Wissenschaft" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (1889) (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Suttner macht im Kapitel "Literatur, Kunst und Wissenschaft des Maschinenzeitalters" darauf aufmerksam, dass der 'gottgleiche Status' von damals zur Weltliteratur zählenden Dichtern vor allem auf der Anerkennung der Anerkennenden beruht: Überhaupt sah Suttner alle Menschen - also auch DichterInnen - in ihrer Zeit verankert und folglich deren Werke "als das zurückgeworfene Bild der Zeitgeist-Strahlen, welche in dem Brennpunkte eines Geistes sich vereinigt haben". Die Literatur selbst ist in diesem Sinne "nichts abgetrenntes - sie ist vielmehr der Brennpunkt des Zeitbewußtseins" und steht damit mit anderen 'Feldern' in enger Verbundenheit. Veranschaulicht wird dies anhand des zu Suttners Lebenszeit entstandenen Naturalismus. Er sei eine Erscheinung, welche "durch den Kampf der neuen und alten Weltanschauung hervorgerufen wurde". Die aus dem Gebiete der Wissenschaft kommende Forderung nach Wahrheit versuchte man auch in der Literatur umzusetzen. Auch diesbezüglich wies Suttner nachdrücklich darauf hin, dass die Forderung nach Wahrheit an sich nichts Neues sei, sondern dass die Resonanz, auf die diese Forderung stoße, das Besondere sei, denn "damals hat es niemand gehört; es stand in ihren Werken, aber bisher hat es niemand herausgelesen." Auch die geringe Wertschätzung, die man im Deutschen Reich der damaligen zeitgenössischen Literatur und deren AutorInnen entgegenbrachte, wird in einen geopolitischen Zusammenhang gesetzt. Suttner sieht den geringen Status der SchriftstellerInnen mit dem vorherrschenden militärischen Selbstbewusstsein des 'deutschen Volkes' verbunden. Dass Kunst ein Spiegel des Zeitgeistes ist - wie auch die Kunstkritik -, führt Suttner ihren LeserInnen auch anhand der Musik vor Augen. Suttner zeichnet ein Bild der fehlenden Objektivität der musikalischen Kritik und entlarvt die Wertungen als weltanschauliche Meinungen der KritikerInnen. Ihre Kritik wendet sich dabei vor allem gegen jene BefürworterInnen einer "sogenannten 'klassischen' deutschen Musik", welche Tanz- und italienische Musik abwerteten. Suttner vergleicht diese mit einer finsteren Priesterschaft, deren Sprache "an Unduldsamkeit, Überspanntheit und Selbst-Beweihräucherung hinter keiner konfessionellen Alleinseligmachungs-Predigt" zurücksteht. In "Litteratur, Kunst und Wissenschaft" findet sich eine Betrachtungsweise, welche Suttner mit vielen ihrer Zeitgenossen teilte: einem auf dem Darwin’schen Evolutionismus beruhenden Fortschrittsoptimismus. Der Glaube an den geschichtlichen Fortschritt der Menschheit war charakteristisch "für den überwiegenden Teil des politischen und geschichtlichen Denkens in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts" und prägte gegen die Wende zum 20. Jahrhundert die Denkweise vieler Intellektueller. Die Auffassung von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Menschheit war schon im 18. Jahrhundert präsent, wurde aber erst im 19. Jahrhundert mit naturwissenschaftlichen Theorien verbunden: Der Fortschritt der Menschheit wurde als 'Naturgesetz' gesehen; nicht Gott oder der Mensch bestimme die geschichtliche Entwicklung, sondern die Natur. Menschen könnten zwar "in technischer, wissenschaftlicher, sozialer, politischer, und nicht zuletzt in moralischer Hinsicht" das Fortschreiten zu "immer höhere[r] Vollkommenheit" hemmen oder unterstützen - aufzuhalten sei dieser naturgesetzliche Prozess aber nicht.
Der Zeitgeist
(2017)
Im Inventarium einer Seele wird nicht nur auf eine Beeinflussung der Person durch ihren Status, sondern auch auf jene durch den vorherrschenden Zeitgeist aufmerksam gemacht. Alles sei von dieser "unsichtbare[n], mächtige[n] Gewalt" abhängig. Vergleichbar mit einem feinen Staub dringe er in jede Ecke und wirke auf der Menschen "geistiges Leben, auf ihr Bewußtsein", weshalb es schlicht unmöglich sei, außerhalb seiner Zeit zu leben. Auch die Entwicklung und Ausbreitung von Ideen wird als dem Geist der Zeit unterworfen angesehen: Gleich einem Ton, der Resonanz braucht, um erklingen zu können, brauche eine Idee Verständnis, um weitergetragen zu werden. Deshalb gebe es "mitunter in alten Werken Ideen, welche damals, als sie zuerst ausgesprochen wurden, unbemerkt vorübergingen und welche jetzt als neu die Welt revolutionieren."
Suttner zeichnet im "Inventarium einer Seele" zwei Varianten eines reaktionären Typus, mit welchen das erzählende Ich in Gedanken Diskussionen führt und diese niederschreibt. Im vorliegenden Textausschnitt finden sich die zwei Beschreibungen dieses Typus und - als mittlerer Textteil - eine Reflexion des erzählenden Ichs.
Die Frauen
(2017)
Bei "Die Frauen" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Bertha von Suttners Soziologieverständnis war stark von Auguste Comtes positivistischer Sichtweise geprägt, die auf einem absoluten Glauben an Wissenschaft und Vernunft beruht. Dieses positivistisch geprägte soziologische Programm hatte um 1900 seinen Höhepunkt erreicht und war danach für Jahrzehnte unter den Generalverdacht der Faktenhuberei und der naiven Wissenschaftsgläubigkeit gestellt worden. Mit den Positivisten teilte Suttner ein monistisches Weltbild, sah das menschliche Zusammenleben als naturgesetzliches Ganzes an und negierte eine nomothetische Wissenschaftsauffassung. Für sie hatte die Soziologie - wie die Wissenschaft überhaupt - die Aufgabe, das menschliche Zusammenleben sowohl zu beschreiben als auch zu verbessern. Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen betrachtete Bertha von Suttner auf Basis einer Theorie der Sozialisation. Für sie gab es keine spezifisch männlichen oder weiblichen Wesenszüge. Bei Frauen oder Männern vermehrt wahrgenommene Charaktermerkmale entstünden entweder durch Zuschreibung, oder sie seien "keine wesentlichen, im Organismus wurzelnden" Eigenschaften, sondern könnten "auf äußere Umstände und Einflüsse" wie "Erziehung und Lebensstellung" zurückgeführt werden. Diese soziologisch gefärbte Auffassung von Geschlecht ist detailliert in der fiktiven Vorlesung mit dem Titel "Die Frauen" ausgeführt. Im Text zeichnet Suttner das Bild einer zukünftigen Gesellschaft, in der Geschlecht nicht mehr als hierarchisierendes Ordnungsprinzip fungiert. Überhaupt billigte Suttner den Geschlechtern bis auf wenige physiologische Merkmale keine natürlichen Unterschiede zu. Eigenschaften wie körperliche Stärke, Mitgefühl und Mut sah sie bei beiden Geschlechtern gleichermaßen vorhanden. Suttners Auffassung stand im Gegensatz zu der allgemein vorherrschenden, welche auf Hierarchisierungen von Unterschieden beruhte. Suttner kritisiert die Zuordnung von geistigen und charakterlichen Eigenschaften zu physiologischen Eigenschaften, wie sie auch noch heute getroffen wird. Dabei geht sie wissenschaftlich-analytisch vor, indem sie Textstellen aus markanten Büchern, die 'Frauen' zum Thema haben, genau unter die Lupe nimmt und deren fehlende Objektivität und mangelhafte Argumentation darlegt. Dass bestimmte Eigenschaften bei den Frauen ihrer Zeit häufiger zu beobachten sind als bei Männern, verneint die Autorin nicht, doch erklärt sie diese Prägung mit der Sozialisation. Suttner macht aber nicht nur auf Paradoxe in der Argumentation aufmerksam, sondern zeigt die verschiedenen Formen auf, in welchen die Unterdrückung der Frau in verschiedenen Epochen zum Vorschein kommt: So argumentierten die VertreterInnen der Lehre von der Minderwertigkeit der Frau im 19. Jahrhundert nicht mehr theologisch, sondern philosophisch und 'wissenschaftlich'. Der Rang der Frau sei zwar nicht mehr der einer Sklavin, aber immer noch der einer dem Mann Untergebenen. Somit sei bloß die Form subtiler geworden, denn "die Unterordnung, die Abhängigkeit - die war geblieben." Diese Unterordnung der Frau unter den Mann als eine "Art Neben- oder vielmehr Unterabteilung des Menschentums" sieht Suttner auch in der Sprache gespiegelt: Der Begriff 'Mensch' umfasst im Maschinenzeitalter nur den Mann. Diese Reflexionen Suttners zur Sprache können als "Ansätze zu einer feministischen Sprachkritik" betrachtet werden.
Suttner erklärt den Antisemitismus in ihrem Wort an die antisemitischen Frauen auch sozialpsychologisch. Ein Kernaspekt dabei sei die Feindseligkeit, die Hassfähigkeit, die der Mensch "gegen die Dinge wendet, die ihm störend, schädlich oder auch nur - unangenehm erscheinen". Diese Fähigkeit zu hassen werde "sehr leicht angefacht, denn er [der Mensch] ist froh, einen Gegenstand zu finden, auf welchen er die verschiedenen Richtungen seines Grolles concentriren kann." Hinzu komme, dass viele Menschen - vor allem jene mit niedrigem Sozialstatus - aus der Degradierung von Anderen an Selbstwert gewinnen würden. Suttner bezeichnet den Antisemitismus in dem Artikel von 1893 als "Gefahr für die Gesellschaft" und warnt auch eindringlich vor seinen noch latenten, aber nicht weniger gefährlichen Ausprägungen. Zwar werde (noch) kein Kampfruf wie 'Schlagt sie nieder!' ausgestoßen, doch "die Häufung der einzelnen Beschuldigungen, Verdächtigungen, Geringschätzungen" müsse früher oder später zu jenem Ruf führen. Die AntisemitInnen strebten an, die "Verfolgung" der Juden, "die jetzt noch außergesetzlich ist, zum Gesetz zu erheben". Der Antisemitismus an sich widerstrebe aber dem Prinzip der Gerechtigkeit und basiere auf fehlerhaften Argumentationen, sei also ein Vorurteil: Denn "[a]lle Schlechtigkeiten, Verbrechen und Vergehen, welche innerhalb der Gesellschaft begangen werden, sind individuelle Thaten und dürfen daher nur an den Einzelnen verpönt und bestraft werden." Indem man eine Gruppe ihrer "Glaubens- oder Raceangehörigkeit wegen" zurücksetze, tue man vielen Einzelnen unrecht. Suttner beschreibt das Phänomen, dass AntisemitInnen sich von ihren GegnerInnen permanent persönlich beleidigt und angegriffen und sich als Gruppe diskriminiert fühlten. Sie verwahrt sich gegen die Behauptung eines solchen Angriffs.
Die Dummheit
(2017)
Suttner meint in ihrer Betrachtung von 1890, dass man in der Dummheit deshalb "nichts 'Unmoralisches' sieht", da sie "noch zu allgemein verbreitet [ist], um das öffentliche Gewissen zu beunruhigen. Es gibt noch keine 'öffentliche Vernunft', gegen die man verstoßen könnte, wie etwa gegen die 'öffentliche Sittlichkeit'". Während die Dummheit von ihren Zeitgenossen oft als harmlos bewertet wurde, sieht Suttner in ihr das "allerverbreitetste Uebel", dessen "Bethätigungen" mitunter "gemeingefährlich" seien. Als Beispiel hierfür führt sie die Folter an: Die "Torturjustiz" beruhe auf unzulänglicher Denkkraft, zumal es einleuchtend sei, dass man unter den Qualen jegliches Geständnis erzwingen könne, dieses also nichts beweise. Suttner erklärt deshalb die Dummheit zu einem mit Bosheit und Habgier vergleichbaren Übel. Die Folgen einer dummen Tat seien nicht weniger verderblich als jene der angewandten Bosheit.
Der Jugendunterricht
(2017)
Bei "Der Jugendunterricht" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Bertha von Suttners Soziologieverständnis war stark von Auguste Comtes positivistischer Sichtweise geprägt, die auf einem absoluten Glauben an Wissenschaft und Vernunft beruht. Dieses positivistisch geprägte soziologische Programm hatte um 1900 seinen Höhepunkt erreicht und war danach für Jahrzehnte unter den Generalverdacht der Faktenhuberei und der naiven Wissenschaftsgläubigkeit gestellt worden. Mit den Positivisten teilte Suttner ein monistisches Weltbild, sah das menschliche Zusammenleben als naturgesetzliches Ganzes an und negierte eine nomothetische Wissenschaftsauffassung. Für sie hatte die Soziologie - wie die Wissenschaft überhaupt - die Aufgabe, das menschliche Zusammenleben sowohl zu beschreiben als auch zu verbessern. Besonders präzise kommt Suttners Standpunkt zur Bildung und ihre Kritik am Bildungssystem in der Vorlesung über den Jugendunterricht zum Ausdruck. Das vortragende Ich aus dem Maschinenzeitalter kritisiert die Kluft zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem in der Schule vorgetragenen Wissen um 1885 / 86. Den Gegensatz erklärt es durch die Zweckgebundenheit des schulischen Wissens: "Was der Staat heranbilden wollte, waren Staatsdiener und nicht Weltweise", weshalb der Lehrstoff nach vermeintlicher Gefahr und Nützlichkeit ausgewählt worden sei und der Wahrheitsanspruch eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Vor allem der Geschichtsunterricht sei im 19. Jahrhundert dazu verwendet worden, den jungen Menschen "sogenannte Grundsätze beizubringen", wie die Erweckung des patriotischen Stolzes und der Kriegslust, die Loyalität gegenüber dem Vaterland und das Schüren von Rassenhass. Als Beispiel werden Erzählungen von Herrscherbiographien herangezogen: Mit "kriechende[r] Bewunderung" verfasst, verherrlichen sie Gräueltaten und schreiben Kultur nicht vielen Personen, sondern einer einzelnen zu. Suttner verwahrt sich gegen diese "'Große-Männer-Theorie', welche die Schicksale aller Reiche und Völker von dem Genius einzelner Helden und Führer ablenkt". Ferner kritisiert sie den verherrlichenden Ton der fürchterlichen Szenen in diesen Biographien, welcher dem wichtigsten Attribut der Wissenschaftlichkeit - der "absolute[n] Gleichgiltigkeit" - widerspreche. Suttner stand den traditionellen staatlichen Bildungseinrichtungen sehr kritisch gegenüber. Gerade deshalb spielte für sie eine Bildung, deren Ziel die "Erkenntnis von der Wirklichkeit der Dinge, von deren ursächlichem und notwendigem Zusammenhang" ist, programmatisch eine große Rolle.
Soziologie und Politik
(2017)
Bei "Soziologie und Politik" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (1889) (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Bertha von Suttners Soziologieverständnis war stark von Auguste Comtes positivistischer Sichtweise geprägt, die auf einem absoluten Glauben an Wissenschaft und Vernunft beruht. Dieses positivistisch geprägte soziologische Programm hatte um 1900 seinen Höhepunkt erreicht und war danach für Jahrzehnte unter den Generalverdacht der Faktenhuberei und der naiven Wissenschaftsgläubigkeit gestellt worden. Mit den Positivisten teilte Suttner ein monistisches Weltbild, sah das menschliche Zusammenleben als naturgesetzliches Ganzes an und negierte eine nomothetische Wissenschaftsauffassung. Für sie hatte die Soziologie - wie die Wissenschaft überhaupt - die Aufgabe, das menschliche Zusammenleben sowohl zu beschreiben als auch zu verbessern. In "Soziologie und Politik" sieht das Ich den Staat als Organismus und vergleicht die Vorgangsweise mancher Politiker mit einem Menschen, welcher über keine physikalischen Kenntnisse verfügt, aber in einem Chemielabor versucht, Substanzen herzustellen. Suttner fordert deshalb für Politiker eine Ausbildung in Sozialwissenschaften und kritisiert, dass Politiker gar keine fachspezifische Ausbildung brauchten, sondern dass der Gewinn von Wählerstimmen reiche. Allein durch die Wahl erhielten Personen eine Position mit Entscheidungsrecht über weitreichende politische Bereiche - Kultur, Gesundheit, Landwirtschaft, Handel, etc. Für Suttner entbehrte dieses System der objektiven Wahrheit; sie sah es vielmehr geprägt von den ausschließlich individuellen Interessen der einzelnen Personen und den Interessen der politischen Parteien. Die Führung eines Staates aber müsse über die "Wechselbeziehungen zwischen Ursache und Wirkung" Bescheid wissen und dürfe nicht nur kurzsichtig handeln.
Den Namen der Pazifistin, Schriftstellerin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner im Zusammenhang mit der sich erst etablierenden Gesellschaftswissenschaft zu sehen, mag auf den ersten Blick verwundern. Zu Unrecht. Denn Bertha von Suttner beschäftigte sich seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts intensiv mit Soziologie. Viele ihrer Schriften sind als "soziologisch", "soziopolitisch" beziehungsweise "sozialanalytisch" zu werten oder enthalten Gedanken, die im Zusammenhang mit einer soziologischen Weltanschauung stehen. Ein Bewusstsein für diese intensive Auseinandersetzung Bertha von Suttners mit der Soziologie zu schaffen, ist das Anliegen dieser Textsammlung: Ausgewählte Essays, journalistische Artikel und Romanausschnitte geben einen Einblick in die soziologisch geprägte Weltsicht der Schriftstellerin und öffnen unseren Blick für bislang unentdeckte Facetten in ihren Schriften. Eingebettet in den Entstehungskontext zeigen uns die Textpassagen, dass auch Bertha von Suttner zur Verbreitung der Gesellschaftswissenschaft im deutschsprachigen Raum beitrug.
Sozialgeschichte des Theaters - das soll im folgenden bedeuten: eine Geschichte der Berührungen der Institution und des Mediums Theater mit "Gesellschaft". Diese Formel lenkt den Blick auf zwei Sachverhalte, nämlich zum ersten auf die Gruppe(n) derjenigen, die Theater rezipieren, also auf bestimmte Gesellschaftsausschnitte, aus denen sich gewissermaßen Publikum konstituiert, zum zweiten auf die Reflexion sozialer Konstellationen und Prozesse im Rahmen des künstlerischen Produkts "Theater", etwa auf der Ebene der behandelten Themen und Stoffe. Beide Sachverhalte sind nicht zu trennen von der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Theater. [...] Nähert man sich Wien und seinem Theater über Konzepte wie Identität oder Image, so erhebt sich die Frage, wie sich dieses "Wien" eigentlich fassen lässt. Wien als räumliches und soziales Gebilde besaß und besitzt eine überaus komplexe Struktur. [...] Um sich diesen Sachverhalten immerhin anzunähern und Wien als einen in einzigartiger Weise geordneten Raum des sozialen Miteinanders, des Wohnens, des Arbeitens und des Vergnügens zu erschließen, bietet sich das Modell einer kulturellen Topographie an. [...] Mit den Begriffen Identität und Topographie sind jene beiden Kategorien benannt, an denen sich die folgenden Ausführungen zum Wiener Theater vornehmlich orientieren. Diese Zugangsweise erhebt ebenso wenig Anspruch auf Objektivität wie die Auswahl der Aspekte der Wiener Theatergeschichte, die aus der vorgegebenen, drei Jahrhunderte umfassenden Zeitspanne herausgegriffen und diskutiert werden. Einige hauptsächliche Prämissen der Darstellung seien gleichwohl benannt: Erstens wird im Sinne einer integralen Theatergeschichtsschreibung die dem Miteinander und Gegeneinander der Disziplinen (Sprech-)Theaterwissenschaft und Musikwissenschaft nach wie vor zugrunde liegende, vom historischen Theateralltag aber nicht gedeckte Trennung von Sprechtheater und musikalischem Theater aufgegeben, fallweise auch die Trennung von institutionalisiertem Theater und semitheatralen Formen. Zweitens werden - entsprechend der im vorliegenden Kontext erforderlichen Entprivilegierung (hoch-)kultureller Erscheinungen - populäre, auf ein breites Publikum zielende Genres besondere Berücksichtigung finden, Genres, die übrigens fast durchwegs dem musikalischen Theater angehören. Drittens wird es im Hinblick auf die Berührung zwischen der Gesellschaft bzw. ihren Teilen und dem Theater vorrangig um Zugänge und um Zugänglichkeiten gehen: das Stichwort "Zugänge" bezieht sich auf Räume für Theater, und zwar auf Räume der Stadt, die dem Theater erschlossen werden, und auf die eigentlichen Theatergebäude / Institutionen als Orte des Aufeinandertreffens von Theaterspiel und Zuschauer; mit "Zugänglichkeiten" sind jene Bereiche der Theatergesetzgebung (inklusive herrschaftlicher Einzelentscheidungen) gemeint, die gleichsam die Rezeption von Theater steuern, wie etwa das Konzessions- und Privilegienwesen und die Zensur.
Johann Josef La Roche wirkte von 1781–1806 als Kasperl-Darsteller an der von Karl Marinelli (mit)begründeten, stehenden Bühne in der Leopoldstadt. Dieser Zeitraum, der identisch ist mit dem noch in den Kinderschuhen steckenden "Zeitalter der belletristischen Lesekultur" (zu beachten ist dabei, dass der Großteil der Bevölkerung noch im Analphabetismus verhaftet war, was das Theater für die bildungsfernen Schichten besonders interessant machte, da hier die zeitgenössische Dramenkunst unabhängig von der Lesefähigkeit des Einzelnen zu konsumieren war), bedarf einer näheren Betrachtung, um die historischen und soziologischen Bedingungen der Produktion, des Konsums sowie der Rezeption der für den Kasperl-Darsteller La Roche eigens gefertigten Komödientexte besser verstehen zu können. Auf den folgenden Seiten soll nun nichts anderes als der wirkungsgeschichtliche Kontext der Literaturproduktion wie der Literaturrezeption am Leopoldstädter Theater erhoben werden - oder mit anderen Worten - sollen epochale Charakteristika des literarischen Feldes herausgestrichen werden, die ausgehend von der Feldtheorie Pierre Bourdieus eine literatursoziologische Verortung erfahren.
The aim of the present study was to test the influence of picture composition on the narrative complexity of preschool children, and to compare the different procedures of the Cat Story of Hickmann (2002) and the Fox Story of Gülzow & Gagarina (2007) with the Baby Birds and Baby Goats Story of MAIN, by Gagarina et al. (2012). For this purpose, 27 children between the ages of 5;01 and 6;09 were tested with both variants to check whether a macro-structurally controlled picture structure would lead to more complex stories. The results show that narratives with a Goal-Attempt-Outcome structure, i.e. the Baby Birds and Baby Goats Stories, make children with increasing age tell more complex stories by means of a rise in story complexity than the narratives of Hickmann and Gülzow & Gagarina without that structure.
This paper focuses on morphological verb errors in elicited narratives of Russian-German primary school bilinguals. The data was collected from 37 children who were separated into four groups according to the age and language acquisition type (simultaneous and successive). The Multilingual Assessment Instrument for Narratives (MAIN) (Gagarina et al. 2012) was used for data collection. The narratives produced in mode telling after listening to a model story were analysed and morphological verb errors in Russian and German were classified. Therefore, the error classification of Gagarina (2008) for Russian monolingual children was expanded and for the classification of German errors an own classification was suggested. Errors in Russian typically produced by monolinguals and unique bilingual errors as well were documented. The results show that the language of the environment (German) increases with age. Older children make fewer errors than younger ones. Nevertheless, a strong heterogeneity between children within each group can be observed.
This study explores the relation between the development of narrative skills at the macrostructural level and the productive lexical abilities (verbs) of German-Russian children. The narratives are elicited using the Multilingual Assessment Instrument for Narratives (MAIN) and the lexical abilities are assessed using different tests. Twenty-one preschoolers (mean age: 3;9), forty-four 1st graders (mean age: 6;11) and twenty-two 3rd graders (mean age: 9;3) were included in the study. Correlation analyses were performed between verb lexicon and the following macrostructural components: Story Structure, Structural Complexity and Internal State Terms. The analysis also targets cross-language effects. In addition, the production of verbs within the elicited narratives was taken into account. Some positive correlations were found; however, no clear pattern across age groups and languages was observed. It is suggested that cognitive abilities might be a more decisive factor than lexical abilities and/or that the verbs assessed via the vocabulary tests are more specific than the ones required to achieve high scores for macrostructure.
This article investigates the influence of tense and aspect on the choice of verb forms in texts written by Russian-speaking learners of German. Through eight written narrations, each produced by advanced learners of German with L1-Russian and German native speakers, the use of verb forms and relevant linguistic means (perfect markers, temporal adverbs and temporal clauses) was compared and analysed.
The study shows that even very advanced Russian-speaking learners of German could not meet target language preferences in German. They tended to deploy a different temporal perspective than German native speakers (simple past instead of present tense) and they also showed an overuse of the perfect tense, especially when describing completed actions. These differences compared to the preferences of German native speakers can be explained as transfer effects from the L1 of Russian-speaking learners since – unlike in German – the grammatical aspect in Russian is obligatory and its perfective form offers an effective tool to express completeness.
"People are border-crossers who make daily transitions between two worlds – the world of work and the world of family" (Campbell Clark 2000: 748). Diese Feststellung von Campbell Clark hebt die Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie im Leben von Männern und Frauen hervor, die oft unbemerkt, aber unzählige Male im Alltag auftritt. Familie und Beruf sind die zentralen Lebensbereiche von Frauen und Männern in der heutigen europäischen Gesellschaft. Diese zwei Bereiche stehen in einer wechselseitigen, aber nicht gleichgewichtigen Beziehung. Im Folgenden wird diese Problematik detailliert aufgegriffen und mit zukunftsfähigen Handlungsempfehlungen verbunden. Wir beginnen mit einem kurzen historischen Überblick zu Familie und Beruf in Europa.
Populismus artikuliert vernachlässigte Unzufriedenheit durch die Herstellung einer antagonistischen Beziehung zwischen "der Elite" und "den Menschen" (Canovan 1984, 1999). Die populistische Politik verlässt sich dabei nicht nur auf das Versagen des bestehenden politischen Prozesses. Populisten liefern sowohl die Diagnose (die alten Eliten sind korrupt, ineffizient oder beides) als auch die Kur (Nativismus, technokratische Effizienz).
Der Ursprung des gegenwärtigen Populismus in Ostmitteleuropa ist tief in der kommunistischen Ära verwurzelt. Während des Kommunismus wurde der Populismus des "gewöhnlichen Menschen" benutzt, um das bürgerschaftliche Engagement zu demobilisieren und eine Politik der ethischen Verantwortlichkeit zu verhindern. Unsere Analyse (Bustikova, Guasti 2017, 2018) zeigt, dass diese Art von Populismus weiterhin als Methode zur Demobilisierung des bürgerschaftlichen Engagements und zur Verdrängung einer Politik der ethischen Rechenschaftspflicht verwendet wird. Die populistische Politik versucht, das politische Gemeinwesen nach ihrer technokratischen Vision neu zu gestalten.
Es geht ein Gespenst um in Europa: der Populismus. Je nach Kontext variieren seine Gestalt und gesellschaftliche Unterstützung, weshalb er eigentlich nur im Plural thematisiert werden sollte. Gleichwohl weisen die verschiedenen Populismen gemeinsame, konstitutive Merkmale auf. Eines dieser Wesensmerkmale, die ausgeprägte Elitenfeindlichkeit, steht im Zentrum dieses Kurzbeitrags. Dieser setzt sich zugleich mit den Paradoxien und gängigen Missverständnissen des Populismus auseinander.
Spätestens seit der PISA-Studie aus dem Jahre 2000 ist der im deutschen Bildungssystem bestehende hohe Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und Bildungsherkunft nicht nur für Akteure und Institutionen im Bildungssektor, sondern auch der breiten Öffentlichkeit als Gerechtigkeitsproblem deutlich geworden. ...