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Die Ressource "Wissen" rückte in den letzten Jahrzehnten als Quelle wissenschaftlicher Innovation immer stärker ins Zentrum des Interesses. Diese Fokussierung mündete in eine Selbstreflexion der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Disziplinen: Thematisiert werden vor allem die Art und Weise, wie Wissen gewonnen wird, sowie die damit zusammenhängende Frage nach der Konstruktion von Wissenschaftlichkeit, womit das Bewusstsein gleichzeitig auf die mehr und mehr sich auflösende Abgrenzung zwischen den Disziplinen beziehungsweise zwischen den drei hauptsächlichen Wissenschaftskulturen, von Natur-, Geistes- und Kultur- sowie Sozialwissenschaften gelenkt wird. Innerhalb und außerhalb der Universitäten bildeten und bilden sich nicht immer klar verortbare "trading zones" (Gallison 1997), in denen neue Formen und Techniken der Wissensproduktion und Wissensvermittlung geprüft, geübt und teilweise auch institutionalisiert werden. ...
Machen wir uns nichts vor. Auch wenn "Event" zum "PR-Wort der letzten Jahre" gekürt worden ist, wenn "Events auf die Besucher wie eine moderne Konsumdroge" wirken, wenn gar vom "Trend zum Event" gesprochen wird, von dem alle Bereiche der Gesellschaft längst so stark erfaßt sind, daß sich ihm nichts und niemand mehr entziehen kann – es bleibt dabei: Wann auch immer davon in Verbindung mit Kultur die Rede ist, da hat man es mit einem bösen Kampfbegriff zu tun. Mit "Eventisierung der Kultur" ist ihr steter Verfall gemeint. Und das Label "Eventkultur" gibt den Zustandsbegriff für eine Gesellschaft, die antrat, mit Kunst und Literatur die höchsten Höhen des Menschenmöglichen zu erreichen, und die nun ihr Bestes, Schönstes und Wahrstes bei einem Schaustellerwettbewerb auf dem Jahrmarkt verhökert. Event, das ist das "zur Sensation hoch inszenierte Nichtereignis, und die größte Kunst im Medienspiel ist das lauteste Krähen". Hier wird, so scheint es, "die Kunst zum bloßen Anlaß für den Konsum (...), zum Alibi", weil sie "in sonderbarer Perversion der alten Horazischen Ästhetik des 'utile cum dulci' und des 'prodesse et delectare', Zucker auf eine Sache streut, die sonst keinem mehr schmeckt." Und das passiert en masse: "Anschwellende Programmhefte, ausufernde Veranstaltungskalender, zunehmender Festivaltourismus, Boom der Multiplex-Kinos, Expo, Millenium Dome – was ist", so fragt sich da der kritische Betrachter mit Blick aufs Literarische, "was ist aus dem Erzählen geworden?" ...
Franz Grillparzer
(1992)
Bei Depressiven ist es, wie oben gezeigt, das private Selbst, das narzißtisch besetzt ist. Dies bedeutet aber nicht, daß sie sich darin geborgen fühlen. Vielmehr ist ihr Rückzug von der Welt mit Schuldgefühlen verbunden, die durch eine extreme Außenanpassung kompensiert werden. Grillparzer ist hierfür ein prägnantes Beispiel, wobei wir uns insbesondere auf das biographische Material von Scheit (1989) stützen, sowie auf Kürnberger (1872), Nadler (1948), Kleinschmidt (1967) und Frederiksen (1977). ...
Der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, rückt anläßlich einer Erläuterung des für ihn zentralen Begriffs der "implantierenden Situation" Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh ... in die Nähe der Haiku-Lyrik. Das von Schmitz nur beiläufig Konstellierte erweist sich bei näherem Hinsehen als aufschlußreich für das Verständnis der Naturlyrik aus Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt. Denn es ist in der Tat die Haiku-Tradition, an der wir unseren Blick für manche Eigenheiten der lyrischen Sprache Goethes in jener Werkphase schulen können – einer Werkphase, die ich als "vorkritisch" bezeichne, da sie noch nicht unter dem Einfluß der kritischen Philosophie Kants steht und daher noch frei ist vom didaktisierenden Zug transzendentaler Subjektivität. Der japanische Blick auf den "vorkritischen" Goethe ist nicht nur von philologischem Interesse. Er zeigt uns, sehr viel weiter reichend, die Möglichkeit eines Sprechens über Phänomene, bei dem es kein die Erfahrung begleitendes und in seine Gewalt bringendes "Ich denke" zu geben scheint. ...
Teekesselchen
(1988)
Wo hat der Bengel nur das Wort wieder aufgeschnappt? Wenn er schon seine Programmierübungen für den Deutschunterricht nicht machen will, dann soll er doch 'Beyond Dark Castle' spielen oder sich durch Datennetze hacken, wie jeder anständige Junge in seinem Alter. Aber Sohnemann muß natürlich wieder aus der Reihe tanzen! Gedichte lesen! Jetzt haben wir die Bescherung: "Papa, was sind denn eigentlich 'Wipfel'?" ...
Die Zahl der computerisierten Schriftsteller wächst rapide. Von den Vorzügen des Mac wissen besonders die zu berichten, die zuvor Erfahrungen an anderen Systemen gesammelt haben. Wie zum Beispiel Fernsehautor Wolfgang Menge. Wir besuchten den Konvertiten in dessen Sylter Sommerdomizil und fragten ihn nach seinem Verhältnis zu den neuen Techniken des Schreibens. Das Gespräch führte Peter Matussek, die Fotos machte Frank Stöckel.
Der Beitrag gibt ein Beispiel dafür, wie philologische Kompetenz für die Analyse von medienkulturellen Phänomenen fruchtbar gemacht werden kann. Ausgehend von Wolfgang Isers Leerstellentheorem wird nach der Funktionsweise ästhetischer Erinnerungsanlässe gefragt – zum einen in systematischer Hinsicht durch einen Vergleich von Schrift, Bild und Klang, zum anderen in historischer Hinsicht durch einen Vergleich analoger und digitaler Medien. Es ergibt sich, daß die ästhetischen Strategien, mit denen traditionellerweise Literatur, bildende Kunst und Musik Leerstellen eröffnen, auf Animationen beruhen, die durch ihre computertechnische Realisierung grundsätzlich nivelliert werden. Folglich bedarf es neuer Verfahren der Leerstellengenerierung, um unter den Bedingungen digitaler Medien die Erinnerung zu aktivieren.
Ein Plädoyer für das Stolpern, wie es der Titel dieses Beitrags ankündigt, ist prekär, da es die Gefahr des Stürzens in Kauf nimmt. Die schlimmeren Unfälle allerdings gehen oft auf das Fehlen von Grenzhindernissen zurück. Erinnert sei nur an den hinterlistigen Schwellenabbau, den der amerikanische Physiker Alan Sokal an der Demarkationslinie der two cultures betrieb – und damit die Herausgeber der bis dato hochangesehenen Zeitschrift Social Text tüchtig blamierte, die nicht bemerkten, daß der Artikel Transgressing the Boundaries voller Absurditäten steckte. Sokals offensive Beseitigung der Barrikaden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften paßte so gut ins postmoderne editorische Konzept, daß man gar nicht mehr darauf reflektierte, ob die Transgressionen im Einzelnen Sinn machten – etwa die dekonstruktivistische Überwindung der Schwerkraft oder die feministische Liberalisierung der mathematischen Axiomatik. Die transliminalen Verheißungen klangen zu verführerisch, als daß man über sie gestolpert – und damit der kompromittierenden Falle entgangen – wäre. ...
Daß es nicht unbedingt die bewegten Bilder sind, die uns bewegen, sondern daß uns oft gerade das bewegt, was sich nicht bewegt, ist eigentlich eine triviale Alltagsbeobachtung. Sie bedürfte keiner weiteren Erörterung, wenn sie nicht in ein medienhistorisches Umfeld fiele, das alles daransetzt, sie zu falsifizieren. So stoßen wir heute häufig auf Bewegungsbilder, die unsere unwillkürliche Aufmerksamkeit affizieren und deshalb als Ursache für innere Bewegungen genommen werden, obwohl es nur Reaktionsmechanismen sind, die sich in der Habituation rasch abschleifen (D 00). ...
"Herakleitos sagt, dass die Wachenden ein und dieselbe gemeinsame Welt (éna kai koinòn kosmon) haben, während von den Schlafenden ein jeder sich zu seiner eigenen (Welt; eis ídion apostréphesthai) abwende." (DK 22 B 89) Diese "eigene" Welt des Schlafenden heißt ídios kósmos, die Welt der Träume. "In der Nacht entzündet der Mensch ein Licht für sich selbst, sterbend, seine Sehkraft ist erloschen." (DK 22 B 26). – Heraklit (535 - ca. 475 v. u.Z.) trifft die Überzeugung der gesamten antiken Kultur, dass der Wachzustand eine Welt des Zugänglichen, des Lichterfüllten, die Welt also des Öffentlichen, des Gemeinsamen und des Logos darstelle: koinos kósmos. ...
Im Jahr 1837 schreibt Gustave Flaubert – er ist sechzehn Jahre alt – die Erzählung Quidquid volueris, eine nahezu perfekte Schauergeschichte im Stil der gothic novel, ein goyaesker Alp "schlafloser Nächte", worin der Erzähler eingangs die Teufel seiner Einbildungskraft, die "Kinder meines Hirns" anruft wie Musen der Inspiration. Virtuos setzt der adoleszente Autor alle Stilmittel des langsam sich aufbauenden Grauens ein, das sich am Ende in einer entsetzlichen Tat entlädt. ...
Im folgenden wird nicht ein Versuch zur Geschichte männlicher Masken unternommen, ebenso wenig wie eine religionswissenschaftliche oder ethnologische Analyse des Maskengebrauchs und seiner gender-Ordnung. Im Kern geht es vielmehr um den denkwürdigen Punkt, dass an der Nahtstelle zwischen Mythos und Aufklärung in der griechischen Antike eine Neukartierung des Männlichen und Weiblichen im Feld des Generativen vorgenommen wird. Die späten Nachfahren dieser männlichen Machtergreifung, um die es im zweiten Teil geht, entwickeln Figuren des Sexuellen, worin das Generative radikal ausgeschlossen und das Begehren zum Schauplatz eines nur noch in sich selbst kreisenden Maskenspiels wird – jenseits jeder Reproduktionslogik. Man könnte die These wagen: die 'Männer' besetzen die mythische Generativität, doch generieren sie nichts mehr außer sich selbst. Vielleicht ist die ungeheure Kreativität, die in der europäischen Moderne (heute besonders auf dem Feld der 'Reproduktion des Lebens') entfesselt wird, nichts als eine Maske, die diese innere Unfruchtbarkeit überdeckt. Nach einer Abklärung des Maskerade-Konzepts, wie es hier verwendet wird, werden in einem ersten Kapitel mythische Beispiele gezeigt, in welchen die mythische Produktivität des Weiblichen (die Magna Mater) dem symbolischen Regime von Herren-Göttern unterstellt wird. Diese Umcodierung wird die abendländische, nämlich männliche Auffassung von Sexualität und Reproduktion nachhaltig prägen. Sie hat ihren Preis. Er wird, im zweiten Teil, errechenbar an den legendären Figuren des männlichen Sex – Casanova, Don Juan, Sade, 'Walter' und Sacher-Masoch –, welche die "Masken des Begehrens" (Ariès / Béjin) in der Moderne bestimmt haben. Im Mittelpunkt steht dabei Sacher-Masoch, der das masochistische Begehren, das den scheinbaren Kontrapunkt zur männlichen Selbstermächtigung darstellt, aus einer Vielzahl mythischer, literarischer und bildkünstlerischer Figurationen des übermachtig Weiblichen und des demütigen, gar geopferten Männlichen synthetisiert.
Sie werden, meine Damen und Herren, diese Bilder "2001 – A Space Odyssey" von Stanley Kubrick erinnern. Dieser Film, 1968 gedreht, also noch vor der ersten bemannten Mondlandung und noch vor dem takeoff des Computerzeitalters – dieser Film ist nicht nur eine Inkunabel eines ganzen Filmgenres, sondern er hat unsere Bilder von Weltraum und Computer maßgeblich geprägt. Er vermochte dies auch deswegen, weil Kubrick hier technische Phantasien und religiöse Motive, psychodelische Zeitreisen und metaphysische Sinnsuche, Urgeschichte und Endgeschichte, Angst vor der Technik und Sehnsüchte nach einer Entgrenzung jenseits von Zeit und Raum in maßstabsetzende Bilder brachte, verbunden mit einem niemals zuvor derart ungeheuren Einsatz von Musik und einer so noch niemals zuvor gesehenen Herabsetzung des Mediums, das seit alters her als die Sphäre des Menschlichen überhaupt angesehen wurde, nämlich die Sprache. Von 141 Minuten Film sind nur 40 Minuten von Dialogen begleitet. Kubrick erweist den Film als dasjenige Medium, in welchem die visuellen Mythen unserer Zeit kreiert werden. ...
Aus den Elementen schuf die Göttin der Liebe, Aphrodite, unsere "unermüdlichen Augen", lehrt Empedokles. Und "das das Herz umströmende Blut ist dem Menschen die Denkkraft". Wie der Körper beschaffen ist, so wächst dem Menschen das Denken. Aristoteles berichtet, daß die alten Philosophen, ausdrücklich Empedokles, Denken und Wahrnehmen für dasselbe gehalten hätten. Aus Elementen sind wir gemischt wie die Dinge, und so nehmen wir die Dinge wahr im Maß, wie sie auf Verwandtes in uns treffen. Im Inneren des Auges ist Feuer, umgeben von Wasser, Erde, Luft. Aus dem Auge wird das Feuer als Sehstrahl auf die Dinge entsandt, und so entsteht das Sehen. Umgekehrt fließen von den Dingen feine Abdrücke ab: wenn sie auf die Poren der Sinnesorgane passen, so werden sie wahrgenommen; passen sie nicht, wird nichts wahrgenommen. So fließt zwischen Leib und Dingen nach der Passung der Poren ein ständiger Strom des Gleichen zum Gleichen. "Denn mit der Erde (in uns) sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streite." (Capelle, 236) Einem solchen Denken ist Personalität, Identität des Subjekts fremd. Zwischen Natur und Mensch besteht kein Bruch, sondern ein Strömen des Gleichen und Verwandten. Kein qualitativer Sprung zwischen Leib und Geist. "Denn wisse nur: alles hat Vernunft und Anteil am Denken" (Capelle, 239) - denn zwischen Göttern, Menschen und den "vernunftlosen" Tieren besteht eine "Gemeinschaft des Lebens und der gleichen Elemente", Verwandtschaft folglich durch jenen umfassend einzigen "Lebenshauch, der die ganze Welt durchdringe". ...
Wir alle kennen den Bestand der Szene: "ein schöner Augusttag des Jahres 1913", meteorologisch bestimmt; eine Stadt in der Physiognomie futuristischer und kubistischer Bilder; ein dynamisches Feld aus Geräuschen, Bewegungen, optischen Zeichen, Rhythmen, Verdichtungen, Bündelungen, Auflösungen, Serien und Sprüngen, Leerstellen und Häufungspunkten, Energieflüssen und Statiken; und darin plötzlich "eine quer schlagende Bewegung", der berühmte Unfall, eine Synkope in der diffusen Ordnung der Dinge, ein "Loch" ins Bodenlose oder ein aufflackernder Irrsinn; dann die Entsorgung des "verunfallten" Verkehrsteilnehmers durch die "Rettungsgesellschaft", die Schließung der Lücke, das Weiterfließen der augenblickslang unterbrochenen Energieströme. Und die Menschen? "Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre", ein Kraftfahrer "grau wie Packpapier", ein "Mann, der wie tot dalag", ein flanierendes Paar, dessen Identifizierung als Personen versucht und sogleich storniert wird, ein Paar, gesichtslos wie Figuren auf Bildern August Mackes, Skizzen aus sozialen und sprachlichen Stereotypen; selbst die "feinen Unterschiede" (Bourdieu) sind differentielle Effekte des Feldes, nicht der Inkommensurabilität von Personen. Es scheint, "daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe". Es scheint so. ...
Es gehört zur Dialektik der Aufklärung bereits im 18. Jahrhundert, daß [die] Rationalisierungen des Leibes eine Fülle von sowohl ästhetischen wie medizinischen Kritiken und Alternativen hervortrieb, von denen hier ein Strang näher charakterisiert werden soll, nämlich die Leibkonzepte, die auf vormoderne Semiotiken des Körpers zurückgehen, auf hermetische medizinische Traditionen zumal. Kann man die mechanistische Medizin und moralische Disziplin als Strategien der "Entsemiotisierung" verstehen, so zeigen sich am Ende des Jahrhunderts und dann in der Romantik Spuren einer "Resemiotisierung" des Leibes. In heutiger Perspektive interessiert sie darum, weil, wie Thure von Uexküll vermutet, wir an die Grenze des naturwissenschaftlichen Paradigmas der Medizin gestoßen sind und uns in der Phase der Vorbereitung eines neuen, nämlich semiotischen Paradigmas befinden.
Man wird die Bilder aus "2001 – A Space Odyssey" von Stanley Kubrick erinnern. Dieser Film, 1968 gedreht, also vor der ersten bemannten Mondlandung und vor dem takeoff des Computerzeitalters – dieser Film ist nicht nur eine Inkunabel eines ganzen Filmgenres, sondern er hat unsere Bilder von Weltraum und Computer maßgeblich geprägt. Er vermochte dies auch deswegen, weil Kubrick hier technische Phantasien und religiöse Motive, psychodelische Zeitreisen und metaphysische Sinnsuche, Urgeschichte und Endgeschichte, Angst vor der Technik und Sehnsüchte nach metaphysischer Entgrenzung jenseits von Zeit und Raum in maßstabsetzende Bilder brachte, verbunden mit einem niemals zuvor derart ungeheuren Einsatz von Musik und einer so noch niemals zuvor gesehenen Herabsetzung des Mediums, das seit alters her als die Sphäre des Menschlichen überhaupt angesehen wurde, nämlich die Sprache. Von 141 Minuten Film sind nur 40 Minuten von Dialogen begleitet. Kubrick erweist den Film als dasjenige Medium, in welchem die visuellen Mythen unserer Zeit kreiert werden. ...
In der sehr alten Deutungsgeschichte der Melancholie gibt es um 1475 eine dramatische Szene, von der Panofsky/Saxl in ihren bahnbrechenden Forschungen zur "Melencolia" von Albrecht Dürer berichten: der hermetische Neuplatoniker Marsilio Ficino klagt in einem Brief seinem Freund Giovanni Calvacanti, daß er nicht ein noch aus wisse und verzweifelt sei; dies ginge auf die mächtigen und düsteren Einflüsse des Saturns auf seinen Geist und sein Gefühl zurück. Saturn - das ist hier der maligne Stern, der fernste des Planetensystems, der Gott des Dunklen, Kalten und Schweren; rätselhafte, schwer entzifferbare Gottheit der Zeit; uralter Flurgott oder auch der gestürzte und kastrierte Uranide. Viele, auch widersprüchliche Traditionen fließen in der Semantik des Saturns zusammen. Innerhalb der Astralmedizin ist der Saturn der Regent der schwarzen Galle, der Milz, der kalten, trockenen Erde. Diese Komplexion aus Astrologie, Elementenlehre, Anatomie und Humoralpathologie bildet den Typus des melancholischen Temperaments. ...
Ein Blick auf die gegenwärtige Lage der literaturwissenschaftlichen Germanistik weckt den Eindruck, daß ihre Dauerkrise, deren sie sich seit 1966 erfreut, durch zwei völlig entgegengesetzte Therapien gelöst werden soll. Die eine Lösung besteht in einer radikalen Engführung der Literaturwissenschaft, die andere in deren rückhaltloser Erweiterung. Die Frage ist, ob man zugleich ein- und ausatmen kann. Die weitere Frage ist, ob es überhaupt wünschbar ist, die sog. Dauerkrise zu beenden. Wollen wir überhaupt eine Germanistik, die von einem homogenen Theorie-Paradigma zusammengehalten und damit in der Lage wäre, zwischen den zerstrittenen Positionen Konsens zu stiften? Ich denke, wir sollten es nicht wollen. Wenn es eine Lehre von 1945 und 1989 gibt, dann die, daß man schiasmatische Wissenschaftsentwicklungen nicht bedauern, sondern begrüßen sollte. Nicht Einheit, sondern Vielheit, nicht Identität, sondern Differenz, nicht Homogenität, sondern Heterogenität schaffen das Klima für eine kreative Wissenschaft. ...
Wasser, Wolken und Steine formieren das Landschaftserleben nicht nur der europäischen Kulturen. Zwar bestimmen einzelne Steine, Findlinge oder Basaltsäulen, nur gelegentlich das Bild der Landschaft. Doch immer sind es steinerne Formationen, welche der Landschaft Halt und Gestalt verleihen – als ragende Gebirgszüge, wellige Hügel, in die Ferne ziehende Täler, dunkle Schluchten und Gründe, strebende Gipfel oder auch als schroffe Felsküsten, die sich dem Meer entgegenstemmen, das aufschäumend sich an ihnen bricht. Das Steinerne ist, vom Typus der Hochgebirgs-Malerei abgesehen, zumeist verhüllt vom Mantel der Pflanzen, der Felder und Wiesen, der Wälder und Büsche. Leonardo nannte, noch ganz im Bann der leibmetaphorischen Deutung der Terra, die Felsen das Skelett der Erde, das vom Gewebe des Erd- und Pflanzenreichs bedeckt wird, doch diesem erst die morphologische Stabilität verleiht. Die Flüsse und Bäche, ober- wie unterirdisch dahinströmend, sind die Adern des Erdleibs, ein ewiger Kreislauf des Wassers. Und mächtig atmet in Ebbe und Flut die Lunge der Erde, die auch die Zirkulation der Ströme und Rinnsale antreibt. So werden für Leonardo Landschaften zu beredten Zeugnisse des lebendigen Organismus der Erde – und seiner Geschichte. Auf dieser Linie ist Landschaftsmalerei ist immer auch Bio-Graphie des Erdkörpers. Und vielleicht gilt von aller Landschaftskunst, daß sie sich mit der Geschichte der objektiven Natur verwebt – auch wenn sich gerade in ihr die subjektiven Stimmungen des Betrachters oder Malers verkörpern. ...
Raymond Radiguet starb 1923 an Typhus, gerade zwanzigjährig. Er hinterließ zwei furiose Romane, "Le Diable au corps" und "Le bal du Comte d'Orgel", und ein paar Dutzend Gedichte. Jean Cocteau, selbst jugendverliebt und älter werdend, schreibt später im Nachwort zum ersten Roman: "Radiguet verabscheute die Oscar Wildesche Vorstellung von der Jugend. Er wäre so gern alt geworden. Heute wäre er fünfzig. Doch mit seinen unerbittlichen Händen hat der Tod ihn in der Gestalt eines Zwanzigjährigen festgebannt, ein für allemal." ...
Humboldt hat von früh an in unmißverständlicher Klarheit gesagt, was er wollte. Nämlich die Mannigfaltigkeit, die unabsehbaren Ketten, die ungeheure Verstreutheit, die überwältigende Heterogenität der Naturerscheinungen zu einer qualitativen Totalität, zu einer Idee und zu einem Ganzen zusammenzufassen, das auch noch anschaulich sein soll. Dieses Konzept liegt schon den "Ansichten der Natur" von 1808 zugrunde, ist aber viel älter und geht auf die 90er Jahre zurück. Es hat sich auch im letzten Werk, dem "Kosmos", nicht geändert. Im Konzeptuellen herrscht bei Humboldt eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit. Dieser 'Wille zum Ganzen' ist das nunc stans in dem sonst so überaus bewegten Leben Humboldts, in dessen Verlauf er häufig genug die realen Ziele zu ändern gezwungen war, ohne doch seine Grund-Idee aus dem Auge zu verlieren. ...
Hegel hat endlos vielen Interpretationen von Tragödien, und so auch solchen der "Antigone" das Schema vorgegeben, wenn er den tragischen Konflikt als die Kollision zweier sittlicher Ansprüche bezeichnete, die beide in sich selbst gerechtfertigt sind. Für die "Antigone" hieß dies, daß die Sittlichkeit der Familie, durch Antigone repräsentiert wie erlitten, auf die Sittlichkeit des Staates stoße, die in Kreon resümiert ist. Und da beide Sittlichkeiten in sich notwendig seien, müsse die Kollision einen tragischen Terminus finden. Dies umso mehr, als zur tragischen Kollision gehöre, daß beide Positionen jeweils Momente der Gegenposition enthielten, die aber jeweils implizit und unausgedrückt blieben, so daß weder Antigone noch Kreon die Berechtigung der jeweils anderen Auffassung auch nur ansatzweise teilen könne. Unversöhnlich prallen beide Positionen aufeinander, weil die Protagonisten innere Ambivalenzen nicht zuließen. ...
Der Politologe Rudoph J. Rummel hat 1994 und 1997 in zwei Bänden eine breit angelegte Untersuchung von staatlich verantworteten Massenmorden im 20. Jahrhundert vorgelegt: Death by Government und Statistics of Democide. Danach werden an jedem der 36 500 Tage dieses Jahrhunderts, nach vorsichtigen Berechnungen, eta 4650 Menschen pro Tag gewaltsam zu Tode gebracht. Bis zum erfaßten Jahr 1987 sind dies 161.782.000 Terrortote, nach anderen Berechnungen 341.076.000 Tote, also etwa 9.400 am Tag. Nicht eingerechnet sind ungezählte Opfer, die Gewalthandlungen überlebt haben, doch verletzt, verstümmelt, vergewaltigt, ausgeraubt, dauerhaft traumatisiert, verfolgt, demarkiert, verelendet oder vertrieben wurden. In der Untersuchung Rummels geht es ausdrücklich nicht um quasi-legale Kriegstote, nicht um außerstaatliche Gewalt, nicht um Einzelfälle des staatlichen Terrors, sondern allein um die massenhafte Ermordung von wehrlosen Menschen in staatlicher Verantwortung. ...
Deutschland 1932: die Erfahrungen des Amerikanismus und des Fordismus waren gerade verarbeitet; man hatte die neuen Geschwindigkeiten und die Vermassung der Millionenstädte ebenso studiert wie das Industrieproletariat und die frischen Angestelltenschichten; der Funktionalismus hatte in allen Bereichen der Moderne, auch im Design und in der Architektur, seinen Siegesszug angetreten; man hatte an der Metropole Berlin erstmals auch die Wahrnehmungs-Modalitäten von Big Cities ästhetisch durchbuchstabiert; man hatte indes auch mit dem schwarzen Freitag die Konsequenzen globalisierter Wirtschafts- und Börsenverflechtungen erlitten – in diesem Jahr 1932 also bildet der österreichische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" die "soziale Zwangsvorstellung" einer "überamerikanischen Stadt", "wo alles mit der Stopuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwerkketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allegemeinen Rhythmus mit einander ein paar Worte. ...
Erotische Anatomie : Fragmentierung des Körpers als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock
(2001)
1536 erscheinen die danach vielfach neuaufgelegten und erweiterten "Blasons anatomiques du corps féminin", eine Sammlung von Preisgedichten jeweils auf einzelne "Körperteile". Die Blasons sind zunächst im Anhang zur "Hécatomphile" des LéonBattista Alberti versteckt, bevor sie 1543 auch seperat gedruckt werden. Der Dichterfürst Clément Marot (1496-1541) hatte mit dem Gedicht "Le beau tétin" (Das schöne Brüstchen) das Modell vorgegeben und seine Poetenkollegen brieflich eingeladen, über schöne, sprich: reizende Teile zu schreiben – weibliche, versteht sich. Wir sind mitten im Thema. ...
Unter den Formeln, die das Wesen des Menschen pointieren sollen – zoon legon echon, animal rationale usw. – gibt es die etwas humoreske Gleichung: homo est animal quaerens cur, der Mensch ist das Tier, das nach dem Warum? fragt. Wir werden noch sehen: wenn der Mensch sich vom Tier abzuheben sucht, wird er gefährlich. Die Gefährlichkeit des Fragens wird in den Wissenschaften weitgehend geleugnet. ...
Wer nach Paris kommt, sollte nicht versäumen, die Stiegen auf das Dach der Kathedrale Notre-Dame zu klettern und dort die steinernen Monstren, Fabeltiere und Dämonen zu besichtigen, durchaus Meisterwerke gotischer Steinmetz-Kunst. Noch immer kann man die Blicke imitieren, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Künstler Charles Meryon (1821-1868) zu seinen Radierungen inspirierte: mit ihnen versetzte er die "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (Walter Benjamin) unter die Zeichen eines fremdartigen und unheimlichen Tierkreises, der nicht die Ordnung des Himmels, sondern das nächtliche Gewimmel einer dämonischen Gegenwelt wiedergab. Seltsam genug ragten seit Jahrhunderten die Lamien und Empusen, die Keren und Chimären, die Teufelsfratzen und Basilisken, Drachenköpfe und Kynokephalen über das Häusermeer der Metropole, die sich gerade anschickte, zum Labor der urbanindustriellen Moderne zu werden. Die steinernen Monstren, die oft auch die Westportale besetzt hielten, weil von dort der Angriff der Dämonen zu erwarten war, dienten im Mittelalter als Wächterfiguren, welche den heiligen Raum des Kirchenbaus vor dem Eindringen der satanischen Rotten zu behüten hatten. ...
Die vier Elemente im Zusammenhang der Anthropologie zu behandeln, ist heute keineswegs selbstverständlich. Die naturphilosophische Lehre von den Elementen fand ihre erste Ausprägung bei Empedokles. Ihre Ausarbeitung bei Platon und Aristoteles war für die Philosophie der Natur bis etwa 1800 paradigmatisch. Mit Antoine Laurent Lavoisier, Joseph Priestley und Sadi Carnot, denen der Nachweis der chemischen Zusammengesetztheit von Wasser, Luft und Feuer experimentell gelang und die damit den Grund für das periodische System der chemischen Elemente lieferten (schon zu Lavoisiers Lebzeiten zählte man über dreißig), war die Elementenlehre als Theorie der Natur wenigstens wissenschaftlich an ihr Ende gekommen. In diesen 2300 Jahren, in denen die vier Elemente die Pfeiler einer jeden Naturphilosophie bildete, hat es eine Reihe wesentlicher Korrespondenzen zwischen Elementenlehre und Anthropologie gegeben. Am wichtigsten ist die überragende Bedeutung, welche die Elemente in der hippokratisch-galenischen Medizin einnahmen, die ihrerseits bis ins 16., wenn nicht bis ins 18. Jahrhundert den Rahmen aller Krankheitslehren abgab. Allerdings kommt die Anthropologie selbst, von einigen Vorläufern abgesehen, erst im 18. Jahrhundert auf den Weg, in einer Zeit also, wo die Elementenlehre durch die moderne Chemie und die antike Humoralpathologie durch die anatomische und neurophysiologische Medizin abgelöst wurde. Auf die junge Anthropologie hat die Elementenlehre also keinen Einfluß mehr ausgeübt. ...
Wie Schrift und Bild im Verhältnis zur Imaginatio stehen, will ich untersuchen. Dabei kommt ein weiteres Verhältnis ins Spiel, nämlich das zum Körper. "Bilder denken" im Sinne von imagines agentes heißt nicht, bloße Vorstellungen von etwas ohne Gegenwart eines Gegenstandes im Kopf haben, wie Kant die Einbildungskraft im Unterschied zur Anschauung definiert. Agent, also aktiv, ergreifend, handlungsauslösend zu sein –: dies heißt mehr, nämlich daß Bilder inkorporiert werden und körperliche Erregungen, Veränderungen oder Handlungen auslösen. Das ist die Performanz der Bilder. Diese körperliche Spur der Bilder, ja, das Einspuren des Körpers durch Bilder ist die energischste Form, in der Erinnerungen inskribiert werden, und die energischste Form, in der Bilder zur Resonanz von Körpern und Körper zur Resonanz von Bildern werden können.
"Machet euch die Erde untertan! " (Gen I, 28) - damit wird keineswegs die heutige Form naturbeherrschender Technik durch Gott selbst schon vorab legitimiert. Die Agrarkultur, die dem Jahwisten bei diesem Satz vorschwebte, zielt nicht auf ein dominium terrae, gar auf despotische Herrschaft des Menschen über Natur. Auch bei den frühen christlichen Exegeten findet sich keine Stütze für einen christlichen Auftrag zur Naturbeherrschung im technischen Sinn. Die privilegierte Stellung des Menschen ruht weniger auf einem NaturAuftrag als auf seiner Einzeichnung in den heilsgeschichtlichen Plan Gottes. Auch der stoische Gedanke einer teleologisch auf das Wohl des Menschen hin eingerichteten Welt enthält keinen Schub zu einer technischen Entwicklung. Im Gegenteil: die Natur, wie sie ist, ist vollständig und bedarf nicht der technischen Umarbeitung zu ihrer Vervollkommnung. Bei Aristoteles wird die Mechanik gegenüber der Physik, die durchaus ein kontemplatives Verhältnis zur Natur beschreibt, deutlich abgewertet. Natürlich: man hatte Sklaven oder niedrige Handwerker, die die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf einem gleichbleibenden Niveau der instrumentellen Technik erledigten. Für die antike Welt, deren theoretische und praktische Kenntnisse eine erste technische Revolution durchaus ermöglicht hätten, bleibt deshalb charakteristisch, was Hanns Sachs die "Verspätung des Maschinenzeitalters" genannt hat. ...
Mit Erstaunen stellen LinguistInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz immer wieder fest, dass sich in der "kleinen" Schweiz der geschlechtergerechte Sprachgebrauch in Öffentlichkeit und Alltag weit stärker durchgesetzt hat als in den anderen deutschsprachigen Ländern. Diese Einschätzung gilt es hier zu überprüfen und, falls sie zutrifft, zu belegen. Ausserdem werden - als erster Schritt fur weitere Untersuchungen - Thesen formuliert, die Erklärungen liefern, worauf diese Entwicklung zurückgeführt werden kann. Mit diesem Artikel geben wir anband von ausgewählten, konkreten Beispielen einen Einblick in die Situation, wie sie sich zur Zeit in der Schweiz präsentiert. Wir konzentrieren uns - unter sprachsoziologischer Perspektive - auf eine erste Bestandesaufnahme mit dem Blick auf die Diskussion in den Medien, die Institutionalisierung und die Einstellungen, die die spezifische sprachliche Situation in der Deutschschweiz prägen. Einen Rahmen fur unsere Untersuchung bilden die Überlegungen von Schräpel (SCHRÄPEL 1986), die die Auseinandersetzung um nichtsexistische Sprache als ein besonderes Sprachwandelphänomen untersucht. Sprachwandel im Vollzug ist einerseits einfacher zu erfassen als einer, der weiter zurückliegt, andererseits erschwert die Fülle des greifbaren Materials auch den Durchblick und das klare Erkennen von Tendenzen. Aus diesem Grund werten wir unser Datenmaterial nicht quantitativ aus, sondern konzentrieren uns darauf, für verschiedene Aspekte typische Beispiele zu geben und so den Stand der öffentlichen Diskussion und die Breite der vertretenen Meinungen darzustellen. Es wäre verlockend, das hier vorliegende Material auch allgemeinerer Form unter der Thematik "Sprachkritik" oder "Einstellungen" zu analysieren. Dies ist jedoch nicht im Zentrum unserer Fragestellung, weshalb wir bei einigen Beispielen auf entsprechende Untersuchungen (z.B. BLAUBERGS 1980, SCHOENTHAL 1989) verweisen.
Während der Brief in Zeiten von persönlichen Krisen und Konflikten mancherlei Unannehmlichkeiten aus dem Kommunikationsweg räumt, stellt der Kontext Krieg für das Briefeschreiben in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Der Privatbrief (Epistula familiaris) ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa – das heisst auch zur Zeit des 2. Weltkriegs – das wichtigste Medium informeller Distanzkommunikation, welche im Allgemeinen durch Inoffizialität und Spontaneität, durch Individualität und Vertraulichkeit gekennzeichnet ist. In der Regel ist der Privatbrief im juristischen Sinne nicht verfügbar. Ein Kennzeichen ist somit auch seine Nichtreproduzierbarkeit. Neben der thematischen Offenheit macht sich meist eine stärkere stilistische Freiheit bemerkbar. Zeichen von Flüchtigkeit oder Sorgfalt sind ausser den Formalia des Datums, der Anrede, des Textkörpers und der Unterschrift, über das geschriebene Wort hinaus nonverbale Informationen wie die Lesbarkeit der Schrift, die Wahl des Papiers, Schreibwerkzeug sowie die Länge eines Briefes (vgl. Ermert 1979, Nickisch 1991, Beyer/ Täubrich 1996, Zott 2003). Der Privatbrief wird zwar im graphischen Medium der Schrift realisiert, steht aber stilistisch der konzeptionellen "Mündlichkeit" näher. (Koch/ Oesterreicher 1994, 587) Der private Briefwechsel wird spontan aufgenommen und kann in der Regel ohne Zwang abgebrochen werden (vgl. Zott 2003). ...
In aller Welt treffen Menschen mit den verschiedensten und fremdesten Namen aufeinander – fremde Namen aber migrieren mitunter auch ohne Menschen: denn man trägt in Zeiten der postkolonialen und globalisierten LifeStyle-Weltgemeinschaft nicht nur Issey Miyake, sondern auch japanische Vornamen. In Diskussionsforen des Internets schwärmen Männer und Frauen von der Schönheit nordamerikanisch-indianischer, hawaiianischer, keltischer und orientalischer Namen. ...
Liebesbriefe sind im 20. Jahrhundert vieles: Brautbriefe oder Zettelchen, Berichte aus dem Alltag von Schülern, aber auch Soldatenbriefe, E-Mail-Korrespondenzen im Internet, Flirtbotschaften als Mail oder SMS. Sprachgeschichte als eine Geschichte des Kommunizierens, eine Geschichte der Texte beschreibt Veränderung oder Erneuerung. Sogar das vermeintlich vertraute 20. Jahrhundert, meist wahrgenommen als das Jahrhundert der Gegenwartssprache, zeigt sich in der historischen Perspektive und mit Blick auf die Texte in einem neuen Licht und in einer Vielfalt, die über das Bekannte und Vertraute hinausgeht. ...
Pfeilzeichen sind im Alltag des postmodernen Menschen mindestens ebenso präsent, wie es die Pfeile im Leben unserer jagenden Vorfahren gewesen sein dürften. Sie übernehmen wichtige Funktionen bei der Orientierung im Raum, bei der Bedienung von Geräten und bei der Tradierung von Wissen. Pfeilzeichen finden sich draußen wie drinnen, in gedruckten wie in digitalen Medien, sie sind Bestandteile von Bildern, Texten und mathematischen Formeln und vermitteln in vielfältiger Weise zwischen Text, Bild und Zahl. Im Laufe der Zeit hat sich das Pfeilzeichen zu einer hochflexiblen Zeichenfamilie mit einem breiten Spektrum an Formen, Bedeutungen und Funktionen entwickelt. Diese "semiotische Karriere" des Pfeilzeichens möchten wir im folgenden Abschnitt an ausgewählten Beispielen aus Kunst, Literatur und Alltag nachzeichnen, um uns anschließend der erneuten Ausdifferenzierung des semiotischen Potenzials in den neuen Medien zuzuwenden. Die Pfeilzeichen dienen uns dabei als Beispiel, um drei Thesen über Prozesse semiotischen Wandels zu belegen: 1. Neue Zeichenfunktionen und -bedeutungen bilden sich stets auf der Basis bereits vorhandener Funktionen und Bedeutungen heraus. Dabei werden alte Bedeutungen in den seltensten Fällen ersetzt; vielmehr handelt es sich um Prozesse semiotischer Ausdifferenzierung, bei der "ältere" Funktionen und Bedeutungen mit verändertem Stellenwert erhalten bleiben. 2. Die Ausdifferenzierung erhöht die potenzielle Ambiguität von Zeichen und Zeichenkomplexen, sodass deren Interpretation den Zeichenbenutzern immer mehr abverlangt. Gerade am Beispiel der Pfeilzeichen lässt sich sehr gut zeigen, dass deren Funktion und Bedeutung in hohem Maße kontext- und mediengebunden ist und in neuen Medien oft neu erlernt werden muss. 3. Grundlegend für die semiotische Ausdifferenzierung des Pfeilzeichens ist der Stellenwert des Pfeils in einem komplexen Handlungsrahmen, auf den wir mit dem Ausdruck "Pfeil-Szenario" Bezug nehmen. Darin dient der Pfeil als Geschoss einer Waffe, z. B. eines Pfeil-Bogens, seltener auch einer Armbrust oder eines Blasrohrs. Der Pfeil ist ein Element der gesamten Waffe, die sich aus Pfeilspitze, Schaft, Federn (und Ritze) zusammensetzt.
Steht ein neues Medium zur Verfügung, kommt es bei denjenigen, die einen Zugang zu diesem Medium haben oder finden, zu einer Umverteilung ihrer eigenen privaten und geschäftlichen Kommunikationen; das neue Medium wird im Rahmen der sich damit bietenden Möglichkeiten – wenn die soziokulturellen Kontexte dies unterstützen – auch genutzt, so dass es zu einer Ausdifferenzierung von Kommunikationsformen und bei längerem Gebrauch zu einer Änderung der Kommunikationsgewohnheiten führen kann. Ein neues Medium verändert in diesem Fall die alten Wertigkeiten der Medien, es entsteht eine Umverteilung der Funktionen und der Mediennutzung. (Vgl. Krotz 1998 und Krotz in diesem Band) Damit ist in der Regel ein gewisser Sprachwandel, sicher aber ein Sprachgebrauchswandel und nicht zuletzt ein Wandel der Spracheinstellungen zu erwarten, wie dies für die E-Mail-Kommunikation der Fall war und ist. Gerade für den Medienwechsel der Textsorte Liebesbrief und die damit etablierte Intermedialität mag gelten, was generell bei einem Medienwechsel beobachtet wird: der Medienwechsel wird von zwei fundamentalen leitenden Prinzipien geprägt, das konservative stilistische Trägheitsprinzip (Bausinger 1972, 81) auf der einen Seite, die medienspezifische Innovation auf der anderen Seite. So lautet die Frage: welche Aspekte des Alten lassen sich in das neue Mediumintegrieren und welche neuen Formen, Funktionen und Textkonstellationen sind zu beobachten? Welche Aspekte des Liebesbriefs werden im Medienwechsel verändert? Ob sich dabei eine weitere bereits für das 20. Jahrhundert konstatierte Tendenz hin zu einer Verstärkung der Mündlichkeit in schriftlichen Texten und ob sich dabei eine weitere Ausdifferenzierung von Textsorten in diesem Spannungsfeld zeigt, soll hier für den Liebesbrief als ein Beispiel einer zwar stark verbreiteten, jedoch noch wenig untersuchten Textsorte geklärt werden. (Vgl. von Polenz 1999, 37ff.) Dazu wird in einem ersten Schritt (Abschnitt 2) der Frage nach der Bestimmung des Liebesbriefs nachgegangen; in Abschnitt 3 wird zu diesem Zweck die dem Liebesbrief eigene Schriftlichkeit beschrieben und in Abschnitt 4 der Schriftlichkeit der E-Mail gegenübergestellt. In Abschnitt 5 und 6 werden zwei neue schriftliche Kommunikationsformen vorgestellt, die als Metamorphosen des Liebesbriefs im Internet entstanden sind.
Liebesbriefe von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen : eine Textsorte im lebenszeitlichen Wandel
(2003)
Das Alter als soziolinguistische und – mit Bezug auf die Historizität des sozialen Alltags – als sozialhistorische Grösse ist in seiner Wirkung auf die Gestaltung des Liebesbriefs wenig offensichtlich. Unbestritten dürfte aber wohl sein, dass nicht alterslose Menschen einander Liebesbriefe schreiben. Und – Alter prägt, wie dies die hier vorliegende empirische Analyse zeigen wird, die Textsorte Liebesbrief vielleicht stärker als gemeinhin angenommen. Bereits die Briefstellerliteratur der Jahrhundertwende zeigt deutlich eine Altersspezifik der Sprache des Liebesbriefs. ...
Während das Begehren des Mannes eine Sprache findet, gibt es lange Zeit wenig Raum für den Ausdruck des Begehrens der Frau. Der Körper des Mannes spielt in diesem Fragment des Liebesdiskurses, dem Liebesbrief, anscheinend eine andere Rolle als der Körper der Frau. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts lösen sich die Grenzen auf.
Sprache nimmt eine zentrale Funktion ein bei der Bildung von Identität. Sprachtheoretisch fundierte Handlungstheorien sind ein Hinweis darauf. Eine Auswahl linguistisch relevanter Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts wird auf die Frage nach der sprachlichen Identitätsbildung hin untersucht. Dabei etablieren sich neben Sprechhandlungen, Perspektiven und Empathie auch Name, Stimme, Schrift und Körper als zentrale Momente der Identitätsbildung. Gleichzeitig etabliert sich als Kategorie der Identität auch Gender, im sprachlichen Kontext als Genderkategorien und Genderpraxis. Sprachlich und hier im Speziellen schriftsprachliche Genderpraxis wird anhand einzelner herausragender Phänomene für den Liebesbrief im 20. Jahrhundert beobachtet und dargestellt: die Genderpraxis des Verfassertums und seine stilistischen Ausprägungen, die Differenz in Bezug auf Sprachhandlungen in einzelnen Texten, das ausgewählte Auftreten-Lassen des Körpers und die Verwendung von Kosenamen.
Der Liebesbrief des 20. Jahrhunderts ist Ausdruck einer konkreten lebensweltlichen und historisch zu verortenden Praxis der Liebeskommunikation. Liebesbriefe sind Brautbriefe, Liebesbekenntnisse, Berichte aus dem Alltag, Soldatenbriefe, Vereinbarungen von Treffen, E-Mail-Korrespondenzen, Flirtbriefe und Zettelchen – es gibt eine reiche Palette an Funktionen und Typen. Im Hinblick auf eine Geschichte des Liebesbriefs im 20. Jahrhunderts zeigte sich, dass im Liebesbrief neben der Liebeserklärung auch „Beziehungsarbeit“ und besonders aber die Konstruktion von Intimität eine zentrale Rolle spielt. Die Kritik an der Sprache der Liebe und des Liebesbriefs (des 19. Jahrhunderts) kann bereits in den 1920er Jahren beobachtet werden. Zu einem Codewechsel kommt es in Briefen der 1960er Jahre. Die Schriftlichkeit des Liebesbriefs entfernt sich allmählich von einer ausschließlichen Schreibschriftlichkeit. Der Liebesbrief wird mehr und mehr zu einem Sprache-Bild-Text. Die neuen Medien der Liebesschriftlichkeit zeigen eine Mediatisierung auch im Bereich des Liebesdiskurses: neben neuen Liebesbrieftypen, wie dem Flirtbrief, bilden sich neue Liebesbeziehungstypen heraus. Darüber hinaus fungieren die neuen Medien immer schon selbstreflexiv als Metakommunikatoren der Modernität.
Intimität und Geschlecht : zur Syntax und Pragmatik der Anrede im Liebesbrief des 20. Jahrhunderts
(2000)
Die Trennung der Lebenswelt in Privatsphäre und Öffentlichkeit käme der Verortung von Intimität entgegen. Es scheint aber, als ob Intimität nicht einem klar abgegrenzten Bereich zugeordnet werden kann, sondern nunmehr als relationale Kategorie zu fassen ist. Gerade der historische Vergleich (Vgl. CORBIN 1992) erlaubt weder einheitlich räumliche oder körperliche noch ästhetische Kriterien zur Abgrenzung von Intimität. ...