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Stifter-Gänge
(2007)
Ist 'das Ding' Stifters liebstes Substantiv, so darf 'gehen' als sein bevorzugtes Verb gelten. In der Erzählung 'Der Waldgänger' sieht sich etwa der an einem lebensweltlichen und geographischen "Scheidepunkte" innehaltende Wanderer von einer Landschaft umgeben, in der die Dinge buchstäblich ihren Gang gehen:
'Ganz oben, wo das Thal mit noch geringer Tiefe anfängt, begann auch ein winziges Wasserfädlein, neben dem Wanderer abwärts zu gehen. Es ging in dem Rinnsale neben dem Wege unhörbar und nur glizzernd vorwärts, bis es durch die Menge des durch die Höhen sickernden Wassers gestärkt vor ihm plaudernd und rauschend einher hüpfte, als wolle es ihm den Weg durch die Thalmündung hinaus zeigen [...]. Sie gingen an manchem Waldabhange, an mancher schattigen Stelle vorbei [...], sie gingen an manchen zerstreuten Häuschen, an mancher Mühle, an mancher auf einem tiefgelegenen Wiesenflecken weidenden Kuh vorüber, bis endlich nach einigen Stunden Wanderns [...] die hingebreitete große Ebene begann. Der Bach ging breit und wallend links gegen die Felder und Bäume [...]. (WG, 98f)'
Dem Gang der Dinge untersteht der Lauf der Welt. Diese Identität von Naturvorgängen und Lebensläufen immer neu, allen Irrwegen und Katastrophen, allen Sprüngen und Brüchen zum Trotz, unter Beweis stellen zu wollen, tritt Stifters Autorschaft an. Trauma und Trost seines Universums liegen beschlossen in dem fast stereotyp wiederkehrenden Satz: "Und so ging es immer fort."
Dem Sternbild in Rilkes Sonetten an Orpheus soll im Folgenden sich über die Formel der "Rettung der Phänomene" genähert werden. Das Motiv der Sterne sowie des Weltraums findet sich an zentralen Stellen innerhalb des Zyklus. Der Anordnung der Sterne zur Konstellation kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In Rückbezug auf die antike Direktive der Rettung der Phänomene lassen sich so das erkenntniskritische Potenzial von Konstellationen sowie deren geschichtliche und poetologische Relevanz innerhalb der Sonette aufzeigen. Die Theorie Walter Benjamins wird hierfür die entscheidenden Termini bieten.
Steinschutt- und Geröllgesellschaften besiedeln mehr oder weniger bewegte Halden aus Fein-, Grob- oder Blockschutt. Nur Pflanzen, die über genügend Reservestoffe verfügen, können nach ihrer Keimung aus den tieferen, feinerdereicheren Schichten der Halden bis zu den oberen Stein-Luft-Schichten durchstoßen. Zahlreiche Steinschutt- und Geröllpflanzen haben sich durch die Fähigkeit zur Internodienstreckung unter Lichtmangel diesen spezifischen Bodenverhältnissen angepaßt. Ein ausgedehntes und tiefreichendes Wurzelsystem dient den Haldenbewohnern sowohl zur Verankerung auf den bewegten Standorten als auch zur ausreichenden Wasserversorgung. Mehrere Arten zeichnen sich darüberhinaus durch eine hohe Regenerationsfähigkeit nach Verletzungen aus (vergleiche Jenny-Lips 1930: 138f., Wilmanns 1978: 125).
Stefan Zweig entwickelt in "Castellio gegen Calvin" (1936) die These, dass Machtformen, die Lebensprozesse mit Zwang regulieren und elementare Bedürfnisse dauerhaft unterdrücken, Widerstände hervorrufen, die letztlich die Emanzipation und Entfaltung des Unterdrückten forcieren. Am Beispiel des Liberalismus ursprünglich autoritär geprägter calvinistischer Gesellschaften veranschaulicht der 1934 nach London emigrierte Autor die Dialektik von Unterdrückung und deren Überwindung. Er thematisiert ein Verhältnis von Leben und Politik, das Michel Foucault mit dem Begriff der "Bio-Politik" bezeichnet. Dieser Begriff, der vor allem in jüngerer Vergangenheit vermehrt Aufmerksamkeit erfährt, beschreibt eine spezielle Form politischer Herrschaft, die sich durch "verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und Kontrolle der Bevölkerungen" kennzeichnet. Die Anwendung dieser 'biopolitischen' Disziplinierungstechniken bringt nach Foucault einen speziellen Machttyp, die "Bio-Macht", hervor, die sich zu einem Prinzip aller modernen Staaten entwickelt und somit nicht nur auf Extremfälle zu beschränken ist. [...] In diesem Beitrag soll untersucht werden, inwiefern Stefan Zweig in "Castellio gegen Calvin" anhand der Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats biopolitische Herrschaft thematisiert. Ausgehend von einigen Überlegungen zu dessen Komposition und der Schwierigkeit einer eindeutigen gattungstheoretischen Zuordnung wird Zweigs Darstellung von Calvins Herrschaft hinsichtlich der politischen Unterwerfung und Kontrolle des Lebens analysiert. Die Untersuchung schließt mit Blick auf den parabolischen Charakter des Textes, der eine Erklärung dafür bietet, warum Zweigs Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats aus dem 16. Jahrhundert Charakteristika eines Machttyps aufweist, der sich nach Foucault erst Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt.
Dieser Beitrag befasst sich mit Zeitwahrnehmungen und Zukunftsvorstellungen, die in Romane der 1920er Jahre in Paris und New York transportiert werden. Dabei dienen Paris und New York als zwei paradigmatische Städte der Moderne, in denen Diskurse zur Modernität und Stadtentwicklung literarisch aufgearbeitet werden. Die Textanalyse konzentriert sich hauptsächlich auf drei Aspekte der Stadtdarstellung: Illusionen der Ewigkeit und des Stillstandes, Diskurse zur mechanischen (Selbst-)Zerstörung und Phantasmagorien des Untergangs. Der Vergleich zwischen Paris und New York soll dazu beitragen, kulturell bedingte Unterschiede sowie epochenspezifische Gemeinsamkeiten in den Zukunftsvisionen der jeweiligen Stadt aufzudecken.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass bereits das frühe Manuskript der "Berliner Chronik" eine Bearbeitung der Gattungen 'Stadtbild' und 'Autobiographie' darstellt und - das ist sein Charakteristikum - diese Bearbeitung auch in Szene setzt. Des weiteren soll nachgezeichnet werden, dass die "Chronik" auf äußerst komplexe Weise autobiographische und topographische Schreibweisen miteinander verknüpft und dabei - so meine These - zu dem maßgeblichen Text wird, in dem Benjamin die Kategorie des Raumes für sein Denken entfaltet. Anders gesagt: Im Schreiben der "Berliner Chronik" richtet der Kulturhistoriker Benjamin sein Denken räumlich aus.
Die Mundart, die in der Stadt Bern gesprochen wird, ist eine ganz besondere, und viele Berner sind sich dessen auch schon seit langem bewusst. In der Stadt Bern wird nämlich nicht nur Berndeutsch gesprochen, sondern es gibt einige unterschiedliche Berner Mundarten: Patrizierberndeutsch, Burgerberndeutsch oder Stadtberndeutsch, Mattenberndeutsch sowie das Mattenenglische. Mit dieser Aufzählung, die Bernern keineswegs fremd ist, wird die Differenzierung unterschiedlicher sozialer Varietäten ausgedrückt. Stadtberndeutsch zeigt also schon lange verschiedene Sprachschichten, wie man sie in dieser Ausprägung in der Schweiz nur in wenigen Städten findet. Zu diesen genuinen Stadtberner Varianten kommt noch das Berndeutsche der Zuzüger hinzu, die sich zum Teil sprachlich assimiliert haben, die zum Teil einzelne Elemente und Eigenarten ihrer ursprünglichen Mundarten beibehalten oder sogar die Mundart ihrer früheren Heimat bewahrt haben.
Im Anschluss an Foucault könnte man sagen, dass die Funktion 'Herausgeber' darin besteht, erster Leser und zweiter Autor eines Texts zu sein, dadurch Kohärenz zu stiften und dem Text einen Rahmen zu geben. Dies geschieht durch eine Reihe editorialer Tätigkeiten: erstens das sammelnde Zusammenlesen von Manuskripten, zweitens das arrangierende Zusammenstellen der Textteile (ein Vorgang, den man auch als Zusammenschreiben bezeichnen könnte); drittens das kommentierende Dazuschreiben, das sich auf den Text als ein Gewebe von Spuren bezieht. Mit dieser kommentierenden Bezugnahme auf den Text findet eine diskursive Rahmung statt, die sich häufig als Paratext manifestiert: als Fußnote, als Überschrift, als Marginalie, als Inhaltsverzeichnis oder als Index der erwähnten Namen und behandelten Themen. Dergestalt etabliert das kommentierende Dazuschreiben des Herausgebers – und zwar gleichgültig, ob es sich um einen fiktionalen oder einen faktualen Herausgeber handelt – ein zweites Netz editorialer Indices, die vom Rande her wie mit Zeigefingern auf den Text verweisen.
Sybille Krämer unterscheidet Formen der Zeugenschaft im Spannungsfeld prozessualer, diskursiver und existentialer Wahrheit. Zunächst ist das Bezeugen ein interpersonaler Sprechakt, dessen Wahrheit in einem argumentativen Diskursgeschehen eingelöst oder abgewiesen wird. Krämer untersucht hier die zentrale Bedeutung des 'Sprechens' oder 'Sagens', welches die gemachte Erfahrung zu einer 'Aussage' transformiert. Der Anspruch einer fast nicht möglichen Entsprechung zwischen 'Erfahrung' und 'Aussage' macht dabei das Prekäre der Zeugenschaft aus. Mit Derrida und Habermas führt Krämer mögliche Modelle an, die aus dem Anspruch dieser absoluten diskursiven Wahrheit herausführen wollen und die mit den dem Zeugnis verbundenen (hier nicht religiös verstandenen) Glaubensgewissheiten produzieren. Krämer stellt dem "diskursiven Wahrheitsanspruch" das von ihr bei Foucault, Lacan und Kierkegaard auszumachende Modell einer existentialen Wahrheit gegenüber, zum Beispiel im Fall des Glaubenszeugen, den sie mit der von Foucault beschriebenen Parrhesia, dem "Wahrsprechen", in Verbindung bringt. Im Fall der griechischen Parrhesia und des christlichen Glaubenszeugnisses stehe der Zeuge mit seiner Person und seinem Leben für die Wahrheit seiner Aussage ein; es handelt sich um eine aus einem ethischen Impuls heraus geäußerte Wahrheit, "die mit ihrem subjektiven Ursprung untrennbar verbunden ist". Am Ende entwickelt Krämer die These, dass es gerade die immer wieder andere Verbindung von existentialer und diskursiver Wahrheit in den Typen der Zeugenschaft ist, die deren Wesen bestimme.
Spruchreihen im Lied
(2009)
In der Innsbrucker Handschrift der Lieder Oswalds von Wolkenstein steht als eines der letzten Lieder Kl. 115, eingetragen nach 1438, offenbar eines der spätesten Lieder Oswalds. Schon Wilhelm Grimm hat gesehen und Josef Schatz und Albert Leitzmann4 haben es im Einzelnen nachgewiesen, dass es sich bei diesem Lied um eine Umarbeitung von Freidank-Sprüchen in Liedstrophen handelt, die freilich als Oswalds eigene Lehre dargeboten werden […]. Die enge Anlehnung an die Quelle lässt erkennen, dass Oswald einer Handschrift folgte, die in etwa der von Hermann Paul als ursprünglich postulierten Anordnung von Freidanks Sprüchen entsprach. [...] Versucht man, Inhalt und Aussageweise des Lieds zusammenfassend zu charakterisieren, ist man auf höchst allgemeine Stichwörter angewiesen: Es handelt sich um elementares geistliches und weltliches Orientierungswissen und um konsensfähige Urteile, dargeboten in kurzen Sprüchen, prägnanten gnomischen Feststellungen. Derartige Sprüche hat Oswald auch sonst gern zitiert. Nirgends aber hat er diesen vielfältigen Weisheits- und Erfahrungsschatz so ausschließlich benutzt wie in dieser Bearbeitung von Freidanksprüchen, nirgends hat er so wenig auf Kohärenz der Aussagen geachtet. Haben die Zeitgenossen beim Vortrag dieses Liedes nicht ebenso wie wir die gedankliche Einheit vermisst?
Was versteht man gemeinhin unter Indizien? Indizien (indicium: An-Zeichen) beweisen ja vermeintlich keine Tat oder Schuld, sondern verweisen nur auf diese - eine spekulative, geradezu dubiose Uneindeutigkeit wird mit dem Indiz assoziiert. Dieses noch heute verbreitete Indizienverständnis resultiert historisch aus einer strafrechtlichen Debatte, die im 18. Jahrhundert den Status von Indizien äußerst konträr diskutiert, wobei deren - vermeintliche - Objektivität (Tatsache, Faktum) gegen einen - fehleranfälligen - Interpretationsspielraum (Zeichen, Denkschluss) in Anschlag gebracht wird.
Sprechen über Emotionen und Gefühle: neurobiologisch und alltagssprachlich - Das Beispiel "Angst"
(2012)
In der emotional geführten Sprachverfallsdebatte wird besonders die Apostrophsetzung vor dem Genitiv- und dem Plural-s, vulgo Deppen-Apostroph, kritisiert und als vermeintliche Entlehnung aus dem Englischen stigmatisiert. Erst seit kurzem liegen mit Scherer (2010, 2013) korpusbasierte Untersuchungen vor, die eine angemessene Interpretation dieses graphematischen Wandels erlauben, der weitaus älter ist als gemeinhin vermutet. Generell erweist sich, dass viele als neu und bedrohlich empfundene Sprachveränderungen bereits vor über hundert Jahren meist ebenso emotional gegeißelt wurden. Der Beitrag befasst sich hauptsächlich mit der diachronen Entwicklung des phonographischen Apostrophs zu einem morphographischen, dessen Funktion nun nicht mehr darin besteht, nicht-artikulierte Laute zu markieren, sondern morphologische Grenzen (Uschi's, Joseph K.'s, CD's ). Deutlich wird, dass der Apostroph der Gestaltschonung komplexer Basen dient, deren Gros aus Eigennamen besteht. Anschließend wird in einem kürzeren Teil nach der Entstehung und Beschaffenheit dieser s-Flexive selbst gefragt. Diese sind ihrerseits Ergebnis flexionsmorphologischer Umstrukturierungen und garantieren maximale Konstanthaltung des Wortkörpers. Abschließend wird noch die neueste Entwicklung gestreift, die in der Deflexion ebendieser s-Flexive besteht und die sich wieder am deutlichsten bei den Eigennamen manifestiert. Diese haben als Quelle all dieser Entwicklungen zu gelten (vgl. des Irak, des Helmut Kohl, auch des Perfekt, des LKW, des Gegenüber ). Insgesamt ist festzustellen: Nicht nur die Apostrophsetzung vor s-Flexiven, sondern auch die s-Flexive selbst sowie ihr derzeitiger Abbau dienen ein und derselben Funktion: Der Schonung durch Konstanthaltung markierter Wortkörper, worunter mehrheitlich Eigennamen fallen, daneben auch Fremdwörter, Kurzwörter und Konversionen. Damit sind es die Eigennamen, die Ausgangspunkt und Ursache tiefgreifenden flexionsmorphologischen und graphematischen Wandels bilden.
In ihrem Beitrag stellt Sara Fortuna die Verschränkung von Sprachnot und Lebensnot mit den Thesen vom Ursprung der Menschheit bei Giambattista Vico dar und geht hierbei auch dem kulturellen, materiellen und lebenspraktischen Hintergrund des Philosophen nach, um ihre Überlegungen auf eine Subversion der patriarchalen Ordnung abendländischer Philosophie hin zuzuspitzen. Übergeordnete Bedeutung hat bei Vico die Sprachnot bzw. die Not auf der symbolischen Ebene, und der Beitrag zeigt im Detail, dass und wie sich Lebensnot (inopia) und Sprachnot in Vicos Philosophie verbinden. Von Spinoza grenzt sich Vico unter anderem ab, weil er dessen "monastische Philosophie" ablehnt und auch die entsprechende von Spinoza gewählte Lebensweise nicht teilt, aber auch aufgrund seiner Religionskritik. Dies betrifft ebenso den Conatus oder Conato (Impuls), den - so Fortuna - Vico in die Nähe des göttlich geleiteten freien Willens rückt. Der Beitrag verbindet Betrachtungen zur Philosophie der Sprache, des Bildes und der Einbildungskraft mit aktuellen kulturhistorisch-materialistischen Überlegungen im Anschluss an die Matriarchal Studies zu Vico und seinem frühneuzeitlichen Umfeld.
Der nachfolgende Beitrag behandelt den sprach- und kulturkritischen Impetus in Rilkes Gedichtsammlung "Aus dem Nachlaß des Grafen C. W.". Die Texte entstanden im November 1920 beziehungsweise im März 1921. Teils wegen Rilkes Distanzierung von diesem Werk, teils weil die Gedichtsammlung thematisch wenig Neues bringt, bildet "Aus dem Nachlaß des Grafen C. W." ein Desiderat der Rilke-Forschung, obwohl der Gedichtzyklus eine interessante Vorstufe zu den Duineser Elegien darstellt.
Sprache nimmt eine zentrale Funktion ein bei der Bildung von Identität. Sprachtheoretisch fundierte Handlungstheorien sind ein Hinweis darauf. Eine Auswahl linguistisch relevanter Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts wird auf die Frage nach der sprachlichen Identitätsbildung hin untersucht. Dabei etablieren sich neben Sprechhandlungen, Perspektiven und Empathie auch Name, Stimme, Schrift und Körper als zentrale Momente der Identitätsbildung. Gleichzeitig etabliert sich als Kategorie der Identität auch Gender, im sprachlichen Kontext als Genderkategorien und Genderpraxis. Sprachlich und hier im Speziellen schriftsprachliche Genderpraxis wird anhand einzelner herausragender Phänomene für den Liebesbrief im 20. Jahrhundert beobachtet und dargestellt: die Genderpraxis des Verfassertums und seine stilistischen Ausprägungen, die Differenz in Bezug auf Sprachhandlungen in einzelnen Texten, das ausgewählte Auftreten-Lassen des Körpers und die Verwendung von Kosenamen.
Der Altphilologe Nietzsche verstand die Sprache einer Epoche als Merkzeichen deren kulturellen Klimas. Er sagte auch wie nebenher: "Die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungsprozesses". Damit bekommt er heute so drastisch Recht, wie Absturz das Fallgesetz beweist. Müssen die Sprechenden, die Schreibenden sich immer schneller und schneller verständigen, so dass vereinbarte Sprachkürzel wie Zuruf in der Not eben noch eine gemeinsame Fluchtroute durchs Leben melden? Was heißt überhaupt sich verständigen, da sie längst dazu übergegangen sind, sich zu 'informieren'? Urteile werden in der Kurzform geprägter Wort-Münzen akzeptiert und weitergereicht. Viele Landsleute können keinen vollständigen deutschen Satz mehr bilden. Die Zeitungen konzentrieren das Wahrnehmen auf die Stereotypen von Ereignissen, bei irregulären Zielstellungen des Staates (gegen 'Putin', gegen 'Terror') in regierungskonforme Sprachschablonen gefasst, die Denklinien vorgeben. Gutes Urteil steht fest vor dem Ereignis. Als Gefangene der wie Fesselungen verteilten Termini, finden sich die Wege zu eigenen Sätzen verlegt. Das tägliche Leben spielt in den mails und apps, und wie das Gespräch zwischen Personen verdrängt wird von der Technisierung der Nachrichtenzeichen für Partner und Freunde, die alle zu Bekannten werden, so verbreitet sich die ameriko-englische Geräte- und Hersteller-Sprache wie befreiender Auszug aus der Provinz in die große Welt.
Im Jahre 1548 erschien in Frankfurt am Main eine Schrift, die den merkwürdig modern anmutenden Titel „Psychopharmakon hoc est: medicina animae“ trug. Doch dieses, von einem Hadamarer Geistlichen herausgegebene, Werkchen illustriert[…] lediglich im Nach hinein einen Einbruch des Realen in die reinen Ordnungen des Wortes. Natürlich enthält es noch »nur« eine Sammlung von Gebeten und Trostsprüchen und keine chemischen Rezepte, doch sein Titel schlägt historisch eine Brücke von der vormaligen Macht der Geistlichkeit zu der Mach t, die in eben diesem Namen Psychopharmakon der Psychiatrie einmal zugekommen sein wird. Die heilsame institutionelle Macht, die Wörter über Seelen haben können und sollen, verwandelt sich mit der Geschichte eines griechischen Wortes in eine Macht, die auch eben jene organischen Zentren und Werkzeuge biochemisch affiziert, die Wörter allererst ausdenken und -sprechen; dass dies historisch in Gang gesetzt wird durch ein Psycholytikum, eine Droge, die dem Medikamentierten seine Seele lösen soll wie die Segensformel des Beichtigers einst die Zunge des reuigen Sünders, dies ist in der Tat eine Verschiebung im Feld eines Wissens vom Mensch en, die Macht und Mächte in diesem umstrittenen Geviert zwischen Geist und Seele, Physis und Logos historisch präzise umreißt.
In diesem Zusammenhang scheint vielleicht eine kurze Geschichte der Auffassungen von Sprache als Gegenstand von Psychiatrie und Neurologie von Philippe Pinel bis zu Sigmund Freud zunächst einen Seitenweg beschreiten zu wollen; doch wird sich im Verlauf meiner Ausführungen zeigen, dass weder die Entstehung der modernen Sprachwissenschaft oder Linguistik, noch die Abenteuer einer modernen Ästhetik sich davon unbeeinflusst darstellen lassen.
Es fällt auf, dass eine ganze Reihe von Bekehrungsgeschichten in der frühen koranischen Rezeptionsgeschichte die Dichter und ausgewiesen rhetorisch Versierte zu Protagonisten haben. Kaum eindringlicher konnte die überlegene "Höherentwicklung" des Koran gegenüber der bloßen Poesie vorgeführt werden als durch die plötzliche, widerstandslose conversio derjenigen, auf deren Leistung sich die völkische Gemeinschaft der Araber begründete und denen man, da sie die Kunstsprache der Poesie ('arabīya) in Vollendung beherrschten, gewaltige magische Kräfte zurechnete.
Macht man sich diese aus Perspektive des christlichen Abendlandes überaus erstaunliche ästhethische Qualität und klangbasierte Wirkmacht des islamischen Offenbarungsmediums deutlich, tritt die Differenz zum Wesen der christlichen Offenbarung und zu ihren Basisbegründungen für Wahrheit und Wahrhaftigkeit erst so recht deutlich hervor. Und es stellt sich sehr schnell die für die christliche Verkündung sich nicht unmittelbar aufdrängende Frage nach ihrem Verhältnis zur poetisch-ästhetischen Rede und überhaupt nach dem Zusammenhang zwischen ihrem medialen und sakralen Status.
Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege : Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar
(2022)
In her article, "Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege: Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar" ("Spider-Glasses, Dog-Cams, and Walkies with a Goat - Reflections on a Project Seminar on Animal Linguistics"), Pamela Steen describes a linguistics seminar that she taught in the summer semester of 2020 at the University of Koblenz-Landau. The author offers a general classification of pragmatic linguistics in HAS in order to justify its categorization as a sub-discipline of cultural animal studies. Steen pays special attention both to the creative methods participants use to incorporate animal perspectives into their research and to the aspect of empathy for animals. This aspect is not only a central linguistic feature but also relevant to the researcher's perspective. A particularly sophisticated method of empathizing with animals are the "spider glasses" developed by a student of Steen's seminar, Katharina Anna-Lena von Werne. In excerpts from her research report, von Werne describes how she sees the world "through the eyes of a spider" and what personal changes this has brought about for her in relation to nonhuman animals.
Die Brisanz der Frage nach den Denkweisen der Spielgrenzen eröffnet sich, sobald man sich klar macht, dass mit der Entgrenzungsbewegung digitaler Spiele, wie Raczkowski einleitend bemerkt, sich auch das Ludische als Kulturphänomen transformiert. Die Richtung dieser Transformation wiederum zeigt sich, wenn wir uns vor Augen halten, dass die sogenannte Spielifizierung unserer Gesellschaft als Gamifizierung bezeichnet wird, Game aber im Zeitalter der Digitalisierung der Spiele der Name für eine Spielumgebung geworden ist, die sich durch Scoring und Flow, mithin durch die Quantifizierung und Rationalisierung der Spiele und ihrer Vergnügen auszeichnen. Wir sind damit an eben jenem Punkt angelangt, an dem sich das Nachdenken über die Transformation des Spiels mit der Feststellung von Alexander Galloway und Eugen Thacker überkreuzen, nach der die mit der Elementarität des Netzwerks einhergehende Veränderung der Umwelt uns dazu auffordere, eine Klimatologie des Denkens auszuarbeiten. Raczkowski kommt nach einem Durchgang durch die unterschiedlichen Positionen, die in der Kontroverse um den Zauberkreis eingenommen wurden, zu dem Schluss, dass der Magic Circle als Erklärungsmodell in den gegenwärtigen Entwicklungen selbst an seine Grenzen komme, als Grenzfigur jedoch für die Computerspielforschung entscheidend bleibe.
Lara Tarbuk widmet sich dem Gedichtband "dachbodenfund" von Nicolas Mahler, dessen Texte aus Spielzeugauktionskatalogen montiert werden. Ihre Lektüren ausgewählter Gedichte zeigen, wie, vermittelt über die montierten Texte, die Materialität des Bandes und seiner Texte selbst zum Gegenstand der Reflexion wird.
Wie ich zeigen wollte, führt Oppenheimers Film "The Act of Killing" die obengenannten Schwierigkeiten im Umgang mit Täterzeugenschaft ins Extrem. Der Film verzichtet darauf, die Äußerungen der Täter aus dem Off zu kommentieren, zu überprüfen oder ihnen Kontra zu geben. Die Opfer sind – in den Zeugnissen der Täter wie auch in den Bildern des Films – auf gespenstische Weise abwesend. "The Look of Silence" nimmt zum ersten Film eine geradezu komplementäre Strategie ein: Er macht die Opfer als Subjekte sicht- und hörbar – aber nicht, indem er die Opfer in den Zeugenstand ruft, sondern indem er sie zu 'Zuhörern des Zeugnisses' macht. "The Act of Killing" und "The Look of Silence" können als zwei Teile eines Ganzen betrachtet werden, in dem die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit eines Dialogs von Tätern und Opfern in Indonesien heute aufgezeigt wird. Zugleich zeigt das Doppelfilmprojekt, dass es dazu keine Alternative gibt, wenn die Wahrheit zur Sprache kommen soll.
Spiel:Zeit
(2017)
Wenn Spiel sich nicht mehr, wie Gadamer in Anlehnung an Martin Heidegger noch glaubte, räumlich begrenzen lässt, wenn es sich also nicht mehr als ein Spiel- oder Zwischenraum zwischen von Arbeit oder Ritual bestimmten Räumen verstehen lässt, dann löst sich die Zeit des Spiels von ihrer räumlichen Einfassung. Schon Hamlet gelingt es nicht mehr, das 'time is out of joint' durch ein abgegrenztes Spiel im Spiel zu richten und Zeit wieder genealogisch einzuhegen, wie Reinhold Görling in seinem Beitrag schreibt. Entlang der maßgeblichen kulturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Theorien des Spiels im 20. Jahrhundert entwickelt er einen Vorschlag für eine Ökologie des Spiels, womit nicht eine Umweltlichkeit des Spiels, sondern eine eigene Weise der Bezogenheit gemeint ist. Gregory Bateson, Donald W. Winnicott, Daniel Stern und Gilles Deleuze sind die wichtigsten Referenzen, mit denen die Zeit des Spiels als 'différance', als Wirken der Differenz von Reihen und als Dramatisierung der Idee im Sinne von Deleuze verstanden wird. Entgrenztes Spiel, das seine eigenen Regeln erfindet, schafft sich selbst ein leeres Feld. Manchmal reicht ein zweideutiger Pfiff des Schiedsrichters, wie Görling am Beispiel eines unterbrochenen Fußballspiels zeigt. Entgrenztes Spiel ist Werden und Veränderung, oft auch ohne Intention der Beteiligten. Wären nicht alle 'interfaces' oder Benutzeroberflächen durchsetzt vom Spiel, es wäre zum Beispiel kaum denkbar, dass sich die Technik der Computer so schnell und so umfassend in unsere alltäglichen Verrichtungen, in unsere Tagträume wie in unsere Arbeitsprozesse eingemischt hat.
"Spartacus", das ist der Mann mit dem entschlossenen Blick aus stahlblauen Augen, ein Gesicht mit klassisch-gerader Nase und darunter ein eckiges Kinn mit unübersehbarem Grübchen, ein Körper mit muskolösen nackten Armen und Schenkeln - "Spartacus" ist für viele der Filmschauspieler Kirk Douglas in einer seiner bekanntesten Rollen, in Spartacus von Stanley Kubrick (USA, 1960).
Soziologie und Politik
(2017)
Bei "Soziologie und Politik" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (1889) (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Bertha von Suttners Soziologieverständnis war stark von Auguste Comtes positivistischer Sichtweise geprägt, die auf einem absoluten Glauben an Wissenschaft und Vernunft beruht. Dieses positivistisch geprägte soziologische Programm hatte um 1900 seinen Höhepunkt erreicht und war danach für Jahrzehnte unter den Generalverdacht der Faktenhuberei und der naiven Wissenschaftsgläubigkeit gestellt worden. Mit den Positivisten teilte Suttner ein monistisches Weltbild, sah das menschliche Zusammenleben als naturgesetzliches Ganzes an und negierte eine nomothetische Wissenschaftsauffassung. Für sie hatte die Soziologie - wie die Wissenschaft überhaupt - die Aufgabe, das menschliche Zusammenleben sowohl zu beschreiben als auch zu verbessern. In "Soziologie und Politik" sieht das Ich den Staat als Organismus und vergleicht die Vorgangsweise mancher Politiker mit einem Menschen, welcher über keine physikalischen Kenntnisse verfügt, aber in einem Chemielabor versucht, Substanzen herzustellen. Suttner fordert deshalb für Politiker eine Ausbildung in Sozialwissenschaften und kritisiert, dass Politiker gar keine fachspezifische Ausbildung brauchten, sondern dass der Gewinn von Wählerstimmen reiche. Allein durch die Wahl erhielten Personen eine Position mit Entscheidungsrecht über weitreichende politische Bereiche - Kultur, Gesundheit, Landwirtschaft, Handel, etc. Für Suttner entbehrte dieses System der objektiven Wahrheit; sie sah es vielmehr geprägt von den ausschließlich individuellen Interessen der einzelnen Personen und den Interessen der politischen Parteien. Die Führung eines Staates aber müsse über die "Wechselbeziehungen zwischen Ursache und Wirkung" Bescheid wissen und dürfe nicht nur kurzsichtig handeln.
Sozialgeschichte des Theaters - das soll im folgenden bedeuten: eine Geschichte der Berührungen der Institution und des Mediums Theater mit "Gesellschaft". Diese Formel lenkt den Blick auf zwei Sachverhalte, nämlich zum ersten auf die Gruppe(n) derjenigen, die Theater rezipieren, also auf bestimmte Gesellschaftsausschnitte, aus denen sich gewissermaßen Publikum konstituiert, zum zweiten auf die Reflexion sozialer Konstellationen und Prozesse im Rahmen des künstlerischen Produkts "Theater", etwa auf der Ebene der behandelten Themen und Stoffe. Beide Sachverhalte sind nicht zu trennen von der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Theater. [...] Nähert man sich Wien und seinem Theater über Konzepte wie Identität oder Image, so erhebt sich die Frage, wie sich dieses "Wien" eigentlich fassen lässt. Wien als räumliches und soziales Gebilde besaß und besitzt eine überaus komplexe Struktur. [...] Um sich diesen Sachverhalten immerhin anzunähern und Wien als einen in einzigartiger Weise geordneten Raum des sozialen Miteinanders, des Wohnens, des Arbeitens und des Vergnügens zu erschließen, bietet sich das Modell einer kulturellen Topographie an. [...] Mit den Begriffen Identität und Topographie sind jene beiden Kategorien benannt, an denen sich die folgenden Ausführungen zum Wiener Theater vornehmlich orientieren. Diese Zugangsweise erhebt ebenso wenig Anspruch auf Objektivität wie die Auswahl der Aspekte der Wiener Theatergeschichte, die aus der vorgegebenen, drei Jahrhunderte umfassenden Zeitspanne herausgegriffen und diskutiert werden. Einige hauptsächliche Prämissen der Darstellung seien gleichwohl benannt: Erstens wird im Sinne einer integralen Theatergeschichtsschreibung die dem Miteinander und Gegeneinander der Disziplinen (Sprech-)Theaterwissenschaft und Musikwissenschaft nach wie vor zugrunde liegende, vom historischen Theateralltag aber nicht gedeckte Trennung von Sprechtheater und musikalischem Theater aufgegeben, fallweise auch die Trennung von institutionalisiertem Theater und semitheatralen Formen. Zweitens werden - entsprechend der im vorliegenden Kontext erforderlichen Entprivilegierung (hoch-)kultureller Erscheinungen - populäre, auf ein breites Publikum zielende Genres besondere Berücksichtigung finden, Genres, die übrigens fast durchwegs dem musikalischen Theater angehören. Drittens wird es im Hinblick auf die Berührung zwischen der Gesellschaft bzw. ihren Teilen und dem Theater vorrangig um Zugänge und um Zugänglichkeiten gehen: das Stichwort "Zugänge" bezieht sich auf Räume für Theater, und zwar auf Räume der Stadt, die dem Theater erschlossen werden, und auf die eigentlichen Theatergebäude / Institutionen als Orte des Aufeinandertreffens von Theaterspiel und Zuschauer; mit "Zugänglichkeiten" sind jene Bereiche der Theatergesetzgebung (inklusive herrschaftlicher Einzelentscheidungen) gemeint, die gleichsam die Rezeption von Theater steuern, wie etwa das Konzessions- und Privilegienwesen und die Zensur.
The main theme in the three scenes and one stage theatre play called "Lawyers" which was written by Rolf Hochhuth in 1980 is "death". The date in the play goes back to May 1978 when the body of the Italian Prime Minister Aldo Moro was found. In the play, the minister Heilmeyer is a lawyer like his daughter Tina and his prospective son-in-law Dieter. However, Heilmeyer worked as a judge at the times of Hitler's Germany. It is seen that lawyers from two different generations encounter topics like death, death sentence, suicide, right to kill and survive. Hochhuth not only questions his own society with a critical attitude and but also he keeps on becoming the conscience of the society with the chronological narrative and the play in which the ideas are associated. The play is analyzed in the light of the perspectives of social reality and readers.
Die programmatische Allgegenwart des 'Sozialen' nährt den Verdacht, wir hätten es hier mit einem leeren und nichtssagenden Plastikwort zu tun, das vielleicht gebildete Dignität und moralisches Engagement vortäuscht, aber semantisch durchaus nicht zu fassen ist, weil es eben nichts Bestimmtes zu bedeuten vermag. Clemens Knoblochs These ist hingegen, dass 'sozial' in den Jahren um 1900 zu einer semantischen Chiffre wird, in der sich die Erfahrung reflexiv verdichtet, dass die dringlichsten Probleme der industriekapitalistischen Entwicklung diejenigen sind, die durch diese Entwicklung selbst erst hervorgebracht werden. Platt gesagt: die unbeabsichtigten Nebenfolgen des allgemeinen Fortschritts: Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten, Landflucht, Proletarisierung, Stockungen im Warenabsatz, Armuts- und Elendsseuchen, Analphabetismus etc. müssen sowohl 'staatlich' als auch 'gemeinschaftlich' bearbeitet werden. Mittels 'sozial' erhalten all diese (im Schlagwort der "sozialen Frage" resümierten) Probleme so etwas wie eine Adresse. Und fortan wird 'sozial' programmatischer Bezugspunkt all dessen, was sich auf die unerfreulichen Folgen und Begleiterscheinungen der kapitalistischen 'Entwicklung' bezieht. Es wird kompensatorisch, es wird (linguistisch gesprochen) nicht nur zum Relationsadjektiv, sondern zu einem pauschalen Verweis darauf, dass die qua 'sozial' modifizierten Nominalphrasen (bzw. das, was sie nennen) einen Bezug auf das Problem der gesellschaftlichen Kohäsion haben. Diese Facette fehlt naturgemäß völlig im lateinischen 'socialis', das die ausdrucksseitige Quelle des heute in vielen Sprachen vertretenen Internationalismus 'sozial' ist.
Die Geschichte der Folter und die der Märtyrer, das zeigt nicht erst Gallonio, gehen Hand in Hand. Bereits im Mittelalter bezeichnete 'cruciatus' auch die Folter und die Pein, ebenso wie das mhd. 'Marter' aus dem Leiden Christi über das Blutzeugnis die Bedeutung Folter entwickelt hat. Rein begrifflich landeten somit die Passion und das Martyrium wieder dort, wo sie ihren Ausgang genommen hatten: in der Geschichte des Rechts und seiner Zeugen. Im Martyrium ist immer schon ein gewisser Juridismus am Werk: Es beginnt mit einer Konfrontation vor Gericht, vollzieht sich in einer spezifischen Verbindung von Zwang und Zeugenschaft und bezeugt zuletzt, in seiner eschatologischen Dimension, die Hoffnung auf eine weltgeschichtliche Wiederherstellung des Rechts. Vergleichbar aber sind Folter und Martyrium auch darin, dass sie beide 'diskursive Praktiken' im strengen Sinn darstellen: Beide bestehen in einem Sprechakt, der durch einen Akt körperlicher Gewalt beglaubigt werden muss. Erst unter der Folter kommt das Bekenntnis oder Geständnis ganz zu sich, und so sehr die Marter und das Martyrium gerade über die sprachlose Evidenz der Schmerzen 'sprechen' machen, so sehr produzieren sie weitere Diskurse: Zuvorderst entstehen Protokolle der peinlichen Befragung oder des Bekenntnisses; und zuletzt wird ein rechtsgültiges Urteil oder aber die kanonische Beurteilung darüber zu den Akten genommen, ob es sich um einen Pseudomärtyrer, um ein gescheitertes Martyrium oder um einen wahren Blutzeugen gehandelt hat. In beiden Fällen sind es Schmerzen oder Leiden, die positiviert und - nach Maßgabe einer weltlichen oder geistlichen Macht - in einer Wahrheit aufgehoben werden. Somit ist selbst jene Selbstautorisierung, die die 'confessores' der ersten Stunde auszeichnet, nur von Gnaden einer Diskursgewalt, welche rechtsgültige Verbrecher 'ex post' in Leidende ('pathontes') und diese in Zeugen ('martyres') verwandelt. Im Archiv der Märtyrer lässt sich dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Diskurspraktiken schon am Grundstock der frühchristlichen Märtyrerakten studieren: Zuweilen als Briefe verfasst und als solche an die gesamte expandierende Christenheit adressiert, vermischen sie Augenzeugenberichte und Dokumente, Urkunden und Fälschungen, Glaubensunterweisungen und Erzählungen, Protokolle und authentische Textzeugen. Stets präsentieren sie eine juristische Fallgeschichte und statuieren aus ihr ein heilsgeschichtliches Exempel. Als Gallonios Kollegen an der Wende zum 17. Jahrhundert die Märtyrerakten historisch-kritisch bearbeiteten, vereinigten sie die verstreuten Textzeugnisse und brachten die diskursive Ordnung der Blutzeugnisse auf den neuesten Stand. Martyrologie ist so gesehen immer auch eine fortlaufend aktualisierte Ableitung der Heils- aus der Rechtsgeschichte.
Souvenir und Andenken
(2006)
Souvenir und Andenken sind [...] Mediatoren einer Umwegerinnerung: und dies, weil sie "mit dem ursprünglichen Sinneseindruck" metonymisch, d.h. als Fragment zusammenhängen. Charakteristisch für Souvenir und Andenken ist, dass sie, als Reststücke einer Person, eines Ortes, einer Situation, eines Erlebnisses, ein Versprechen enthalten, nämlich eine bislang im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen, wiederzubeleben, wiederzuinszenieren. Dass dieses Versprechen nur sehr schwer und selten eingelöst werden kann, ist der Zwischenzeit geschuldet.
Johann Wolfgang Goethe ist für die Beschäftigung mit Fragen des Archivs nicht nur ein symptomatischer oder beispielhafter, sondern ein beispielgebender Autor. Er besetzt eine wichtige Funktionsstelle in der Koppelung moderner Autorschaft ans Archiv. Genauer gesagt, steht er wie wohl kein anderer Schriftsteller – jedenfalls in der deutschen Literaturgeschichte – für die Selbstinstitutionalisierung von Autorschaft durch eine bestimmte Art der Selbstarchivierung, die man, im Anschluss an den von Steffen Martus geprägten Terminus der Werkpolitik, als Archivpolitik bezeichnen könnte. Vor allem die epochale Erkenntnis des alt gewordenen Goethe, "sich selbst historisch" zu werden, führte zu archivarischen Maßnahmen größeren Stils, die ihrerseits jene Erkenntnis immer weiter beförderten. Das so entstehende Spät- oder Alterswerk ist nicht einfach nur die Summe der relativ spät verfassten Texte dieses Autors, vielmehr liegt seine Spezifik im Altern des Werks selbst. So erklärt sich zum einen die Emphase, mit der Goethe sein Lebenswerk, sein Leben im Werk und sein Leben als Werk, konzipierte, zum anderen die große Aufmerksamkeit, die er auf die Sortierung seiner Schriften, Notizen, Bilder und Objekte, auf die Materialität seiner Produktion insgesamt wendete.
Auf meinem Posten war ich bereits mit sieben; hinter mir, was (angeblich) noch gar kein Leben war, aber vor mir schon ein fantastisches Werk, das einzig aus meiner Einbildung lebte, neben den üblichen Kinderlektüren die einzige Nahrung meines fröhlichen Schreibens; dass dieses Werk eines eigenen Lebens bedürfte, um tatsächlich Inhalt und Form anzunehmen, stand nicht zur Debatte: Wozu seine Zeit mit einem Leben verschwenden, das sich im Werk wie von selbst erfindet und haltbarer als jedes Tagwerk ist. So denkt und schreibt nur ein Kind, das noch jede Legende für Wahrheit hält und das ich bis heute geblieben bin: ein denkendes Kind, das sich in Größe hineinträumt und schreibend den Zugang zu einer Welt erschafft, die mir (wie ich umgekehrt ihr) immer fremd bleiben wird, das aber (immerhin) weiß, dass sich die Geschichte des Lebens nicht in ein Buch binden lässt, sondern sich unablässig weitererzählt und weiterschreibt, von Text zu Text und Buch zu Buch und über die Ränder der Bücher hinaus, ohne Aussicht auf Rettung und Ende, scheinbar absichtslos hinein in die Welt, die sich sowieso nicht erzählen lässt. Die letzten Sätze werden die ersten sein und die ersten die letzten, und immer so fort, bis ich eines Tages (niemand weiß, wann), den Stift endlich aus der Hand legen darf.
Software
(2018)
Software regiert die Welt. Software hat die alte Unterscheidung von Geist und Materie - aufgemischt. Im engeren, in der und durch die Informatik terminologisch gewordenen Sinn meint der Begriff die Programme, die auf Universalrechenmaschinen (als der Hardware) zum Laufen gebracht werden können. Aber auch deren Bedienungsanleitungen wurden weiland dazu gezählt. Ebenso sind auch die gemäß den Befehlen der Programme verarbeiteten Daten und Adressen nicht Hard-, sondern Software. Die ganze heutige Bilderwelt im Web und auf den Milliarden Handys, alle gestreamte und downgeloadete Musik, nicht anders als dieser Text hier (bevor er in Druck gegangen sein wird): Alles ist Software. Und nichts ist Software. Weil ja auch jenseits der Schrift auf Papier, der Spur im Vinyl, des Granulats von Silbersalzen, kurzum: im sogenannten Digitalen nichts ohne die physikalisch-elektrischen Zustände der es prozessierenden Schaltkreise geht. Insofern gilt: Es gibt keine Software. Es gibt nur das Milliardengeschäft der Illusion, dass alles Software sei. Vielleicht könnte man sagen, dass 'Software' zu nichts anderem ge- und erfunden wurde, als um genau diese 'coincidentia oppositorum' von Alles und Nichts zu bezeichnen - oder hinter ihrer Bezeichnung zu verstecken. Beide Seiten machen jedenfalls erklärlich, dass es ein eigenes Wort für die Sache brauchte. Als Fremdwort außerhalb des englischen Sprachraums kann die einmal etablierte Vokabel, ebenso Unklarheiten mit sich führen, wie sie als 'terminus technicus' (im Englischen wie in anderen Sprachen) auch für das genaue Gegenteil, nämlich wissenschaftliche Präzision, einstehen kann.
Die Digitalisierung nimmt auf allen Ebenen zu und so können und wollen wir Smartphones oder Tablets nicht mehr aus unserem Leben verbannen und das gilt letztendlich auch für den Bildungsdiskurs. Im Beitrag wird darauf eingegangen, ob und wie Smartphones im DaF-Unterricht in Slowenien vertreten sind, was für bzw. gegen ihren Einsatz spricht, unter welchen Umständen dieser sinnvoll ist usw. Es werden illustrativ einige Apps und Programme vorgestellt und auf Pro- und Contra-Argumente für ihren Einsatz hin untersucht, ehe abschließend ein Fazit gezogen wird.
In seiner Kulturkritik hat Nietzsche um 1900 entschieden die "moderne Unruhe", die unmäßige Bewegtheit und Hast im Zeitalter der Arbeit und Eilfertigkeit verurteilt. Er beobachtete, nach Amerika blickend, eine starke Beschleunigungszunahme auf der Ost-West-Achse und diagnostizierte Kulturzerfall. Nietzsches kulturkritisches Plädoyer zum "sich Zeit lassen, still werden, langsam werden" ist in erster Linie ein Plädoyer für die Philologie, die für ihn, den "Lehrer des langsamen Lesens", zum Inbegriff subversiver Gelassenheit wird. Mit seiner Forderung nach einem lento (ital. langsam, locker) in der Kultur bezieht sich Nietzsche auf ein musikalisches Tempo, das als Vorschrift seit dem frühen 17. Jahrhundert nachweisbar ist, auch wenn es im Gegensatz zu largo und adagio eher selten verwendet wurde. Seit dem 18. Jahrhundert scheint sich durchzusetzen, dass ein largo langsamer als ein adagio und mit lento wiederum ein Vortrag gemeint ist, der so langsam, wenn auch nicht so gewichtig wie der eines largo ist. Nietzsches Fingerzeig auf die langsamen Rhythmen der Musik, auf Längen und Pausen, verweist darauf, dass Körper und Psyche nicht unter das Diktat der Chronokratie gehören, vielmehr haben Körper und Psyche ihre eigenen Rhythmen. Im Folgenden befolge ich weniger Nietzsches Rat, eilige Menschen durch abgründige Lektüren zur Verzweiflung zu bringen, sondern folge mit müßigen, sprich: freien Gedankengängen einer Konjunkturerscheinung, der Entschleunigung im Zeitalter der Beschleunigung, und zwar an verschiedenen Punkten mit unterschiedlichen Tempi.
Within the Davidsonian paradigm copula-predicative constructions are commonly assumed to involve a state argument. Its source is taken to be either the copula 'be' (cf. e.g. Bierwisch 1988) or the predicative (cf. the ongoing stage level/individual level debate). Yet, a critical examination of copula-predicative constructions in contexts that call for Davidsonian arguments (locative modifiers, manner adverbials, perception verbs, etc.) reveals that they do not behave as expected. In fact, the data examined here do not support the assumption that copula-predicative constructions are equipped with a Davidsonian argument nor is there any evidence for a grammatically reflected distinction between temporary and permanent properties. The present paper argues alternatively for a grammatical distinction between states like' sit', 'stand', 'sleep', 'wait', 'live' and statives like 'resemble', 'know', 'hate', 'cost' which is invoked by the presence or absence of a Davidsonian argument. Copula-predicative constructions are shown to belong uniformly to the class of statives. The acceptability differences of copula-predicative constructions in combination with locative modifiers are accounted for pragmatically on the basis of conversational implicatures.
Körperbewegungen als Ausdrucksphänomen zu deuten und ihren Ausdruckswert konkret zu bestimmen stellt ein fortdauerndes Problem sowohl für das Selbstverständnis als auch für das Fremdverstehen des Menschen dar. Die immer wieder unternommenen Versuche zur Klärung und Systematisierung in Bereichen wie der Physiognomik, der Schauspielkunst, der (Kriminal-)Anthropologie sind stets von kritischen Diskussionen um die Reichweite, Genauigkeit, Verlässlichkeit der vorgeschlagenen Entzifferungsstrategien begleitet worden, insbesondere wenn sie auf einen eindeutigen Ausdruckskatalog oder ein stabiles Gestenrepertoire hinauslaufen. Gegen solche Festschreibung richten sich viele Versuche der Differenzierung, ja Pluralisierung von Bedeutung des Ausdrucksspektrums, um so die Kontexte des Auftretens von Ausdrucksphänomenen als konstitutive Faktoren in die Bestimmung ihrer Bedeutung einzubeziehen. Sowohl Konrad Fiedler als auch Sigmund Freud können in dieser Hinsicht als Theoretiker einer situationsbezogenen Ausdrucksdeutung gelesen werden, auch wenn ihre Ausgangspunkte und Herangehensweisen ganz unterschiedlich sind. Beider Deutungskunst kann auf dem Feld der Kunstdeutung in Beziehung gesetzt werden und in ihrer Unterschiedlichkeit als einander ergänzende Teile zu einer umfassenden Philosophie der Kunst begriffen werden.
Mit dem Ausbruch eines Krieges in der Ostukraine hatte vor 2014 niemand gerechnet. Die rasante Geschwindigkeit, mit der die innenpolitische Krise in einer der einst stabilsten ehemaligen Sowjetrepubliken zu einem hybriden Krieg eskalierte, deutet dabei nicht nur auf rationale militär- bzw. wirtschaftsstrategische Interessen hin. Obwohl die Ukraine und Russland eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und kulturelle Nähe verbindet, offenbart der Konflikt auch tiefe gegenseitige Ressentiments und geschichtspolitische Obsessionen, die bereits lange vorher in künstlerischen Werken und kulturellen Diskursen präsent waren. In der Ukraine-Krise kam es zu einer Reinszenierung kollektiver Phantasmen, historischer Helden- und Opfermythen. Paradoxerweise aber eröffneten die Gewaltbereitschaft und Kriegslust, mit der alle Parteien auf lokaler, nationaler und virtueller Ebene diese Dynamik vorantrieben, unter anderem Kulturschaffenden auch Möglichkeiten, die gefühlte Ohnmacht zu überwinden und gesellschaftlich handlungsfähig zu werden. Diese Entwicklung ist tief durch die (post-)sowjetischen Erfahrungen geprägt und zugleich eng mit globalen und medialen Veränderungen verbunden. Die Fallstudien des Bandes loten die affektiven und diskursiven Dimensionen des Konfliktes aus und leisten damit einen Beitrag zur Konzeptualisierung der postsozialistischen Gesellschaften und Kulturen im Osten Europas.