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Sammelbesprechung
(2022)
Rezension zu:
Florence Bretelle-Establet and Stéphane Schmitt (eds.) 2018: Pieces and Parts in Scientific Texts (Why the Sciences of the Ancient World Matter, vol. 1). Cham: Springer International Publishing, geb., 355 S., 128.39 €, ISBN: 978-3-319-78466-3.
Christine Proust, and John Steele (eds.) 2019: Scholars and Scholarship in Late Babylonian Uruk (Why the Sciences of the Ancient World Matter, vol. 2). Cham: Springer International Publishing, geb., 274 S., 24 s/w Abb., 128.39 €, ISBN: 978-3-030-04175-5.
Cécile Michel and Karine Chemla (eds.) 2020: Mathematics, Administrative and Economic Activities in Ancient Worlds (Why the Sciences of the Ancient World Matter, vol. 5). Cham: Springer International Publishing, geb., 568 S., 127 s/w Abb., 35 farb. Abb., 117.69 €, ISBN: 978-3-030-48388-3.
Dass in Bremen an einer Uferböschung des Flüßchens Ochtum ein alter – mit Stacheldraht bespannter – Schleppkahn als Konzentrationslager gedient hat, erfährt, wer den "Benz-Distel" aufschlägt. Drei Bände des großen Werkes über die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager liegen nun vor. Auf ursprünglich sieben, mittlerweile neun Bücher, die in halbjährlichem Abstand bis zum Frühjahr 2009 im Verlag C.H. Beck erscheinen werden, ist die Gesamtgeschichte der Lager angelegt, die Wolfgang Benz und Barbara Distel initiiert haben. Das mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Herausgeberteam der "Dachauer Hefte" treibt bereits seit Jahrzehnten die Forschung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern voran. Im Zentrum des schon wegen seines schieren Umfangs eindrucksvollen Projekts steht die Topografie der Lager, genauer: der Umstand, dass die Nationalsozialisten Deutschland und das gesamte besetzte Europa flächendeckend mit einem Netz von Haftstätten überzogen haben. "Der Ort des Terrors" heißt denn auch die mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes und des Auswärtigen Amtes geförderte Gesamtdarstellung der Lager. ...
Die Suche nach der Frau, ihrem Ort, ihrer Rolle sowie ihren Handlungsbereichen und Tätigkeitsfeldern im Dritten Reich markieren verschiedene Stationen der historischen Frauenforschung zum Nationalsozialismus der letzten dreißig Jahre. Während sie in den 1970er-Jahren Frauen im privaten Bereich des NS-Systems verortete, betonten Untersuchungen der 1990er-Jahre die ambivalente Stellung der Frau im nationalsozialistischen Staat. Wenngleich die NS-Rhetorik sowie die sozialpolitischen Maßnahmen des Regimes auf eine Stärkung patriarchaler Strukturen zielten, erweiterten sich dennoch im Dritten Reich die Tätigkeitsfelder und Handlungsmöglichkeiten von Frauen. Trotzdem gilt der nationalsozialistische Staat nach wie vor in der historischen Forschung als eine "Männergesellschaft". ...
Die internationale Herkunft der für die Herausgabe und die Studien verantwortlichen Autoren und Autorinnen ist ein wichtiges Merkmal dieses Sammelbandes zur frühen Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Die Beiträge des 14. Bandes der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte stammen je zur Hälfte von englischen und deutschen sowie männlichen und weiblichen Fachleuten. Beides ist sowohl positiv wie leider noch nicht alltäglich. Mit dieser Vorausschau können hohe Erwartungen geweckt werden, und – um es vorwegzuschicken – diese werden auch voll und ganz befriedigt. ...
Wie kein anderer Ort ist Auschwitz zu einem Synonym für die nationalsozialistische Terrorpolitik geworden. Mit Majdanek teilt die Stadt das Schicksal, sowohl ein Konzentrations- als auch ein Vernichtungslager beherbergt zu haben. Mindestens 1,1, möglicherweise sogar anderthalb Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet, vor allem europäische Juden, aber auch nichtjüdische Polen, Sinti und Roma. Mit Monowitz und seinen Nebenlagern befand sich hier zudem "das erste von einem Privatunternehmen initiierte und finanzierte Konzentrationslager" (S. 43). Jenseits dieses dreiteiligen Lagerkomplexes sollte in Auschwitz eine deutsche Musterstadt entstehen. Auf den Reißbrettern nationalsozialistischer Visionäre avancierte die Stadt "zum Ideal ökonomischer Erschließung und rassischer Auslese, zum Zukunftsmodell der deutschen Herrschaft im eroberten Land" (S. 51). Kurzum: an keinem anderen Ort manifestierte sich die symbiotische Verbindung zwischen Lebensraum und Vernichtung deutlicher als in dieser im deutsch-polnischen Grenzgebiet gelegenen Stadt. Dies rechtfertigt es, Auschwitz eine Überblicksdarstellung in einer Reihe (C. H. Beck Wissen) zu widmen, deren historische Veröffentlichungen in der Regel größere Epochen behandeln, zumal über Auschwitz noch immer keine Monografie erschienen ist. ...
Der Sammelband enthält die Vorträge einer altertumswissenschaftlichen Tagung, die unter gleichem Titel am Freiburger Antike-Zentrum (dort auch "Antikenzentrum" genannt) stattfand und an der Historiker, Kirchenhistoriker, Philologen und Philosophen teilgenommen haben. ...
Hartmut Leppin dokumentiert exemplarisch das Eindringen christlichen Geistes in das traditionelle Kaiserbild. ...
Für die Erforschung der spätantiken Herrscherideologie hat Andreas Alföldi (1895-1981) Grundlegendes geleistet. Ihm gelang es, bildliche Darstellungen zum Sprechen zu bringen und ihre Bedeutung für die Repräsentation der Kaiser zu verdeutlichen. In dieser Tradition bewegt sich der Tübinger Althistoriker (und zeitweilige Assistent Alföldis) Frank Kolb mit seinem hier anzuzeigenden Buch. Darin führt er die verstreuten, von verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vorangetriebenen Forschungen zur spätantiken Herrscherideologie zusammen, die er durch eigene Beiträge wesentlich beeinflußt hat. ...
Die Allgegenwärtigkeit des Begriffs der Menschenrechte in politischen Kontexten kann leicht übersehen lassen, dass der rechtsphilosophische, rechtstheoretische und praktische Streit um die genaue Bestimmung, Begründung und Kodifizierung dieser »Rechte« alles andere als beigelegt ist. Der notorische Dissens zwischen Philosophen und Juristinnen und sogar Theologen steht in einem seltsamen Missverhältnis zur Selbstverständlichkeit, mit der politische Akteure die Notwendigkeit dieser oder jener außenpolitischen Handlung durch Bezug auf die Menschenrechte rechtfertigen. ...
Der Wandel von Perspektiven, Deutungen, Methoden und Themen bestimmt den wissenschaftlichen Fortschritt. Deshalb zerbricht die Vorstellung sicheren Wissens über die Generationen hinweg, so dass sich die Vergangenheit in den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in immer neuen Methodenwenden verändert. Der moderne Mut, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktiv in die Subjektivität ihrer Perspektivierungen einzubauen, bringt die steuernde Macht des Erkenntnisinteresses und seiner Veränderungen vermehrt zur Geltung. Dabei geraten selbst traditionelle Kontrollinstanzen der historisch-kritischen Hermeneutik in die Debatte. Während heute die einen das Vetorecht der Quellen beschwören, stellen andere die beständig verformende Kraft des Gedächtnisses und damit die Relativität punktueller schriftlicher Fixierungen heraus. ...
Historische Forschung ist Quellenforschung. Historische Wahrheit steht und fällt mit historischen Quellen. Dann und wann darf sie sich auf Hypothesen stützen. – Diese ehernen Gesetze befolgt der britische Romanist Ernest Metzger (M.) in seinem neuen Buch über den klassisch-römischen Zivilprozess. Es ist einem Gegenstand gewidmet, der desto mehr auf Quellen angewiesen zu sein scheint, je weniger diese vorhanden sind. Selbst die vorhandenen aber geben ihre Wahrheit nicht ohne weiteres preis: "Those who are new to the subject will be surprised at how little we know, and how much effort it takes to extract the truth from the sources" (1). Zuweilen können sogar alle Mühen umsonst sein. Denn am Ende entscheidet allein die Evidenz, nicht die Intelligenz. "Intellectual fashions have their effect, but in the end it is new evidence that eventually sends procedure textbooks to the elephant graveyard one finds in older libraries" (ibid.). Solche Gefahr besteht für dieses Buch nicht: Es ist die Evidenz, die für und durch Metzger spricht. Wovon spricht sie? ...
Geschriebene Worte haben ihre eigene Geschichte. Einmal geschrieben, nehmen sie Abschied von ihrem Autor und treten eine lange Reise durch Zeit und Raum an, wie Schiffe ohne Besatzung segeln sie in einem unendlichen Meer von Lesern: eine leichte Beute in einem gefährlichen Meer. Kluge Leser entern sie gleich, ziehen ihre eigene Flagge auf und segeln fortan in alle Himmelsrichtungen. Manchmal entsteht an Bord Streit: sei es über die Richtung, sei es über das Kommando. Manchmal werden sie von anderen Lesern bedroht. ...
Das klassische Athen glänzte bereits in den Augen der Römer mit vielem, doch nicht mit seinem Recht. Die Athener übten sich in der Redekunst statt im Recht; statt Juristen hatten sie Redner und Redenschreiber. Für moderne Augen ein scheinbar diffiziler Fall: Wie, und warum auch, lässt sich hier Recht von anderen gesellschaftlichen Normen unterscheiden, wenn es keine Rechtskundigen gibt oder eher: wenn alle Bürger rechtskundig sind? Was heißt dann überhaupt Recht? ...
In der Alten Geschichte originell zu sein, fällt heute schwer, schwerer vielleicht denn je. Doch manchmal gelingt dies auf sonderbarem, abenteuerlichem Wege. Callie Williamson ist es mit dem Buch "The Laws of the Roman People" gelungen: ein Buch, das staunen lässt, ob es die Alte Geschichte je zuvor gab. Dass es sie längst gibt, ist zwar bekannt und durch das Literaturverzeichnis des Buches schnell bewiesen, nicht aber durch dessen Inhalt. Gerade in diesem Widerspruch, in der merkwürdigen Nonchalance, wenn nicht Ignoranz, gegenüber Stand und Bestand der althistorischen Forschung liegt Williamsons originelle Leistung. Eine "klassische" Buchbesprechung würde deshalb einem Repetitorium in 100 Jahre Classics nahe kommen. Statt Kritik am Buch mögen daher als Prophylaxe vor dem Buch einige Proben genügen, und im Übrigen sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen. ...
Dass das römische Recht eine eigene Geschichte hat, leuchtete ein, als es seine Geltung in Europa einzubüßen begann. Heute scheint es, zumindest in den Lehrplänen, allmählich auch seine "Geschichte" zu verlieren. Vielleicht ist dies die richtige Zeit, um sich der Geschichte des römischen Rechts anzunehmen. Daran glaubt jedenfalls Aldo Schiavone, der im Verlust die Chance sieht, ein altes Erbe, das uns nicht mehr gehöre, historisch zu observieren (18) – was er in seinem neuen Werk unternimmt. Es ist fast sein Gesamtwerk. Damit will Schiavone jahrzehntelange Forschungen über das römische Recht abschließen. Dennoch verspricht er, dabei "substantielle" Änderungen vorgenommen zu haben, nichts habe er so gelassen, wie es vorher gewesen sei. ...
Durch diese Studie beabsichtigt Vanda Fiorillo, die deutsche Naturrechtslehre der frühen Neuzeit auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen, um damit ein Modell zu identifizieren, das uns auch dabei helfen kann, unsere Gegenwart, d. h. den historischen Zustand der polyarchischen Demokratien, zu verstehen und zu beherrschen. Das erwünschte allgemeine Prinzip findet die Verfasserin in der Theorie des Pflichtenstaats, die sich dadurch auszeichne, dass sie in der Konstruktion des Gemeinwesens nicht vom Recht des Einzelnen, sondern von dessen Pflichten ausgehe, und so ein besonderes Modell (7), einen "sittlichen und vernunftmäßigen Archetyp in der deutschen Auffassung von der Politik" (8) darstelle. Am eindeutigsten lasse sich die Idee des Pflichtenstaats bei den Autoren der Kant-Zeit rekonstruieren, deren theoretische Voraussetzungen auf Wolff und Pufendorf zurückgingen. Die Idee der Pflicht sei bei allen Autoren des späten 18. Jahrhunderts so grundlegend, dass auch Schriftsteller aus entgegengesetzten Lagern wie der preußische Liberale Johann Adam Bergk und der radikale Demokrat Ernst Ferdinand Klein gleichermaßen berücksichtigt werden können. ...
Zwei glücklich zusammenwirkende Merkmale verleihen dem Buch Jan Rolins ein klares Profil. Einerseits beruht seine Rekonstruktion auf einer breiten Basis von Quellen und bietet eine Fülle von Einzelheiten; andererseits werden die Materien, die fast alle Hauptströmungen und Vertreter der deutschen gelehrten Diskussion im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert umfassen, immer durch klare und distinktive Thesen geordnet, so dass das Buch eine deutliche und erkennbare Kontur erhält. Die Absicht des Autors ist nämlich, die politischen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts auf wenige und klar umrissene Argumentationsmuster zurückzuführen, die dann an zwei Maßstäben gemessen und beurteilt werden: einerseits nach ihrer Leistung für die Legitimation der politischen Gewalt, andererseits, und im entgegengesetzten Sinn, nach ihrem Beitrag zur Gestaltung des modernen Rechtsstaats, denn die politischen Lehren haben die moderne Staatlichkeit zugleich theoretisch begründet und praktisch beschränkt. Aus dem Zusammenwirken von Stabilisierung der politischen Herrschaft und deren Begrenzung (auch) durch die gelehrte Diskussion ist der moderne Rechtsstaat entstanden. ...
Politiker-Biographien gelten zwar kaum als ein klassisches rechtshistorisches Genre, das umfassende Werk des Historikers Wolfram Siemann über den österreichischen Staatsmann Clemens Fürst von Metternich besitzt jedoch auch für die Rechtsgeschichte einigen Wert. Denn Metternich wurde nicht nur, wie das Kapitel über seine Studienzeit in Straßburg und Mainz darlegt, von profilierten Juristen und Historikern ausgebildet und geprägt. Vielmehr handelte es sich bei "Recht" neben "Nationalität" und "Gesellschaft" um einen Schlüsselbegriff der Politik Metternichs, wie Siemann bereits in der Einleitung feststellt (23). Die Biographie lässt folglich Zugänge zu rechtshistorisch relevanten Problemstellungen und Prozessen erhoffen. ...
Spätestens seit dem Jahrtausendwechsel ist auch in der Mediävistik das Genre der selbstreflexiven Gelehrtenbiographie – allem zeitweiligen Abgesang auf historische Biographien zum Trotz – angekommen, wenngleich hierzu eingeschränkt werden muss, dass Leben und Werk ausgesuchter Exponenten der Mittelalterforschung bisher vornehmlich in Qualifikationsschriften junger Historiker, die zudem oftmals ausweislich ihrer universitären Ausbildung schwerpunktmäßig in der Neuzeit, weniger in der mittelalterlichen Geschichte verhaftet sind, Gegenstand der Erkenntnis sind. Zusammenführende Synthesen, aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten selbst (die über die "üblichen" Rezensionen hinausreichen) müssen dagegen als Desiderat angesehen werden. ...
Es ist nicht zu übersehen, dass spätestens seit der Jahrtausendwende in den Geisteswissenschaften ein gesteigertes Bedürfnis nach einer Historisierung der eigenen Zunft existiert, bei der es nicht um die eher pflichtschuldige Übung eines einleitenden Forschungsstandes geht, von dem aus die eigene Arbeit vorangetrieben wird, sondern die die Wissensbestände des Fachs selbst zum Thema hat. Auch die Rechtsgeschichte reiht sich hier ein in einen allgemeinen Trend zu (geisteswissenschaftlicher) Wissenschaftsgeschichte und vielleicht ist es nicht verfehlt, mit Ernst-Wolfgang Böckenförde und seiner 1961 erschienenen (philosophischen) Dissertation einen gleichermaßen frühen wie wirkmächtigen rechtsgeschichtlichen Innovator zu identifizieren. ...
Verstanden die europäischen Invasoren und die Angehörigen indigener Völker in Amerika sich eigentlich, wenn sie Verträge schlossen, über Rechte verhandelten, vor Gericht miteinander stritten? Fanden sie einen middle ground oder agierten sie nach dem Prinzip des code switching? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des von den US-amerikanischen Rechtshistorikern Brian P. Owensby und Richard J. Ross herausgegebenen Bandes Justice in a New World. Negotiating Legal Intelligibility in British, Iberian, and Indigenous America. Sieben Fallstudien rekonstruieren Momente der rechtlichen Interaktion zwischen Angehörigen indigener Gemeinschaften und Euro-Amerikanern in Anglo- und Iberoamerika zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert. Sie werden gerahmt von einleitenden Überlegungen der beiden Herausgeber zur Möglichkeit des Vergleichs zwischen britischen und iberischen Rechtsräumen sowie zwei zusammenfassenden Beobachtungen. ...
Wenige Wochen nach dem vergleichsbedingten Fehltritt der Bundesjustizministerin hat sich der Hessische Ministerpräsident, ein mutmaßlicher "kommender Mann" der deutschen Politik, nicht enthalten und erneut historische Parallelen ins politische Spiel gebracht. In diesem Falle ging es nicht um Bush und Hitler, sondern um laufende Vermögenssteuerdebatten und ein geschmacklos-primitives Outing reicher Leute einerseits und andererseits um die Stigmatisierung jüdischer Menschen durch den sogenannten Judenstern. Erneut wogte die Empörung der intellektuell-medialen Teilöffentlichkeit angesichts des "Unvergleichbaren" hoch – eine Dublette an der Grenze zur Groteske, mit dem für unseren Kontext freilich nicht so wichtigen Unterschied, dass Däubler-Gmelin ging und Koch – wie auch anders – blieb. ...
Im Jahre 2002 hat die Thüringer Landesregierung, damals noch von Bernhard Vogel geführt, die Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung ins Leben gerufen. Die Stiftung selbst führt dies auf einen Impuls zurück, den der Buchenwaldhäftling Jorge Semprún anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1994 gegeben habe.1 Die Verleihung erfolgte in Weimar, unweit des Ettersbergs mit seiner doppelten Lagertradition (KZ Buchenwald und Sowjetisches Speziallager Nr. 2). Die Stiftung ist der "vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert und ihrer demokratischen Transformation gewidmet". Die Erwartungen richten sich in besonderem Maße auf "prospektive Geschichtsforschung, die nicht nur Erinnerungsarbeit leistet, sondern darüber hinaus die nachfolgenden Generationen für die latenten Gefährdungen von Freiheit und Demokratie sensibilisiert". In diesem Sinne fühlt sich die Stiftung auch für die "kritische Analyse von Gegenwartsentwicklungen" zuständig. Sie wird von HansJoachim Veen geleitet, über viele Jahre ein führender Kopf des Forschungsinstituts der KonradAdenauer-Stiftung. Mit der Stiftung Ettersberg ist eine weitere zeithistorische Forschungseinrichtung ins Leben gerufen worden, die sich neben den bestehenden Spezialorganisationen in Dresden, München und Potsdam platzieren muss. Besonders in Hinblick auf das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine blanke Funktionsdublette handeln könnte. Natürlich ist eine solche wunderbare Kapazitätsvermehrung nach dem Modus der segmentären Differenzierung alles andere als unproblematisch und es mag allein der Glaube Trost spenden, dass Konkurrenz doch das Geschäft belebt. Jedenfalls wird man genau hinsehen müssen, ob die wissenschaftliche Praxis der kommenden Jahre das Engagement der öffentlichen Hände wirklich rechtfertigen kann. ...
Michael Kittner ist kein professioneller Rechtshistoriker. Er hat an der Universität Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht gelehrt, vor allem aber war er über ein Vierteljahrhundert hinweg der Syndikus der Industriegewerkschaft Metall und somit der womöglich wichtigste juristische Kopf des Deutschen Gewerkschaftsbundes. In seine Amtszeit fiel die bis jetzt und, wie man mit Blick auf das heutige Deutschland meinen kann, für lange letzte hohe Konjunktur des Arbeitskampfes – mit spektakulären Streiks und Aussperrungen, die in den späten 70er, besonders aber in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Öffentlichkeit in Atem hielten. Der Jurist Bernd Rüthers, als prominenter Schlichter ("Leber-Rüthers-Kompromiss" von 1984) einer der bedeutenden Akteure jener Zeit, sprach im Zusammenhang mit der Expansion des industriellen Konfliktsystems von einem "Wirtschaftsbürgerkrieg" und traf mit dieser Übertreibung ganz gut die Stimmungslage in der Endzeit des rheinischen Kapitalismus. Heute ist das Regime des nationalstaatlich modulierten Fordismus erodiert, und mit ihm sind die Chancen dahingeschwunden, in den Arbeitsbeziehungen am großen Rad zu drehen. Die Berliner Republik ist nicht der Ort der arbeitspolitischen Emphase. Die Wasser der postnationalen Konstellation, die den Gewerkschaften, ihren Mitgliedern, aber auch so manchem Arbeitgeber heute wahrlich bis zum Halse reichen, legen anderes nahe als den Furor, der die alte – im Grunde genommen so überaus wirtschaftsfriedliche – Bonner Republik zu später Stunde noch einmal ergriffen hatte. ...
Aus der Sicht der deutschen Innenpolitik ist heute kaum eine andere inter-nationale Relation so brisant wie das Verhältnis zwischen Türken und Deutschen. Nicht erst seit Sarrazins Buch wird die Herausbildung und strukturelle Verfestigung einer neuen Kategorie des "Inländers", der Kategorie des "Deutschtürken", mit großem Argwohn betrachtet. Aber Sarrazin hat diesen Argwohn angeheizt, indem er das Thema in einer Weise angesprochen hat, die den Maximen der obwaltenden Medien- und Jetzt-rede-ich-Gesellschaft entspricht. Seither wird so laut auf "Klärung" gedrungen, dass selbst auf Verdrängung programmierte Ohren den Ruf nicht überhören können. Die Politik reagiert, will Gutes bewirken oder wenigstens die Scherben zusammenkehren und ruft sich selbst zur "integrationspolitischen" Ordnung. Man kündigt eine neue Offensive an, die sich reibungslos in das Netz der zahllosen Offensiven einfügt, die auf allen möglichen Feldern in unserer Offensivenzeit unternommen wurden und noch kommen werden. Dass die integrationspolitischen Blaupausen, die da entstehen sollen, eigentlich gar nicht von Integration im strikten Sinne, sondern von Assimilation handeln, spielt keine Rolle. Falsa demonstratio non nocet. Unterscheidungen stören nur, und "Multi-Kulti" ist tot, wie jeder weiß oder wissen müsste. ...
"Sozialwissenschaftlich aufschlussreich sind für mich nicht Zustände, sondern Verläufe – oder Zustände nur im Zusammenhang von Verläufen. Theorien, die Strukturen oder Ereignisse als freistehende Unikate in einem feststehenden Ereignis- und Möglichkeitsraum behandeln, können fundamental in die Irre führen. Alles Soziale spielt sich in der Zeit ab, entfaltet sich mit der Zeit und wird in und mit ihr sich selber ähnlicher. Was wir heute sehen, können wir nur verstehen, wenn wir wissen, wie es gestern ausgesehen hat und auf welchem Weg es sich befindet. Alles, was vorfindlich ist, ist immer auf einem Entwicklungspfad unterwegs. Auf diesen kommt es entscheidend an." ...
Andreas Fahrmeirs These lautet, dass die Entwicklung der modernen Form der Staatsbürgerschaft "von einer spezifischen Erfahrung zwischenstaatlichen Wettbewerbs vorangetrieben wurde" (231). Dass alle oder fast alle erwachsenen Männer nach den Prinzipien der Aufklärung und des Liberalismus Rechte besaßen oder wenigstens fähig waren, zur politischen Mündigkeit erzogen zu werden, hat sicherlich auch zur Erweiterung der Rechte und der Zahl der Staatsbürger in vielfältiger Weise beigetragen. Nach Fahrmeir waren aber "Blut und Eisen" wichtiger für die Entwicklung von Staatsbürgerrechten als der Einfluss Lockes und Kants. Krieg oder die Vorbereitung auf einen Krieg haben Staaten angetrieben, eine "homogene, gesunde und produktive Bevölkerung" zu schaffen, um Stabilität und ökonomische Effizienz herzustellen (230). Und hauptsächlich deshalb wurden weitere zivile, politische und soziale Rechte breiteren Gruppen von Einwohnern gewährt und Grenzen zwischen Staatsbürgern und Ausländern schärfer gezogen. Dieser Hypothese folgend, kommt Fahrmeir zum Schluss, dass, da westliche Regierungen seit den 1970er Jahren zunehmend auf die Wehrpflicht verzichten und sich vielmehr auf den wirtschaftlichen Erfolg im Kontext einer globalisierten Ökonomie konzentrieren, sie sich fortan auch weniger um die Opferbereitschaft und um die Rechte ihrer Einwohner kümmern. Deren ökonomische Nutzbarkeit steht im Vordergrund (231 f.). ...
Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben ihr Spektrum in der jüngeren Vergangenheit um globale Perspektiven erweitert. Auch für das Feld der Intellectual History liegt nun ein Sammelband von Samuel Moyn und Andrew Sartori vor, der die Frage des Globalen diskutiert und dabei viele Beobachtungen enthält, die über das Feld der Ideen- und Geistesgeschichte hinaus Beachtung verdienen. Von rechtshistorischem Interesse sind vor allem die Abschnitte zur Konzeption des Globalen und zur Übersetzung und Verankerung globaler normativer Muster. ...
In der gegenwärtigen Forschung zu Recht und Kolonialismus zeigt sich ein interessanter Gegensatz: Während das Recht vor allem als ein Instrument kolonialer Machtausübung verstanden wird, erscheinen Juristen, die nach einer Ausbildung an europäischen oder amerikanischen Universitäten in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, als zentrale Akteure lokaler Unabhängigkeitsbewegungen, aus denen heraus neue Nationalstaaten entstanden. Dieser Gegensatz wird beispielhaft illustriert durch aktuelle Arbeiten von Turan Kayaoglu zum Legal Imperialism sowie Arnulf Becker-Lorca und seine Figur des Semi-Peripheral Jurist. Das Buch Asian Legal Revivals – Lawyers in the Shadow of Empire erschien 2010 und geht daher nicht direkt auf diese Arbeiten ein, dennoch ist es ein Beitrag dazu, beide Beobachtungen miteinander zu verbinden. Die Rechtssoziologen Yves Dezalay und Bryant G. Garth, die gemeinsam bereits sechs Bücher verfasst oder herausgegeben haben, untersuchen die Rolle von Juristen in der Herausbildung und Legitimation politischer Herrschaft in sieben asiatischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert. ...
Humanitarismus und humanitäre Intervention müssen sich gleichermaßen die Frage nach Motivation und Rechtfertigung gefallen lassen. Sind Motive einer Intervention hinreichend humanitär, um von einer humanitären Intervention zu sprechen? Und im Rahmen welcher normativen Muster erscheinen sie als legitim? Zwei neue Bücher nähern sich dem Themenkomplex auf unterschiedliche Weise. ...
In China war das europäische Völkerrecht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend unbekannt. Abgesehen von einzelnen Verträgen aus dem 17. und 18. Jahrhundert gab es weder Vertragspraxis noch Völkerrechtswissenschaft. Dies änderte sich erst durch Chinas Kriege mit westlichen Mächten. Die »Barbaren« nutzten ihre militärische Überlegenheit gegenüber China, um durch erzwungene völkerrechtliche Friedensverträge Handelsinteressen zu verwirklichen und halbkoloniale Strukturen zu etablieren. Diese Friedensübereinkommen wurden und werden, als "ungleiche Verträge" überschrieben, vielfach in der wissenschaftlichen Literatur besprochen. ...
Das Recht nimmt keine zentrale Stellung ein in diesem Band zu "Asian Perspectives on the Paris Peace Conference and the Interwar Order, 1919–33", dies sei gleich zu Beginn dieser Rezension in einer rechtshistorischen Fachzeitschrift angemerkt. Was dieser Band allerdings bietet, sind äußerst vielschichtige und differenzierende Perspektiven auf einen Gegenstand, der in der Rechtsgeschichte bislang nicht nur, aber vor allem auf seine Bedeutung im europäischen Kontext hin erforscht wurde. ...
Jed Kronckes The Futility of Law and Development – China and the Dangers of Exporting American Law ist ein Buch über das rechtliche Sendungsbewusstsein der Vereinigten Staaten vom neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Jürgen Osterhammel verwendete den Begriff des Sendungsbewusstseins, um den Kern der Zivilisierungsmissionen in dieser Zeit zu beschreiben. Der bestehe in der "Selbstbeauftragung damit, die eigenen Normen und Institutionen an andere heranzutragen oder gar ihre Übernahme mit mehr oder weniger sanftem Druck zu erzwingen". ...
Das griechische Recht ist, so stellt der Verfasser dieser Passauer juristischen Dissertation zu Recht fest, nicht hinreichend erforscht worden. Althistoriker behandeln es nebenher mit, typischerweise ohne juristische Expertise; Spezialisten für antike Rechtsgeschichte wenden sich zumeist anderen Rechtskulturen zu. Zeitler will in diese Lücke vorstoßen, mit einem Schwerpunkt auf dem Prozess des Sokrates – nun gerade einer der meistdiskutierten Fälle griechischen Rechts. Doch sind diesem gerade knapp 30 Seiten von etwas mehr als 200 gewidmet. ...
Radikalisierung als individuelles und gesellschaftliches Phänomen Extreme politische Ansichten haben Konjunktur. Auf beiden Seiten des politischen Spektrums, aber auch in religiösen Milieus radikalisieren sich Positionen und stellen demokratische Werte und Institutionen infrage. Mit diesen Phänomenen hat sich das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt "Gesellschaft Extrem. Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland" befasst. ...
Rezension inside islam
(2017)
Academics, brace yourself
(2014)
Stéphane Dufoix schreibt im Vorwort, das vorliegende Buch (das in etwas kürzerer Fassung 2003 auf französisch in der Reihe "Que sais je" erschien) habe "a somewhat schizophrenic character". Es handele von "Diaspora", sei aber von einem Autor verfasst, der an die Nützlichkeit von Diaspora als Forschungsbegriff nicht glaube. Nach der Lektüre von rund 100 Seiten luzidem und konzisem Text weiß man garantiert etwas über Diaspora, was man vorher nicht gewusst hat, und man wird vermutlich die Skepsis des Autors im doppelten Sinne teilen: gegenüber der Nützlichkeit des Begriffs als analytischem Instrument, und gegenüber der Annahme, dass der Begriff bald durch andere ersetzt werden wird. ...
Hans von Hentig war ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte. Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Rechtsanwalts Otto Hentig geboren. Dieser hatte zunächst in Berlin praktiziert, bevor er als Spezialist für Wirtschaftsrecht 1893 zum Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg und 1900 zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha wurde; letzteres Amt brachte der Familie die Nobilitierung ein. ...
In der Forschung zum 18. und 19. Jahrhundert gelten Vereine - zumal in Deutschland - meist immer noch als zentrale Bereiche einer im Prinzip liberalen und zukunftweisenden "Zivilgesellschaft", in der frei von repressivem staatlichem Einfluss und fern von überlebten korporativen Traditionen politische Aushandlungsprozesse im Rahmen einer liberalen Bürgergesellschaft erprobt werden konnten. Das Bild hat freilich einige Risse bekommen [1], die aber bislang eher als ehrwürdige Patina zu fungieren scheinen denn als Anzeichen für grundlegenden Restaurierungsbedarf. Die Arbeit von Stefanie Harrecker lenkt den Blick nun auf eine andere Art Verein, der in vielem wirkungsmächtiger war als die intensiv untersuchten stadtzentrierten liberalen Assoziationen. Der Landwirtschaftliche Verein in Bayern, der 1810 seine Tätigkeit aufnahm, war zwar formal ein privater Verein, wies aber von Anfang an enge personelle und finanzielle Beziehungen zum Staat auf, die sich im Laufe der Zeit eher intensivierten als abschwächten. Ziel des Vereins war einerseits die Produktionssteigerung der Landwirtschaft, etwa durch die Popularisierung neuer Anbaumethoden; andererseits verstand sich der Verein auch als Lobby der Landwirtschaft gegenüber der Regierung, und zwar sowohl im Parlament als auch im öffentlichen Raum, in dem er mit unterschiedlichen Publikationen präsent war. Der Verein hatte regionale Zweigstellen, engagierte sich im Bereich der landwirtschaftlichen Ausbildung, und richtete Feste und Feierlichkeiten aus (darunter das Oktoberfest), in deren Rahmen beispielsweise Vieh gezeigt und prämiert wurde. Angesichts der spannungsreichen Beziehungen zwischen Regierung und Parlament, Staat und Öffentlichkeit im Bayern des 19. Jahrhunderts war klar, dass auch der Landwirtschaftliche Verein keinen ganz stabilen Platz in der informellen Landesverfassung haben konnte. Anfang des 19. Jahrhunderts dominierte die Autonomie, die moderate oppositionelle Tendenzen (die freilich zum guten Teil aus der Verwaltung kamen) einschließen konnte. Das galt vor allem im Rahmen der Diskussion über die Abschaffung des 'Feudalsystems', also die Veränderung der Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse in ländlichen Regionen. Nach intensiver Verwicklung in die politischen Intrigen der frühen 1830er Jahre geriet der Verein, der damals unter Mitgliederschwund litt, unter stärkere staatliche Aufsicht. Diese trug mit dazu bei, dass der Verein 1848/49 die Chance verpasste, zum Sprachrohr der Veränderung zu werden; stattdessen fügte er sich in das Programm der Stärkung eines partikularen Profils Bayerns, das Maximilian II. verfolgte. Selbst Ludwig II. interessierte sich noch hinreichend für den Verein und seine öffentliche Wirkung, so dass er sich für eine Präsentation von preisgekrönten Tieren vor allen Festbesuchern, nicht nur vor den Fachleuten, einsetzte. Die Reichsgründung von 1870 bedeutete zwar nicht das Ende des Landwirtschaftlichen Vereins, wohl aber das seiner herausragenden Bedeutung; die Integration in ein deutsches Netzwerk landwirtschaftlicher Vereine endete mit weitgehendem Relevanzverlust. Die Frage, ob der Verein seinen selbst gesteckten hohen Zielen gerecht wurde, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die Publikationen, die populär waren, waren selten die innovativsten. Überhaupt gab es immer wieder Gelegenheit, über Sinn und Aufgaben des Vereins zu streiten, etwa wenn es darum ging, die Rolle von Festen und Fachmessen abzuwägen. Manche spektakuläre Aktionen (so der Plan, Seidenraupen in Bayern anzusiedeln) gehörten in ihrer praktischen Wirkung nicht gerade zu den Sternstunden der Agrarökonomie. Dagegen spielte der Verein eine erhebliche Rolle bei der Etablierung landwirtschaftlicher Forschungs- und Lehreinrichtungen und bei der Mobilisierung staatlicher Zuschüsse für solche Zwecke. Er engagierte sich für die Belange der bäuerlichen Bevölkerung und bemühte sich - trotz einer erkennbaren München-Fixierung - um eine flächendeckende Versorgung des Landes mit Bibliotheken und lokalen Vereinen. Stefanie Harreckers Buch liefert einen mustergültig recherchierten, abgewogenen Einblick in das Leben eines nicht ganz dem konventionellen Bild entsprechenden Vereins, der zwischen privatem Klub, wissenschaftlicher Gesellschaft und Lobby angesiedelt war. Dabei kommen sowohl die kleinen Vereinsquerelen zur Sprache als auch die Rolle des Vereins im Kontext der landwirtschaftlichen Entwicklung - insofern handelt es sich bei diesem sehr lesenswerten Buch um einen herausragenden Beitrag zur Vernetzung der allgemeinen mit der viel zu stark vernachlässigten Agrargeschichte. Anmerkung: [1] Etwa durch Eckhart Trox: Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und "Militärpartei" in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger