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Der Tagungsvortrag von Herrn Pilch, und noch mehr dessen Ausarbeitung in diesem Band, weist im Verhältnis zu seinem Buch eine klarere Ausrichtung auf die rechtshistorische Problematik auf. Die doppelte Fragestellung gegenüber dem modernen Normbegriff und der mittelalterlichen Rechtsgewohnheit wurde zu Gunsten einer Konzentration auf die letztere reduziert. So steht die Thematik jetzt viel deutlicher vor uns. Ich kann mich deshalb darauf beschränken, einige grundsätzliche Probleme noch einmal aus meiner Sicht anzusprechen und schärfer zu beleuchten. ...
Während des Kalten Kriegs, in den späten fünfziger Jahren, gab es DDR-Kampagnen gegen die "Blutrichter" des NS-Staates, die in der Bundesrepublik wieder in ihre Ämter als Richter und Staatsanwälte gelangt waren. Bald folgten auch in Westdeutschland Ausstellungen, Vorlesungsreihen und eine unübersehbare Zahl von Publikationen, in denen nicht nur die personellen Kontinuitäten skandalisiert, sondern auch weiterwirkende Denkmuster der Rechtsprechung selbst behauptet wurden. Die sowjetische Besatzungszone, die nach 1945 alle bürgerlichen Richter, von denen etwa 80% NSDAP-Mitglieder gewesen waren, entlassen hatte, gab sich vor diesem Hintergrund selbstzufrieden als "antifaschistischer" Staat. Die NSDAP-Mitgliedschaft zahlreicher eigener Kader hielt sie verborgen. ...
Vom "Staat der Mitte" zum "Reich der Mitte" scheint es nicht weit zu sein. Aber so, dass die Bewohner des "Staates der Mitte" sich als Zentrum der Welt und die am Rande wohnenden Völkerschaften als Barbaren betrachten, möchte der Osnabrücker Staatsrechtler seine Verfassungsgeschichte nicht verstanden wissen. Deutschland ist ihm vielmehr die geographische und historisch-politische Mitte zwischen Ostund West-, Nord- und Südeuropa, aber auch das Gemeinwesen "mittlerer" konsensorientierter Lösungen zwischen Etatismus und Civil Society, und als föderativer Staat ein Gebilde in der Mitte zwischen Einheitsstaat und Staatenbund. ...
Einführung
(2010)
Das Zustandekommen der hier vorgelegten Beiträge zum Thema "Rechtsgewohnheiten" bedarf einer kurzen Erläuterung. Von dem Buch Martin Pilchs, dessen – nun hier ausgearbeitet vorliegender – Vortrag die ebenfalls in überarbeiteter Form wiedergegebene Diskussion einleitete, ging ein unerwarteter und ungewöhnlicher Anstoß für die Zunft der Rechtshistoriker und Historiker aus. Ein österreichischer Ministerialbeamter mit rechtstheoretischer Schulung, der aber auch Physiker und Mathematiker ist, wendet sich einer normtheoretischen Studie zu. In ihr spielt die mittelalterliche ungelehrte, weitgehend orale Rechtstradition als Forschungsfeld eine wichtige Rolle als Gegenbild zu einem einseitigen modernen Normverständnis. Innerhalb dieser Diskussion setzt sich Pilch intensiv, und von der Seite der Theorie kommend kritisch, mit einer rechtshistorischen Diskussion der letzten Jahrzehnte um den Begriff der Rechtsgewohnheit auseinander; er bezieht aber auch neue Erklärungsmodelle der Mittelalterhistoriker zu den Formen ritueller Konfliktbeilegung in der politischen Führungsschicht von Adel und Königtum (Gerd Althoff), sowie Erklärungsversuche vom Konzept der Ordnungskonfigurationen her (Stefan Weinfurter, Bernd Schneidmüller) in seine Überlegungen mit ein. ...
Diese Bemerkungen entspringen einem Diskussionsbeitrag in der lebendigen Januar-Runde. Naturgemäß fehlen etliche Kontexte. Ein Wort auch hier sei trotzdem gewagt, da im Ganzen sonst doch manches beiseite bliebe. Im Hinblick auf hier die gebotene Kürze bitte ich um Verständnis für einige Hinweise auf frühere Ausführungen. ...
Ob eine Suche nach Rechtsbegriffen des Mittelalters förderlich sei, erscheine – so Harald Siems – zweifelhaft. Theoretische Reflexionen über Recht habe man im Frühen Mittelalter kaum angestellt. Jedenfalls nicht in der Intensität, dass sie sich zum Begriff verdichtet hätten. Die Frage nach dem Rechtsbegriff sei auch deshalb fehl am Platze, weil im Frühmittelalter so etwas zur Lösung von Rechtsfragen nichts hätte beitragen können. Warum sollte jemand auf die Idee kommen, "quasi auf Vorrat" Rechtsbegriffe zu entwickeln? Schon wenn es um konkrete Rechtsfragen wie beispielsweise die Behandlung von Diebstahl oder Raub geht, fehle es "noch lange an Begriff und System". Diese knappe Feststellung bringt Siems’ Ausführungen für einen kurzen Moment in die Nähe von Überlegungen, die Pilch anstellt und die auf dieser Tagung zu verfolgen sind. Aber wirklich nur für einen Augenblick blitzt das auf: Siems sagt, Rechtsbegriffe seien eine schwierige, abstrakte Kategorie, für die heute die Vertreter der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie zuständig seien. ...
Das materialreiche Buch ist im Verlag "Europa Law Publishing" erschienen, der sich auf Publikationen zum "European Union Law" spezialisiert hat. Damit ist schon eine Programmatik angezeigt, die die Dissertation aus der Schule von W. J. Zwalve aus Leiden verfolgt. Van den Berg (vdB) hat sich zum Ziel gesetzt, die europäische Kodifikationsgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in den Dienst aktueller Europa-Politik zu stellen. Rechtsgeschichte soll für die Gestaltung des europäischen Gemeinschaftsrechts nutzbar gemacht werden, ihre Dialogfähigkeit beweisen und Legitimationskraft für Europa und seine Einigung entfalten. Das ist ein ehrgeiziges und sympathisches Unterfangen, das Macht und Ohnmacht von Rechtsgeschichte am Beispiel europäischer Gesetzgebungsgeschichte zu beleuchten vermag. ...
Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte bezog und bezieht ihren Erkenntniswert einerseits aus der Überwindung der Enge einer nationalstaatlichen Betrachtung. Daraus ist andererseits oft eine neue Beschränkung erwachsen, die aus der Globalisierung unserer Welt herrührt und von kosmopolitischem Geist – jenseits aller arbeitsökonomischen Bedingungen – als Europazentrismus kritisiert wird. So kann das ehemals Progressive wieder zu einer neuen Form von Rückständigkeit mutieren. Heute müssen wir sagen: "Europa lässt sich ohne Außereuropa gar nicht denken." ...