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Der Anarchismus stellt eine Form des Gefühls der Grenzenlosigkeit dar. Ob der politische Anarchismus auf dieser affektiven Basis entsteht oder einen anderen Ursprung hat, sei zunächst dahingestellt. Wie ist es aber möglich, dass sich dieses Gefühl immer wieder entwickelt, ohne sein Ziel - die Grenzenlosigkeit - je erreichen zu können? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich an der Wurzel dieses Gefühls ansetzen. Oft gründet das Gefühl überbordender Freiheit im Gefühl des Behütetseins bzw. des Schutzes, in dem man nur allmählich zum Wunsch der Überschreitung kommt, weil die Grenzen nicht fühlbar waren, innerhalb derer sich das Kind in seiner familiären Tätigkeitssphäre noch unbewusst bewegte. Gerade die Abwesenheit eines Kanons von Verhaltensregeln ermöglichte es dem Kind, den Fallen und Inklinationen transgenerationaler Verhaltensanweisungen gegenüber noch frei zu bleiben. In dieser Grenzferne des Kindes - sowie auch im Zustand der Resignation mancher Erwachsenen, die ihr Ziel nicht erreichen konnten und aufgeben mussten - kann das gedeihen, was jene "Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft" erahnen lässt, die Erich Mühsams sozialistischer Prägung als sittlicher Zustand und geistige Welt gegolten hatte. Gesetzesferne bedeutet aber noch keine intendierte Gesetzlosigkeit.
Aus der Gesetzesferne trifft das Kind vielmehr allmählich auf die Regularien, die diese Gesetzesferne durch soziale Entitäten ablösen wollen. Die Grenzferne des Kindes hatte aber bereits tiefergreifend seine Handlungsauffassung geprägt. Im Folgenden möchte ich die These entwickeln, nach der ein Element des Anarchismus eine schon früh ansetzende Gefühlsform ist.
"Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vernichtet werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. [...] Freiheit geht nur aus Anarchie hervor - das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden."
Ludwig Börne, 1825
Das Börne-Zitat ist ein frühes Zeugnis dafür, dass der Begriff Anarchie in einem affirmativen Sinn Verwendung findet. Noch viele Jahre wird es dauern, bis sich mit Pierre-Joseph Proudhon jemand selbst als Anarchist bezeichnet und die Anarchie als die anzustrebende bestmögliche Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewertet. Bis dahin wurde Anarchie fast ausnahmslos negativ gewertet als ein chaotischer Zustand, in dem Willkür und Gesetzlosigkeit bestimmend sind. Anarchie galt (und gilt) als extremer Widerpart von (bürgerlicher) Ordnung.
Vorwort
(2018)
Das Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte hat aus der Kritik an der französischen Menschenrechtserklärung gelernt, dass es Menschenrechte weder ohne System der Rechte und Pflichten des Bürgers noch ohne Verankerung in der einschlägigen Organisation der Staatsorgane geben kann, die gleichzeitig die Freiheit und die Einheit des Volkes sichern. Außerdem sieht die den Reichsgesetzen zugrunde liegende Auffassung keine Grundrechte ohne Verankerung im zu schützenden geistigen Leben des Volkes vor. Unter dem Einfluss der Rechts- und Staatsphilosophie J. G. Fichtes und Hegels wurden im Vormärz rechtsphilosophische Theorien entwickelt, die individuelle Menschenrechte nicht abstrakt, sondern nur in einem "System des Rechts" aufeinander bezogener Komponenten gelten lassen, das den Menschen grundsätzlich als gesellschaftliches Wesen betrachtet und dem eine organische und geistige Auffassung der Gesellschaft zugrunde liegt.
Das Wachsein ist kein Privileg, sondern ein besonderes Ergebnis förderlicher Umstände. Wir können die Figurationen solcher Privilegien, d. h. auch die Umstände, auf denen sie beruhen, nicht verlassen, ohne dass Elemente starker Dysfunktion den Frieden dieser Anordnung einmal gestört hätten. Im 19. Jahrhundert sind die Sinne nicht nur bezogen auf das, was sie wahrnehmen, sondern tangieren jenseits der Inhaltsschübe die Strukturen und Selbstverhältnisse derjenigen, die zu diesem Zeitpunkt das symbolische Medium der Sprache verwenden. Im Vormärz störte eine Krise des Autoritarismus die unbefangene Herrschaft; Metternich et al. wurden zu Chiffren dessen, was eine staatliche Ordnung nicht mehr reibungslos beförderte, sondern im Zuge revolutionierender Prozesse Fragen aufwarf: Nach Geltung, der Verlässlichkeit der eigenen Wahrnehmung, die bislang meist von autoritären Strukturen geleitet worden war, nach möglichen Eigenanteilen an dem, was die politische Struktur bisher hergegeben hatte. Strukturwandel trat als Wahrnehmungswandel in die Geschichte ein. Die Sinne und allgemein die Wahrnehmungsfähigkeit werden im Vormärz im Gesehenen herausgefordert. Wahrnehmung ist eine 'contested area', ein umkämpftes Gebiet, in dem sich alte und neue Wahrnehmungsformen überlagern und kreuzen. Gezeigt werden soll, dass Wahrnehmung, mit Erwin Straus, ästhesiologisch aufzufassen ist, d. h. dass im alltäglichen Vollzug des sinnlichen Erlebens unser Interesse beim Gegenstand, der Welt, dem Anderen ist, nicht nur beim bestätigenden Sehen des Gesehenen, sondern dem Gesehenen als Quelle möglicher Änderung. Es gibt immer die Möglichkeit der Bewegung, die Möglichkeit, sich zum Wahrgenommenen zu verhalten. In diesem Sinne sind die Bewegung und Bewegtheit des Vormärz ein politisches Phänomen: aus den sensuellen Erfahrungen folgt etwas. Die bewegte und bewegende Beziehung zum Wahrgenommenen begründet im Vormärz einen Anspruch auf Partizipation, der einem Wachwerden der Sinne gleichkommt.
Wahrnehmung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmt als "Organ unseres ursprünglichen Welt-Erlebens." Das ursprüngliche Welterleben war das des Flaneurs, der mit allen Sinnen Umwelt wahrnimmt, um sich zu situieren und aus dieser Verortung Sicherheit und Anderssein zu gewinnen; die Verortung war aber auch über die Individualebene hinaus von politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Bedeutung. Man greift nicht zu hoch, wenn der Vormärz als Zeitspanne betrachtet wird, in der eine vollere Realität in sehr spezifischer Weise greifbar wurde. Die Vielschichtigkeit der Vormärz-Welt war dabei eine konstanter Innovation, die eine Initiierung jener Selbstbilder bedeutete, die über das Wahrnehmen bestätigt wurden, das selbst ein anderes geworden war. Nicht mehr informierte Wahrnehmung über die tautologisch so genannten sozialen Tatsachen; sie schuf diese vielmehr um und damit neu - das Organ des Welterlebens wirkte hier auf die Welt ein und musste Erlebnisse nicht mehr erleiden. Die Erfahrung der Welt-Erlebnisse bestand auch darin, die Sinne als sinnenöffnend zu sehen, indem die theoretische Vorrangstellung des Informationsaspekts der Wahrnehmung zurücktrat und Indices von Engagement, Eingreifen und Emanzipation deutlich werden konnten. Dies bedeutete, eine Form des "Wirklichkeitskontakts" zu suchen, die bisher nicht bestanden hatte. War der Kontakt vorher so geschehen, dass die Sinne eine bestätigende Funktion den sozialen und politischen Valeurs gegenüber einnahmen, die bezogen auf Emanzipationsprozesse und deren Möglichkeit einer Schließung gleichkam, öffnete nun die Veränderung der Wahrnehmung neue Formen des Wirklichkeitskontakts. In diesem Kontakt war vor allem entscheidend, dass nun die Bedingungen der Wahrnehmung ersichtlich wurden, sich als veränderbar auswiesen und nicht mehr im umfassenden Konstrukt "Wahrnehmung" aufgingen.