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Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben. Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit. Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal bei Walter Wilhelm zu Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor an der Universität Frankfurt im Jahre 1968 kennen gelernt. ...
Premiere
(2003)
Die 1968 gegründete Zeitschrift "Kritische Justiz" stand anfangs am äußerst linken Rand der juristischen Publikationen. Auch der Rezensent, der in einer Ausgabe des Jahrgangs 1970 die Neuauflage der Lebenserinnerungen des KommunistenMax Hoelz "Vom 'Weißen Kreuz' zur roten Fahne" besprach, machte aus seinem dezidiert linken Standpunkt kein Geheimnis: die Neuauflage sei "wichtiges Lehrmaterial für die gegenwärtigen Klassenkämpfe" (Kritische Justiz 1970, 363–365). ...
Nachdem die 20-bändige Gustav Radbruch- Gesamtausgabe bis auf den Register-Band erschienen ist, sind Gesamtblicke auf das Werk des Heidelberger Rechtslehrers und SPD-Politikers erleichtert worden. Einen solch anspruchsvollen Gesamtblick unternimmt Hanno Durth in seiner Frankfurter Dissertation. Durth geht es um die (Re-)Konstruktion eines komplexen Sinnzusammenhangs, den er – in Anknüpfung an den bei Radbruch eher beiläufigen Begriff des Kulturrechts sowie an Wiethölters Begriff der Rechtskulturverfassung – Radbruchs "Theorie eines Kulturverfassungsrechts" nennt. Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass die übliche Einordnung Radbruchs in den südwestdeutschen Neukantianismus mehr verwirre und versperre als weiterhelfe (3). Um "Neues an Radbruch" zu entdecken, wendet Durth Theorieströmungen auf Radbruchs Rechtslehre an, "die hierauf bisher keine Anwendung fanden" (5) … und die "Radbruchs ganzheitlichen Ansatz widerspiegeln" sollen: "sie müssen eine Rechtstheorie beschreiben können, die eine Gesellschafts- und eine Geschichtstheorie beinhaltet" (6). Im Einzelnen rekurriert Durth vor allem auf die Systemtheorie Luhmanns, daneben aber je nach Gegenstand auf die Theorien von Habermas, Derrida, Assmann, Baumann, Beck, Cornell, Marcuse "und andere(n)" (6). ...
Kaum auf dem Markt, hatte Simon Coles Buch Suspect Identities schon einigen Wirbel verursacht. Cole, in Harvard in Science and Technology Studies promoviert, beschäftigt sich mit der Geschichte des Fingerabdrucks und anderer Identifizierungsverfahren. Sein Buch schildert die Revolution der Kriminaltechnik ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und endet in der Gegenwart: Auf die Begeisterung für die Polizeifotografie folgen Versuche mit dem Fingerabdruckverfahren (Daktyloskopie) sowie der "anthropometrischen Bertillonage", die eine Person anhand ihrer Knochenlängen und anderer körperlicher Merkmale identifizieren wollte. Aus der Konkurrenz und Koexistenz geht schließlich das Fingerabdruckverfahren ob seiner Einfachheit in der Datenerhebung und -archivierung als eindeutiger Sieger hervor. Mittlerweile wird es zunehmend vom genetischen Fingerabdruck ergänzt, der eine historisch nie dagewesene Zuverlässigkeit bietet, aber als forensisches Beweismittel verblüffend ähnliche Strukturprobleme in sich birgt. ...
Die deutsche Normalschraube
(2003)
Moderne Selbstbeschreibungen können durchaus produktiv die historische Forschung zu neuen Paradigmen anregen. Die derzeit sehr populäre Vorstellung von "Netzwerken" lässt sich mit Gewinn sogar auf historische Gesellschaften übertragen. Die Folgen dieses Konzepts für Theorien der Herrschaft beschäftigten am 5. und 6. Dezember 2002 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz einen von Peter Becker und Raffaele Romanelli organisierten Workshop – sein Thema: "Governing through Networks: International Collaboration between Public Administrators". Der Veranstaltungstitel bildet nicht ab, dass es sich um ein dichtes Expertengespräch zum 19. Jahrhundert handelte. Thomas Nutz (München)berichtete über den sich internationalisierenden Gefängnisdiskurs in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, Pietro Corsi (Paris) breitete imposantes Material über die bis heute fruchtlosen Versuche italienischer Geologen aus, eine vollständige Karte des Landes zu erstellen. Hier wie auch bei den Statistikern (Silvana Patriarca, Fordham) wurde deutlich, welch überragende Rolle internationalen Netzwerken von wissenschaftlichen Experten im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten zugewachsen war. Sie organisierten sich in privaten Vereinen oder halbstaatlichen Organisationen und bildeten grenzüberschreitende Wissenssysteme, denen zunehmend eine Schlüsselstellung bei der politischen Entscheidungsfindung zukam. ...
"Weimar" war die am häufigsten gebrauchte Chiffre im Selbstfindungsprozess der Deutschen nach 1945. Dort wollte man wieder "anknüpfen", aber auch lernen, was vermieden werden sollte. Weimar, das waren Nationalversammlung und Verfassungsgebung, die "goldenen Zwanziger", die Inflation, die Blockierung der Politik, der "Parteienstaat", die Koalition der "Systemfeinde", das war leuchtendes Vorbild, aber auch Chaos und Vorhölle zum NS-Staat. Christoph Gusy hat auf seiner Bielefelder Tagung daraus die Frage formuliert, wie die frühe Bundesrepublik mit Traum und Trauma von "Weimar" umgegangen ist, wie sie die Aneignung von Historie betrieben und in Politik umgesetzt hat. Auf diese Fragen antworten zunächst Wolfram Pyta mit einem souveränen Überblick über den jahrzehntelangen schrittweisen Prozess der Historisierung von Weimar, sodann Elke Seefried über die Grübeleien der Exilpolitiker, was "falsch gelaufen" und künftig zu vermeiden sei – überraschend antiparlamentarische und autoritäre Grübeleien übrigens. ...
"Solidarität" ist ein Wieselwort von gallertartiger Konsistenz. Es ist allgegenwärtig, gibt sich bedeutungsschwer und meist auch etwas vorwurfsvoll. Sein Kontext ist durchweg normativ. Es taucht dort auf, wo es um den Appell an Personen auf der gleichen Ebene geht. Typischerweise rufen Gruppen nach "Solidarität", deren innere Bindungen bröckeln oder die sich in Gefahrenlagen zusammenscharen. Als es noch Standesgenossen gab, erinnerten sie gerne an die Solidarität, wenn es darum ging, den Zusammenhalt derselben Schicht zu wahren. Die alten Zünfte, Gilden, Gaffeln, Einungen und Genossenschaften waren Solidaritätsverbände. Die Arbeiterbewegung übernahm hiervon nicht nur das Wort "Genossen", sondern auch den Appell an die Klassensolidarität. Und selbst wer heutzutage einen Krieg führen will, erinnert an alte Dankesschulden und appelliert an die Solidarität der Bundesgenossen. ...
Vor gut 150 Jahren erschien 1852 der erste Band eines ebenso anspruchsvollen wie bis heute respektierten Buches unter dem Titel "Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung". Geschrieben hatte dieses Buch Rudolf Jhering, damals Professor des römischen Rechts in Gießen. Es sollte sein Lebenswerk bleiben – bis hinein in die große Fortsetzung zum "Zweck des Rechts". Das Buch hat Geschichte gemacht, denn der Autor suchte nicht Geschichten, sondern die Geschichte des Rechts überhaupt. Das Bleibende, die "letzten Gründe" trieben ihn um, so wie seinen Altergenossen Karl Marx, der lebenslang nach der "letzten Instanz" in aller Geschichte suchte. Beide waren fest überzeugt, dieses "Letzte" wissenschaftlich ermitteln zu können. Rechtsgeschichte betrieb Jhering daher zugleich als Universalgeschichte, allgemeine Rechtslehre und Rechtsphilosophie. Was das bedeuten kann und was davon bleibt, geht uns nach wie vor unmittelbar an. Auch wir hängen an den Marionettenfäden historischer und philosophischer Grundhaltungen und Grundbegriffe. Auch wir kommen ohne sie nicht aus. Wissenschaft kann und soll das bewusst machen. Die Unschuld der Naivität ist ihr nicht erlaubt. Dazu muss man zeigen, was dieser Jhering bedeutete, wer er war, welches Problem er mit seinem Hauptwerk aufnahm, und welche Lösungen er dafür anbot. ...
Italien ist offenbar ein fruchtbarer Boden für Lehrbücher der Rechtsgeschichte. Klassisch war auch in diesem Land, wie in Deutschland und anderswo, für Lehrbücher, Vorlesungen und Lehrstühle die Zuordnung einerseits zum Römischen Recht, andererseits zur "nationalen" Rechtsgeschichte, hier also Storia del diritto italiano. So heißt auch noch die Professur von Italo Birocchi an der Sapienza in Rom. Die Bezeichnungen der Vorlesungen und der Lehrbücher haben sich jedoch in Italien in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Es handelte sich dabei um eine schnelle und koordinierte Reaktion der italienischen Hochschullehrer auf die Umgestaltung der juristischen Universitätsausbildung in ihrem Lande. Auf diese Studienreformen (deren neueste, auf die europäische Angleichung orientierte, gerade im Gange ist) haben die italienischen Rechtshistoriker mit einer Ausdifferenzierung der rechtshistorischen Vorlesungen, und zumeist mit einer dem entsprechenden Vermehrung der rechtshistorischen Professuren geantwortet – also etwa das Gegenteil dessen, was an deutschen Fakultäten der Fall war und ist. ...
Denkt der Rechtshistoriker an etwas, das lange währte, fällt ihm neben anderem irgendwann das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein. Auch die Gerichte dieses Reiches brachten es auf eine ansehnliche Lebensdauer, und die Prozesse, die vor dem Reichskammergericht ausgefochten wurden, zählten häufig ebenfalls zu dem, was lange währte. Langjährige seitenfüllende Erörterungen sind in abertausenden dickleibigen Akten überliefert. Wer sollte das damals alles lesen und bearbeiten? Was waren das für Männer, die sich im 18. Jahrhundert, dem "tintenklecksenden Säkulum" (Friedrich Schiller), in Wetzlar durch solch monumentale Schriftsätze fraßen und im Namen von Kaiser und Reich Recht sprachen? Das umfangreichste Werk, das seit dem Ende des Alten Reiches über das Reichskammergericht geschrieben wurde, gibt darauf Antwort. ...
"Fortgeltung des Zwölftafelrechts" – unter diesem lieblos dahingeworfenen Titel ist jüngst eine Dissertation erschienen. "Geltung" ist das Symbol der Einheit des Rechtssystems: Recht "gilt", und wenn es nicht (mehr) gilt, ist es kein Recht, sondern Geschichte oder Literatur oder ein Märchen aus alten Zeiten. "Fortgeltung" besagt demnach, dass älteren Rechtssätzen in neueren Rechtssätzen weiterhin Geltung zugesprochen wird.
Wenn man im Fall der Rechtssätze der Zwölf Tafeln wissen will, ob sie "fortgalten", was sollte man dann tun? Es empfiehlt sich, eine CD-ROM des römischen Rechts zu starten, "duodecim" einzugeben und die knapp 200 Stellen zu betrachten, in denen die Zwölf Tafeln genannt sind. So kann man Stück für Stück prüfen, welche Sätze der Zwölf Tafeln in den Juristenschriften und den Kaiserkonstitutionen zitiert werden, welche dieser Sätze als "geltend" bestätigt und welche verworfen werden. Das ist eine etwas langwierige, aber für einen romanistisch ausgebildeten Doktoranden eine nicht allzu schwierige Aufgabe. Immerhin wüsste man am Ende, welche Sätze der Zwölf Tafeln sich in den juristischen Kommunikationen über etwa 500 Jahre als "geltend" gehalten haben. Und mit diesem Wissen wäre eine Leserin der "Fortgeltung des Zwölftafelrechts" schon deshalb sehr zufrieden, weil man bisher kaum weiß, welche Sätze der Zwölf Tafeln die römischen Juristen überhaupt kannten, und deshalb schon gar nicht, welche sie als geltend betrachteten.
Man weiß es auch nach Lektüre der "Fortgeltung des Zwölftafelrechts" nicht. Denn der Autor hat mitnichten getan, was nahe liegt ...
Nach Hause…
(2004)
Read only memory. Eine CD ROM ist ein Festwertspeicher. Die Daten kann man lesen, aber nicht verändern, ergänzen oder löschen. Man kann die Scheibe zertrümmern oder die Platte zerstören, aber die Daten manipulieren kann man nicht. Eine CD ROM schützt sich selbst vor Variation. Die Erfindung dieser Technik hat eine neue, kleine Gewissheit in der chronisch unsicheren Welt geschaffen. Was auf der CD ROM steht, steht fest. Und da viel auf ihr stehen kann – ganze Bibliotheken der Vergangenheit –, steht viel fest. Das macht Historiker glücklich. Drohen ihnen schon die Fakten abhanden zu kommen, verfügen sie immerhin noch über Festwerte, die aus einer zuverlässigen "Quelle" (Oexle, S. 165) fließen. ...
Eine in Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft weit verbreitete Annahme lautet: "Europa muss, um eine Zukunft haben zu können, sich zu einer Geschichtsgemeinschaft entwickeln." Was man dabei übersieht: So wenig sich nationale Geschichtsgemeinschaften identifizieren lassen, so wenig wird sich eine europäische Geschichtsgemeinschaft konstituieren.
Die Rechtsgeschichte hat dem vormodernen Asyl lange Zeit einen bestenfalls marginalen Platz eingeräumt und es häufig als Hindernis auf dem Weg zum staatlichen Gewalt- und Justizmonopol bewertet oder den angeblichen "Missbrauch" des Asyls betont. Gleiches gilt cum grano salis für die allgemeine Geschichte, die wenige, eng begrenzte lokale Fallstudien beigesteuert hat, während umfassendere Darstellungen zur Geschichte der "Menschenrechte" oder zur historischen Kriminalitätsforschung das vormoderne Asylrecht weitgehend ignorieren. Erst in jüngster Zeit nahm die Zahl der Arbeiten zu, die sich intensiver mit der Geschichte des Asyls beschäftigen und neue Erkenntnisse sowie Forschungsperspektiven beitragen. ...
Lange hat die Forschung die zehn Kreise des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vernachlässigt. Ließen diese sich doch kaum in das Modell der europäischen (National-)Staatsbildung einordnen. Die Reichskreise bildeten eine separate, spezifische verfassungsrechtliche Ebene zwischen der im Reich nur schwach ausgeprägten "Zentralgewalt", repräsentiert durch Kaiser und Reichstag, und den einzelnen Reichsständen. Unter letzteren billigte die ältere Forschung nur den größeren Territorien staatliche Qualitäten zu. Das Reich wurde dagegen als ein zu moderner Staatsbildung unfähiges "Monstrum" abgetan, das insbesondere in der Gesetzgebung sowie in der Außen-, Wirtschafts-, Ordnungs- und Sicherheitspolitik versagt habe. Erst die jüngere Forschung hat gezeigt, dass das Alte Reich als Ganzes und die Reichsmitglieder durchaus staatliche Funktionen ausübten, und zwar auch im Bereich der frühneuzeitlichen Ordnungs- bzw. Policeygesetzgebung. Die Normenproduktion der Reichskreise und kleineren Reichsstände ist allerdings noch kaum erschlossen, und moderne Editionen gerade umfangreicherer, exemplarischer Policeyordnungen fehlen völlig. Die hier vorzustellenden, von Wolfgang Wüst herausgegebenen drei Bände zur "guten Policey im Reichskreis" bilden folglich nicht nur eine wertvolle Ergänzung zu dem im Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte entstandenen Repertorium der frühneuzeitlichen Policeyordnungen und den in diesem Kontext entstandenen Fallstudien, sondern sie verbinden mit den Themen "Reichskreise" und "Policeygesetzgebung" zwei wichtige Felder der Frühneuzeitforschung und eröffnen damit eine neue Perspektive auf die Gesetzgebungsgeschichte und die Entwicklung frühmoderner Staatlichkeit. ...
Vom Kerbholz zur Konzernbilanz? : Wege und Holzwege zu einem autonomen Recht der global economy
(2004)
Die lex mercatoria, die sich abzeichnende transnationale Rechtsordnung der Weltmärkte, ist in aller Munde. Abgesehen von der vagen Idee eines eigenständigen privaten Rechts der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, das sich jenseits von nationalem Recht und Völkerrecht entwickeln soll, sind indes selbst die Grundfragen der mercatoristischen Doktrin im Streit: So fechten internationale Wirtschaftsjuristen "einen dreißigjährigen Krieg um die Frage der Unabhängigkeit der lex mercatoria aus, ohne daß Münster und Osnabrück in Sicht wären". Auch die Rechtsgeschichte wurde von den streitenden Parteien in diesen Glaubenskrieg verwickelt, geht die neue lex mercatoria angeblich doch zurück auf "das mittelalterliche universale Kaufmannsgewohnheitsrecht des interregionalen und internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs, das sich außerhalb des römischen Rechts autonom und in eigenständigen handels- und gesellschaftsrechtlichen Formen entwickelt hatte". Strittig ist, ob die neue lex mercatoria ihren Namen zu Recht trägt oder nur dessen historische Dignität ausbeutet und dadurch eine ihr nicht zukommende Universalität und Autonomie suggeriert; kaum hinterfragt wurde dagegen, ob das immer wieder bemühte historische Vorbild auch tatsächlich die ihm zugeschriebenen Eigenschaften aufweist. ...
Der Autor tritt an, eine momentan ausgesprochen populäre These institutionenökonomisch "zu testen" (Vorwort, VII): Politische Zersplitterung ermöglicht institutionelle Konkurrenz, solche Konkurrenz aber belebt auch hier das Geschäft, weil sie den fiskalischen und regulatorischen Zugriff der Politik auf die ökonomischen Akteure begrenzt oder gar unmöglich macht. Deshalb ist institutionelle Harmonie von Übel, denn sie beschränkt die Möglichkeiten der Investoren, zwischen den verschiedenartigen institutionellen Bedingungen unterschiedlicher Standorte zu wählen. ...
Es gibt in der Wissenschaft viele Bücher, die dem Leser ein gerüttelt Maß Geduld abverlangen. Dazu gehört ohne Zweifel Holensteins Untersuchung über "Gute Policey". Aber man wird mit vielerlei Einsichten belohnt, wenn man sich auf dieses gut 850-seitige Totalbild ländlicher Verwaltungspraxis "vor Ort" einlässt. Dabei ist der Untersuchungsraum des Autors keineswegs weitläufig, denn die Markgrafschaft Baden machte ja nur einen Bruchteil des späteren Großherzogtums aus, und sie zerfiel zudem in einen katholischen (Baden-Baden) und einen protestantischen, von Karlsruhe aus regierten (BadenDurlach) Landesteil, von dem wiederum in erster Linie die im badischen "Oberland" gelegenen Gebietsteile behandelt werden. Sie zu orten, setzt schon recht solide Kenntnisse in badischer Heimatkunde voraus. In den heutigen Landkreisen Emmendingen und Lörrach stößt man auf jene überschaubaren territorialen Einheiten, die den Schauplatz der akribischen Detailuntersuchung Holensteins abgeben: die drei "oberen Herrschaften" Rötteln, Sausenberg und Badenweiler – ein Landstrich, für den sich bis heute die Bezeichnung "Markgräflerland" erhalten hat – und die Herrschaft Hachberg mit Gebietsflecken um Emmendingen und im Kaiserstuhl. In diesem kleinen Raum dreier territorialstaatlicher "Oberämter" gräbt Holenstein dann allerdings in einer Weise in die Tiefe, dass ein ungemein plastisches Bild der Interaktion zwischen normsetzender Instanz und Normadressaten entsteht – eine Interaktion, die der Autor als Grundbedingung der Implementierung von Policeynormen herausstellt. Sie findet statt innerhalb zweier Relationen: Zum einen zwischen den zentralen, die Policeygesetzgebung bestimmenden Instanzen in Karlsruhe – Markgraf und Geheimer Rat sowie die nachgeordneten Zentralbehörden, der Hofrat, die Rentkammer und der Kirchenrat – und den Oberamtleuten in Lörrach, Müllheim und Emmendingen als den staatlichen Repräsentanten vor Ort, denen es oblag, für die Verbreitung und Bekanntmachung der Policeynormen und deren Durchsetzung zu sorgen. Zum anderen zwischen den Oberamtleuten und ihren Stäben auf der einen und den Gemeinden auf der anderen Seite. Eine Schlüsselstellung kam dabei den "Ortsvorgesetzten" zu. Das waren in der Markgrafschaft die so genannten "Dorfvögte" und deren Stellvertreter, die "Stabhalter". Sie nahmen eine einflussreiche Doppelstellung ein, denn sie waren einerseits die lokalen Angelpunkte der staatlichen Implementationsbemühungen, andererseits Repräsentanten der Gemeinde, deren Interessen sie auch gegenüber der Territorialherrschaft wahrzunehmen hatten. Zweiter personeller Stützpunkt territorialstaatlicher Normdurchsetzung an der Basis waren die Pfarrer, die gleichfalls als staatliches Wahrnehmungs-, Aufsichts- und Kontrollorgan im Dorf fungierten.
Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte ist eine Art historiographisches Markenzeichen. Herrschaft, Wirtschaft und Kultur bilden als prinzipiell gleichberechtigte "Achsen" die Betrachtungsebenen bereits im ersten Band der Gesellschaftsgeschichte von 1987.1 Schon damals gestand er im methodischen Programm zu, dass es auch den Primat einer "Achse" geben könne – im vierten Band2 ist nun von der Balance der Achsen tatsächlich immer weniger zu spüren: Mehr und mehr räumt der Autor der Politik den Primat ein, die Bedeutung der Achse "Herrschaft" wächst kontinuierlich. Dies kann man Wehler als Abweichung von seinem methodischen Gesamtprogramm vorhalten oder anerkennen, dass er zu Recht für die analytische Erfassung insbesondere der Endphase Weimars und der Zeit des Nationalsozialismus nicht dogmatisch an seinem ursprünglichen Konzept festgehalten hat. ...
Gillian R. Evans, Professorin für mittelalterliche Geschichte, Philosophie- und Geistesgeschichte an der Universität Cambridge, hat ihre Liebe zum Recht entdeckt. In schönster Tradition der Cambridge Intellectual History zeichnet sie ein Panorama, wie die geistigen Sphären von Recht und Theologie einander durchformten und die Welt des mittelalterlichen Menschen harmonisch überwölbten. Folgerichtig lässt sie ihre durchgängig packend zu lesende Darstellung mit der resignierten Frage ausklingen, ob nicht die Reformation neben der Kirchenspaltung ein viel weiter gehendes Dilemma auslöste: Konnten sich im Mittelalter nach Evans (175) Theologen und Juristen noch gewiss sein, auf das gleiche Ziel hinzuarbeiten, nämlich die Seelen der Menschen zu retten, wurde durch die reformatorische Betonung der Gnade gerade auch für Sünder und Gesetzesbrecher ganz grundsätzlich in Frage gestellt, ob Gesetzesgehorsam noch der einzige Weg zum Heil sein konnte. ...
Letzte Fragen
(2004)
Eine Debatte anzuzetteln ist immer ein Risiko. Wer von den – sorgsam, wenn auch letztlich arbiträr ausgewählten – Angeschriebenen und Angesprochenen wird auf die freundliche Einladung einen freundlichen Absagebrief schreiben oder gar nichts schreiben oder nur telephonieren? Wer aus der weiten Welt der Rechtsgeschichte-Leser wird sich beteiligen, ohne ermuntert worden zu sein? Wer wird sich auf die Sache, und das heißt hier die Frage, einlassen? Und wie? Wird es eine spannende Debatte werden oder eine langweilige Bestandsaufnahme? Phantasie oder Inventur? Fußnoten oder Thesen? ...
Im Niemandsland
(2004)
Dass die Regierungen westlicher Staaten eine offene oder verdeckte Tendenz haben, die ihnen in einem langen historischen Prozess auferlegten rechtsstaatlichen Bindungen aus politischen Gründen wenn nicht abzustreifen, so doch zu lockern, ist ein Thema, das Juristen, Ökonomen, Politologen und Soziologen gleichermaßen beschäftigt. Giorgio Agamben, italienischer Philosoph und Ästhetiker, spitzt die Thematik mit der These zu, die "Normalität" staatlichen Lebens existiere nicht mehr, es sei das "Niemandsland" des Ausnahmezustandes, "in dem wir leben" ("lo stato di eccezione 'in cui viviamo'"). Er sei die "fundamentale politische Struktur" unserer Zeit; er habe inzwischen die "größte planetarische Entfaltung" erreicht, die Menschen auf die "nuda vita", das nackte Leben, reduziert, das dem Kalkül der Macht unterworfen sei und in eine "beispiellose biopolitische Katastrophe" auszuarten drohe. Seine "Materialisierung" hat der Ausnahmezustand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wie in allen Lagern gefunden, in denen Menschen von der "normalen Ordnung" ausgeschlossen werden; Guantánamo ist für Agamben ein aktuelles Beispiel. Die "Lager" in allen ihren Erscheinungsformen sind die "verborgene Matrix der Politik". Der Ausnahmezustand ist ein arcanum imperii, dessen "Demaskierung" die einzige Möglichkeit ist, den durch ihn bewirkten "Bann" zu brechen. ...
Frühjahr 1934. Vorübergehend sieht es so aus, als kehrten im deutschen Reich wieder Ruhe und Ordnung ein: Hilfspolizei und "wilde" Konzentrationslager werden aufgelöst, mit der Wirtschaft geht es bergauf und ein Nichtangriffspakt mit Polen verheißt außenpolitische Stabilität. Das neue Regime hat sich konsolidiert; nun wird die revolutionäre "Bewegung" in rechtsstaatliche Bahnen gelenkt – so sieht es jedenfalls der "Reichsjuristenführer" Dr. Hans Frank. Am 20. März tönt seine Stimme landesweit durch die Volksempfänger: "Der Staat Adolf Hitlers … ist ein Rechtsstaat." Die Macht des Nationalsozialismus verwirkliche sich "ausschließlich in den Formen des Rechts"; sie strebe nach "Rechtssicherheit", "Rechtsschnelligkeit" und "Rechtsklarheit". Kurze Zeit später scheinen Frank Bedenken zu kommen: Im Sommer protestiert er gegen die verfahrenslose Erschießung Ernst Röhms und seiner Gefolgsleute. Die Hinrichtung von Parteigenossen der ersten Stunde passt nicht zum Bild eines völkischen Rechtsstaates. Roland Freisler sieht das anders. Selbstverständlich sei der nationalsozialistische Staat ein Rechtsstaat; man müsse diesen Begriff nur richtig deuten: nicht im Sinne eines Staates der "Shylockgerechtigkeit", in dem "das Formale… zur Zwangsjacke des Lebens" wird, sondern eines Staates des "richtigen", weil aus dem gesunden Volksempfinden geschöpften Rechts: "Ihm ist … Recht alles, was dem Volke dient und frommt" – auch Terror, Verfolgung und Mord. ...
"Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde". Wir wissen das. Wir wussten es vermutlich schon lange bevor der "Prediger" Salomo (3.1), der ein Philosoph war, uns vor nunmehr gut 2200 Jahren darüber belehrte. Aber wir handeln nur selten nach unseren Einsichten. Trennungen fallen schwer und Gewohnheiten verkleiden sich bereitwillig als Notwendigkeit. Verschwendung ist den Reichen keine Kategorie, und wer vom Verschwender lebt, erhebt keine Vorwürfe. Schließlich das Wichtigste: Wer außer Gott hat Kraft und Befugnis "Zeit" und "Stunde" zu bestimmen? ...
Gli storici del diritto dell’età medievale – quei pochi, almeno, o pochissimi che ancora si interessano ai secoli che segnarono il passaggio dalla tarda antichità al primo medioevo – non possono che salutare con grande piacere il volume del L. riconoscendovi immediatamente un nuovo e prezioso strumento di lavoro. L’importanza della Gallia tardoantica e poi di quella merovingia nella storia della tradizione giuridica romanistica era certo già nota da tempo. Merito del L. non è però solo quello di riproporre all’interesse della storiografia un tema – quello della storia delle fonti normative e giurisprudenziali di quell’epoca così particolare – che negli ultimi decenni, nonostante alcune lodevoli eccezioni, sembrava avviato a un progressivo abbandono. Nella sua rassegna d’insieme, egli non si limita infatti a riferire lo stato delle ricerche aggiornando e integrando l’opera tuttora fondamentale del Conrat.1 Si sforza invece di intervenire costantemente, prendendo posizione in pratica su ogni questione e proponendo, di volta in volta, integrazioni, precisazioni e, soprattutto, originali considerazioni, frutto di lunghi studi personali. Un libro coraggioso e sovente originale, dunque, che – è facile prevedere – nelle librerie degli studiosi del diritto nell’età altomedievale troverà posto, appunto, accanto alla Geschichte del Conrat. ...
Anfang und Ende eines Telefonbuchs: Aalam, Simone – Zywica, Klaudia. Die beiden verbindet (vermutlich) nichts anderes als die Kadenz des Alphabets. Zwischen A und Z gibt es kein Ereignis, keine Begegnung, keine Geschichte. Die meisten Leute haben deshalb keine Freude an der Lektüre von Telefonbüchern. ...
Eine Schlinge ist eine Schlinge. Zugleich ist sie ein markantes Symbol für den Tod durch Erhängen. Doch galt das Zeichen der Schlinge für diese grausame Tötungsart erst seit dem 18. Jahrhundert, als der spezifische Henkersknoten erfunden worden war. Zuvor wurden die zum Tode Verurteilten von einer Leiter aus mit einem Strick um den Hals an eine Leine gehängt und die Leiter dann weggestoßen. Entsprechend war das Symbol für die Strafe des Strangulierens eine Leiter. Der Kunstwissenschaftler Samuel Y. Edgerton, der in seinem wunderbaren Buch Pictures and Punishment von 1985 die Bestrafungsszenen auf Bildern als rechtshistorische Quelle erschlossen hat, schreibt in dem Sammelband Kunst als Strafe über den Nutzen, den Künstler lange Zeit aus der Todesstrafe zogen. Die Getöteten und anschließend Sezierten boten im Mittelalter und der Renaissance das beste anatomische Anschauungsmaterial für die Maler menschlicher Körper. So hat beispielsweise auch das bekannte Werk von Andreas Vesalius De fabrica corporis humani von 1543 von den Hingerichteten profitiert. ...
Wer war der Mörder, warum hat er es getan? Das Motiv spielt die zentrale Rolle im Kriminalroman. Nur wer weiß, warum die Tat begangen wurde, kann den Kreis der möglichen Täter verkleinern. Menschliche Tragödien, kaltblütige Vergeltung, Habgier, Geltungssucht, sexuelle Neigungen und religiöser Fanatismus, aber auch enttäuschte Liebe und eigenmächtige Suche nach Gerechtigkeit bilden die Kulisse des Kriminalromans. Auch wer als Leser die Tat nicht billigt, findet mitunter Erklärungen und gleicht diese unbewusst mit der Beantwortung der Frage ab, wie er selbst sich verhalten hätte. Oder die Auflösung bestätigt alle schon immer gehegten Überzeugungen, und die Entrüstung über so viel Schlechtigkeit hinterlässt das Gefühl der eigenen Integrität. Vielleicht kann man den ein oder anderen Krimi deshalb so schnell lesen, weil er nur der Bestätigung einer Erwartungshaltung dient und diese Erwartung in aller Regel auch erfüllt. Gegen dieses Klischee schreibt der engagierte Mikrohistoriker bei der Darstellung seiner Fälle an und verfällt ihm doch mitunter wieder selbst. ...
Sommer 1789: Frankreich revoltiert, Preußen evaluiert. Staatsminister Johann Christoph von Wöllner, Chef des geistlichen Departements, entsendet einen bewährten Berliner Schulmann ins deutsche Reich, mit dem Auftrag, die außerpreußischen Lehranstalten zu begutachten, "teils überhaupt die Verfassung der fremden Universitäten kennen zu lernen, teils von dem Vortrag solcher Professoren, auf die einmal bei irgend einer preußischen Universität reflektiert werden könnte, zuverlässig Nachricht und Kenntnis einzuziehen". Es ist Friedrich Gedike, der durch ministeriale Order zum Headhunter für das Königreich ernannt wird. Seine Beobachtungen legt er in einem Bericht an den König nieder, der, 1905 ediert, 61 Blätter umfasst. ...
Die Frage nach Konflikten zwischen den Rechtskulturen der USA und Deutschlands wirft ein kürzlich erschienener zweisprachiger Sammelband auf. Wer aber so fragt, der fragt nach mehr als Differenz. Er sucht nach Differenz in Interaktion, in der unterschiedliche Geltungsansprüche gleichzeitig erhoben werden. Sonst ginge es um das weniger abenteuerliche Vergleichen eines Nebeneinander. Leider bleibt die Publikation der Bayerischen Amerika-Akademie aber hierbei stehen und streift die emphatische Frage ihres deutschen Titels nur in Einzelbeobachtungen. Der Einfluss des amerikanischen Rechts in vielen internationalen Verträgen – Ausdruck der politischen Hegemonialstellung der USA – und die Dominanz amerikanischer Juristen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit – Ausdruck der wirtschaftlichen Bedeutung der USA – hätten jedoch Anlass gegeben, immunologische Reaktionen an lebenden Rechtskörpern zu studieren. So aber bleibt es bei der In-vitro-Insemination des deutschen Lesers mit Hinweisen darauf, dass und warum die anderen es anders machen (etwa in Beiträgen zur Kriminalprävention von Streng und Kelling oder zum Jugendstrafrecht von Silverman). In letzterem, in kulturhistorischen Erklärungsversuchen des Warum, findet der Band freilich seinen gedanklichen Schwerpunkt und einige interessante Einsichten. Lamento also nach hinten und Lob nach vorne. ...
Die Gegenwart ist heimlicher Komplize der Geschichtsschreibung. Also war nach seinem Standardwerk "A History of American Law" (1973) vom Nestor der amerikanischen Rechtsgeschichte, Lawrence M. Friedman, eine autoritative Fortsetzung zu erwarten. Mit "American Law in the Twentieth Century" liegt sie vor. Fesselnd geschrieben, in die Hand eines jeden Studierenden gehörend, wie es heißt, wirft das umfangreiche Werk – Komplizenschaft hin oder her – eine Reihe von Fragen auf. Warum gerade das 20. Jahrhundert? Waren 1900 und 2000 Schwellenjahre, die den Beginn und das Ende einer diskreten Entwicklungsphase des amerikanischen Rechts markieren? Vielleicht dessen Moderne oder gar Postmoderne? Geprägt von normativen Leitprinzipien oder gesellschaftlichen Umbrüchen? – Der Reihe nach. ...
Zweihundert Jahre Erbrechtsgeschichte Deutschlands, Frankreichs und der USA, rekonstruiert anhand von Gesetzgebung und Diskursen zu Testierfreiheit, Familienerbrecht, Fideikommiss und Erbschaftssteuerrecht: jedes Thema für sich ein rechtshistorisches Schwergewicht. Und im Vorwort zu den kaum mehr als 300 Seiten wird die Frage aufgeworfen, "was wir daraus über die Evolution normativer Strukturen moderner Gesellschaften, und insbesondere über das Verhältnis von Individuum, Familie und Gesellschaft lernen können" (9). ...
Der italienische Büchertisch ist reich gedeckt. Enger wohl als anderswo ist die Verbindung zwischen der Welt der Gelehrten, der Universitätsausbildung und dem breiten Publikum. Es ist nicht anstößig, ein großes Thema auf hundert Seiten gemeinverständlich zu behandeln, nur die wichtigste Literatur zu verzeichnen und das Ganze in gefälliger Form unter die Leute zu bringen. Der Verlag Laterza hat mit seiner kleinformatigen Serie "Universale" gerade die Nr. 856 erreicht, in einer parallelen "Biblioteca Essenziale" die Nr. 56. Dort gibt es Klassikertexte, "Einführungen" in alle Künste und Wissenschaften, aber auch zugespitzte Thesen, aus der Rechtsgeschichte etwa von Bretone und Talamanca "Il diritto in Grecia e a Roma" oder Grossis "Prima lezione di diritto". Auch die beiden letzten Bändchen beider Reihen, die hier vorgestellt werden, stammen von bekannten Rechtshistorikern. ...
Was aber steht eigentlich an so lehrreichem Konkreten in diesem gerühmten Buch vom "Geist des römischen Rechts"? Jhering eröffnet es mit einem universalgeschichtlichen Paukenschlag:
"Drei Mal hat Rom der Welt Gesetze diktiert, drei Mal die Völker zur Einheit verbunden, das erste Mal, als das römische Volk noch in der Fülle seiner Kraft stand, zur Einheit des Staats, das zweite Mal, nachdem dasselbe bereits untergegangen, zur Einheit der Kirche, das dritte Mal infolge der Reception des römischen Rechts im Mittelalter zur Einheit des Rechts; das erste Mal mit äußerem Zwang durch die Macht der Waffen, die beiden anderen Male durch die Macht des Geistes. Die welthistorische Bedeutung und Mission Roms in Ein Wort zusammengefaßt ist die Überwindung des Nationalitätsprinzips durch den Gedanken der Universalität."
(Geist I § 1, 1) Es folgen zwei ziemlich ungleich umfangreiche "Bücher", davor wie erwähnt ein methodischer Vorspann von ca. 90 Seiten. ...
"Folter" ist ein höchst aktuelles Thema. Die Vernehmungspraxis vieler sowohl demokratischer als nicht demokratischer Staatsapparate in der Welt ist in jüngerer Zeit zunehmend zum Thema in Medien und Gegenstand entsprechender Kritik geworden. Dies hat auch Wirkung im wissenschaftlichen Feld gezeigt. Mehrere Neuerscheinungen auf dem deutschen Büchermarkt sind ein Indikator dafür. Sie machen darüber hinaus deutlich, dass Folter auf ganz unterschiedliche Art und Weise thematisiert werden kann.
Ist die Welt sichtbarer geworden? Der Blick in die Bücher am Rande der Gutenberggalaxis bestätigt die Zunahme des Visuellen. Da ist vom photographischen und televisionären Vordringen der Bilder in unserer Alltagswelt die Rede, von der Wiederkehr der Bilder – auch im Recht. Das Recht und das Bild scheinen nach einer Zeit des bildscheuen Logozentrismus zunehmend Allianzen einzugehen. Die Indizien reichen von dem Skandal um Abu Ghraib bis hin zu den Schwierigkeiten, die wir mit Begriffen wie Person, Staat und Verfassung haben und die mit zunehmender Unschärfe vermehrt als Bild für etwas anderes rezipiert werden. Sollen wir also an die These von der Bilderflut glauben? ...
Die Ausbildung des theoretischen Denkens in Griechenland vollzog sich nicht erst mit Platon und Aristoteles, sondern kündigte sich bereits im 6. Jh. an. Schon im archaischen Griechenland, in den frühen Ontologien der Vorsokratiker und bei den naturrechtlichen Vorstellungen der Sophisten, ist ein Fortschritt des Denkens in Richtung Rationalität erkennbar. Das ist der Ausgangspunkt der Untersuchung von Tobias Reichardt. Aber wie ist es zu dieser – im Vergleich zu allen anderen antiken Hochkulturen Vorderasiens – einzigartigen Ideen-Evolution in Griechenland gekommen? Wie war das griechische Mirakel möglich? Auf diese Frage versucht Reichardt eine neue Antwort zu geben: Das theoretische Denken ging aus der neuen Organisationsform der polis und der darin eingelassenen Praxis der schriftlichen Gesetzgebung hervor. Dadurch gelang es erstmalig, die Ausdifferenzierung einer öffentlichen (Herrschafts-)Sphäre mit der Idee einer "guten Ordnung" als Leitgesichtspunkt allen politischen Handelns zu verknüpfen. ...
Rechtswörterbücher beschränken sich für gewöhnlich auf die Erläuterung einer Vielzahl von Begriffen und Instituten des geltenden Rechts. Das gilt jedenfalls für die in Deutschland gängigen Werke. Sie reihen die Erklärung einzelner Rechtsbegriffe nach den herkömmlichen Definitionen aneinander, ohne die Grundlagen unseres Rechtsdenkens zutage treten zu lassen. Nicht so verfährt das hier anzuzeigende, von Denis Alland und Stéphane Rials herausgegebene und im Jahre 2003 in Paris erschienene Dictionnaire de la culture juridique. Es tritt mit dem Anspruch an, das Recht nicht nur als große Ansammlung von rechtsdogmatischen Begriffen zu präsentieren, sondern seine geschichtlichen und vor allem philosophischen Bezüge zu verdeutlichen. Damit sollen Zusammenhänge wiederhergestellt werden, die durch die Reduktion der Jurisprudenz auf eine reine Technik in den letzten Jahren zunehmend verloren gegangen sind. Die innerhalb des Dictionnaire zusammengetragene Stofffülle ist äußerst beeindruckend: Auf mehr als 1600 Seiten vereinigt das Werk insgesamt 409 Artikel aus der Feder von nicht weniger als 213 durchweg angesehenen juristischen Autoren, die ganz überwiegend aus Frankreich stammen. ...
"Law after Auschwitz", das jüngste Buch des kanadischen Rechtswissenschaftlers David Fraser, ist keine streng durchgeführte Abhandlung mit nur einer strukturbildenden Fragestellung, sondern eine Sammlung von historischen, philosophischen und soziologischen Betrachtungen über den Holocaust, das Recht, die Justiz und die Juristen in verschiedenen Ländern. Anders als der Titel vermuten lässt, geht es Fraser keineswegs darum, die Erfahrung der Massenvernichtung als einzigartigen Zivilisationsbruch und nachhaltigste Zäsur in der Menschheitsgeschichte darzustellen. Das Buch reiht sich nicht in die inzwischen lange Serie von Studien ein, die aus einem "Davor" und "Danach"-Blickwinkel Auschwitz auf seine Folgen hin untersuchen, wie es bekanntlich für ›das Denken‹ im Allgemeinen, die Theologie, die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben u.s.w. bereits geschehen ist. Fraser setzt der Grundrichtung dieser Literaturgattung eine drastische Kontinuitätsbehauptung entgegen: Auch bei den Normen, die den Massenmord regelten, handelte es sich um Recht und damit um ein Instrument, das heute nach wie vor ähnlich verwendet wird. Kritisiert werden Deutungsmuster, die das Recht unter der NS-Herrschaft als Nicht-Recht, Rechtsperversion oder Legalitätsfassade etikettieren und damit aus dem Rechtsgeschichtsverlauf ausklammern wollen. Auch Verbrechen können und konnten (im formellen Sinn) legal sein: Nazi law was law. Diese These ist eine Art Gravitationszentrum, das die weit in verschiedene Bereiche ausgreifende Darstellung (sie enthält Auseinandersetzungen mit der Philosophie Agambens sowie mit verschiedenen juristischen Behandlungen von NS-Verbrechen in Frankreich, den USA, Großbritannien, Kanada und Australien) vor dem Zerfall in völlig unzusammenhängende Einzelteile bewahrt. So gerät das Buch zu einem Thema mit Variationen; kaum ein Kapitel, in dem Fraser nicht dem heutigen Juristen vor Augen führt, dass sein Stoff und seine Methoden sich in vielen Aspekten nicht wesentlich von denen seiner deutschen Kollegen aus der Zeit von 1933 bis 1945 unterscheiden. ...
Im Jahre 1721 setzt der preußische König Friedrich Wilhelm I. für das Herzogtum Preußen ein sogenanntes "Landrecht" in Kraft. Anders als der moderne Gesetzgeber begnügt sich der König dabei nicht mit der bloßen Publikation des Gesetzes, sondern er fügt dem Gesetzestext am Schluss ein ausdrückliches, an die Gerichte gewendetes Anwendungsgebot bei. Damit soll augenscheinlich eine bestimmte Argumentationslinie, mit der die Gerichte die Nichtanwendung des Gesetzes begründen könnten, von vornherein abgeschnitten werden: Der Einwand mangelnder Observanz, so heißt es in diesem Anwendungsgebot, sei kein Grund, das Landrecht nicht anzuwenden. Mangelnde Observanz entbinde die Richter keinesfalls von der Pflicht, das Landrecht ihrer Urteilstätigkeit zugrunde zu legen. Denn es sei gerade die Schuldigkeit der Richter, "unsere Gesetze zur Observanz zu bringen". Derartige Anwendungsgebote sind häufig anzutreffender Bestandteil vor allem der frühneuzeitlichen "Landrechte" und "Reformationen". In der Regel beinhalten sie ein in erster Linie an die Rechtsstäbe gerichtetes Gebot, das betreffende Landrecht "gleich nach beschehener Publication aller Orths ad observantiam" zu bringen – so die Formulierung etwa im Trierer Landrecht von 1668. Häufig ist dies dann verbunden mit dem Verbot, weiterhin neben oder gar an Stelle des neu ergangenen Landrechts das bislang gerichtsgebräuchliche Gewohnheitsrecht anzuwenden. In diesem Muster hält sich auch das eingangs zitierte Anwendungsgebot König Friedrich Wilhelms I., nur dass hier überdies ganz gezielt ein bestimmter Gegeneinwand von Seiten der Gerichte vorweggenommen wird: der Einwand nämlich, dass ein Gesetz – und sei es auch nach allen Regeln promulgiert und bekanntgemacht – so lange keine Wirksamkeit entfalten könne, als es nicht zur "Observanz" gelangt sei. In den reichskammergerichtlichen "Decisiones" Johann Meichsners etwa findet sich dieses Argument wie eine unbestrittene Selbstverständlichkeit vorgetragen: "Statutum enim, quod non est receptum in observantia, licet fuerit publicatum, nullas habet vires, ideo ligare non potest." ...
Was hält die Gesellschaft zusammen? Wie schafft man es, dass sich die Menschen nicht gegenseitig massakrieren? Wo ist der Frieden? Alte Fragen, fürwahr. Die Antworten liegen seit jeher geborgen irgendwo zwischen Selbstorganisation und Fremdorganisation, zwischen Selbstherrschaft und Fremdherrschaft, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Konkret: Brauchen die Menschen, um friedlich miteinander auszukommen, eine Instanz, die ihnen zeigt, wo es lang geht? Oder finden und haben die Menschen einen Grund in sich selbst, um nicht zu Mördern zu werden?
Der französische Arbeitsrechtler Alain Supiot hat nun eine Antwort auf diese Fragen gegeben, eine Antwort in einer Zeit, in der – trotz George W. Bush, Interventionsvölkerrecht und europäischem Direktivenwahn – die Teile über das Ganze, das Periphere über das Zentrale, das Internet über das Diktaphon zu triumphieren scheinen. ...
Punktierkunst
(2005)
Ach, Festschriften. Was soll man zu diesem weiter und weiter vor sich hinwesenden Wesen noch sagen? Unwesen? Nun, es gibt natürlich Ausnahmen von der Sitte, mehr oder weniger lieblos herausgekramte oder lieblos verfasste Schreibversuche von Kollegen, Schülern, Freunden, oder solchen, die sich dafür halten, als Hommage für einen mehr oder weniger alt gewordenen Mann zusammenzudrucken. Eine solche Ausnahme zu sein versprechen Titel, Umfang und Adressat einer 2004 im Heidelberger Synchron Verlag erschienenen, von Rüdiger Campe und Michael Niehaus herausgegebenen Festschrift. Der Titel: "Gesetz. Ironie". Eine feine Symmetrie. Sechs Buchstaben auf der linken, sechs Buchstaben auf der rechten Seite. C’est chic. Und die Worte sind gut, und gut gewählt. Wer wird schon an einem Buch vorbeigehen, das ein solch schönes Wortpaar ziert. Und dann auch noch ein rätselhafter Punkt in der Mitte, der erst recht Neugierde weckt. Der Umfang: Einvierteltausend Seiten, also ein Viertel des Üblichen. Im fettsüchtigen Zeitalter des Quadriple-XLFood ein Leichtgewicht. Der Adressat: Manfred Schneider, 60 Jahre, und in seiner Wissenschaft, dem Nachdenken über Literatur, so etwas wie ein Garant für das Zusammentreffen von Strenge und Ironie, wie die Herausgeber zu Recht hervorheben. Also, drei Gründe, die Festschriftsache etwas näher zu betrachten. ...
"Gerichtsrede"? Wer denkt da nicht an das große Plädoyer engagierter Anwälte, denen es wortgewaltig gelingt, einem verblüfften Publikum ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen? Nur wenige werden in diesem Augenblick allerdings einen deutschen Gerichtsredner, sei es einen Staatsanwalt, sei es einen Advokaten vor sich sehen. Zwar gibt es zweifellos auch hierzulande saftige Zeugnisse forensischer Rhetorik. Aber im allgemeinen erreichen die meist glanzlosen Darbietungen germanischer Justizredner das durch die filmischen Auftritte redegewandter Lichtgestalten im amerikanischen courtroomdrama verwöhnte Publikum nicht. Nur dort finden jene gigantischen Redeschlachten statt, in denen der rednerisch gewitzte und schon fast siegreiche Staatsanwalt am Ende doch der überlegenen Redekraft seines Gegenspielers unterliegt. ...
Es gibt technische, intellektuelle, soziale Erfindungen, die ungewöhnlich großen Erfolg haben, so großen Erfolg, dass sie über Jahrhunderte und Jahrtausende beibehalten, gepflegt und ausgebaut werden, ja aus der Gesellschaft nicht mehr leicht wegzudenken sind. Zu solchen evolutionären Errungenschaften gehören das Rad, das Geld, die Schrift, das Eigentum, die Straßen und manches mehr, namentlich auch der Vertrag, ohne dessen Konstruktion und Gebrauch erhebliche Teile der Kommunikationen und Funktionen in der Gesellschaft zusammenbrächen. Ob Ehevertrag oder Kaufvertrag, ob Ausbildungs-, Arbeits-, Beförderungs-, Lizenz-, Tarifoder Staatsvertrag – so gut wie nichts funktioniert in kleinsten bis hin zu großen sozialen Systemen ohne die Begründung wechselseitiger Rechte und Pflichten und ohne die in pacta sunt servanda zementierten normativen Erwartungen. ...
Rechtstransfer
(2005)
Anlass zu beschreiben, was Rechtstransfer bedeutet, sieht nicht nur die gegenwärtige juristische Gesellschaft. Erheblicher Bedarf an Erklärungsmodellen bestand auch im 19. Jahrhundert. Eine der größten Migrationswellen, die so genannte Rezeption des römischen Rechts, hatte Europa während mehrerer Jahrhunderte überflutet. Aus dieser Flut, kaum hatte sie ihren Höchststand erreicht, reckten sich nun allerorts nationale Gesetzgebungsprogramme und ganze Kodifikationen hervor. Das Verhältnis von rezipiertem, römischem Recht – das längst ganz "eigen" und "heutig" geworden war – zu den das ius commune störenden oder sogar zerstörenden Eingriffen nationaler Gesetzgeber galt es zu klären und zu erklären. Nur wenn es für den einstigen Transfer des römischen Rechts in germanische Gefilde plausible und irreversible Gründe gab, gab es auch Gründe, die kecken Vorstöße des nationalen Gesetzgebers zurückzuweisen und der Positivität des Rechts Einhalt zu gebieten. Das war die Position eines Savigny und seiner Gesinnungsgenossen. ...
Es muss die Steuererklärung von 1982 oder 1983 gewesen sein. Unter den steuermindernden "Werbungskosten" befand sich eine Liste mit wissenschaftlichen Büchern, darunter Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Das Finanzamt teilte mir mit, dieser Titel könne die Steuerschuld nicht reduzieren, da es sich "offenkundig um einen Roman" handele. So aussichtslos es war, das Finanzamt zu überzeugen, dass das Buch etwas mit Systemtheorie und Systemtheorie etwas mit Wissenschaft zu tun habe, so hoffnungslos erschien es lange, mit Historikern über Systemtheorie ins Gespräch zu kommen. ...
"Mit Bettina und Savigny in traulich scherzendem Gespräche den Sonnenuntergang betrachtet. Savigny heim, wir allein zurük und gute Nacht, Hand in Hand, in denen die ersten Küsse glühen, tief bewegt zu Bette…" Das notierte Philipp Hössli, Gast auf dem Landsitz der von Arnims in Wiepersdorf, in sein Tagebuch am 21. September 1822. Im Frühjahr 1821 war der 21jährige Philipp Hössli aus Nufenen, Graubünden, in Berlin zum Studium eingetroffen, hatte sich umgehend bei Wilhelm von Humboldt und Carl Friedrich von Savigny vorgestellt und wurde von diesem herzlich willkommen geheißen. Savigny machte ihn mit seiner Familie, darunter auch seiner Schwägerin, Bettina von Arnim, bekannt. "Die Frau von Arnim begleitet", "Bald weg zu Frau von Arnim", "Zu Madame von Arnim", "Bei Frau von Arnim" – fast für jeden Tag findet sich ab Juni 1822 ein solcher Eintrag in Hösslis Tagebuch. Im Juli heißt es dann: "Zu Bettina. Wunderbare Stunden!" Eine glühende Liebesgeschichte zwischen Bettina und ihrem 15 Jahre jüngeren "Schweizerknaben" nimmt ihren Lauf. "Nach dem Essen an die Castanien.…Dann auf die Bäume gestiegen. Wonniges Gefühl…" "Dann eilen wir in ihr Zimmer aufs Sopha. … In reinster, innigster Liebe beisammen. Über Freundschaft gesprochen." ...
Einleitung
(2005)
Es mag mit der Erfahrung erhöhter Geschwindigkeit und Dichte von weltweiten Kommunikationen zusammenhängen, es mag Resultat lebhafter Austauschbeziehungen in Wirtschaft, Kunst, Politik sein, es mag Folge der Ahnung sein, dass vor unseren Augen eine "Weltgesellschaft" entsteht – Anlass genug gibt es jedenfalls, genauer zu beobachten, wie und zu welchem Ende Produkte und Imaginationen, Technik und Visionen, Waren und Wissen Grenzen überschreiten, um in einem entgrenzten Raum zu zirkulieren und ihr Eigenleben zu entfalten. Grenzen, das sind nicht nur, aber immer noch, nationale Grenzen. Begrenzt sind jenseits von Nationalitäten ganze Kulturen durch ihre historisch bedingten Strukturen, die wohl vieles, aber eben nicht alles zulassen. Durch Grenzen etablieren sich auch die sozialen Systeme der Gesellschaft, womit das Kreuzen der Grenzen nicht ausgeschlossen, aber ein heikler, die Autonomie der beteiligten Systeme tangierender Vorgang ist. ...
Der Titel dieses Buches könnte täuschen. Er lenkt unser Augenmerk mit dem in über 50 Jahren in der Bundesrepublik zum geflügelten Wort etablierten »Gang nach Karlsruhe« zunächst zwar unweigerlich auf das Bundesverfassungsgericht. So trocken daherkommend scheint er aber eher auf eine der üblichen juristischen Handreichungen hinzuweisen, die erläutern, was es alles rechtlich zu berücksichtigen gilt, wenn man sich mit einem Begehren an dieses Gericht wenden will – wären da nicht der Autor des Buches und der Untertitel, die beide Geschichtliches zum Bundesverfassungsgericht ankündigen und damit neugierig machen ...
Im Märchen schläft Dornröschen so lange, bis ein Prinz sie wach küsst. In der Rechtsgeschichte warten viele ehemals prominente Juristen darauf, dornröschengleich von einem Doktoranden erweckt zu werden. Christoph Mauntel will den Schwaben Carl Georg v. Wächter wieder ins rechte Licht rücken. Programmatisch darf sich Mauntel nicht nur über seinen Doktorvater Hans-Peter Benöhr dem Netzwerk der Frankfurter (Historischen) Schule zurechnen. ...
Ausgelöst durch die Folter im Gefängnis von Abu Graibh, die Folterandrohung durch den damaligen Polizeipräsidenten von Frankfurt/Main und die Neigung (nicht nur) bei Studierenden, Folter nicht immer und überall als Unrecht anzusehen, geht es darum, Schlussfolgerungen aus den sozialpsychologischen Experimenten von Milgram und Zimbardo für die Kriminalwissenschaft zu ziehen und zu zeigen, dass institutionelle Verhältnisse oft kriminogen sind, insbesondere auch deswegen, weil das Unrechtsbewusstsein und damit die Gewissensfunktion geschwächt und gestört wird. Nicht nur Folter, sondern auch viele andere Handlungen werden nicht mehr als Unrecht erkannt.
Das Buch entstand in einem Team, dessen Mitglieder durch einzelne Beiträge und Diskussion zu seiner Entstehung beitrugen: Sabina Bott, Jens Dallmeyer, Jasmin Koçak, Sevim Kurt, Anja Schiemann, Alexander Stein.
Ein juristisches Zeitalter wird besichtigt. Ein Franzose beschreibt und analysiert die Geschichte des bedeutsamen deutschen juristischen 19. Jahrhunderts, das im Allgemeinen vorrangig als ein Jahrhundert der Rechtswissenschaft wahrgenommen wird. Jouanjans Beschreibung ist umfassender angelegt, geschieht mit großer Sorgfalt, kenntnisreich und mit kritischer Sympathie, "comme on lit des romans policiers". Das ist aus der Sicht deutscher puristischer Wissenschaftsbetrachtung ein ungewöhnliches Vorgehen und macht auf eine Untersuchung der Geschichte der deutschen juristischen Denk- und Gedankenwelt des vorletzten Jahrhunderts neugierig. In Analogie zum "roman policier" betrachtet Jouanjan die Geschichte des Denkens im Verhältnis von Opfern und Tätern, in Lebensläufen und Schicksalen, Fallen und Befreiungen, guten und schlechten Detektiven, im Streit der Theorien, Rechtfertigungen und Metatheorien, im Waffenarsenal der Ideen und Begrifflichkeiten. Mit diesem detektivischen Interesse beobachtet er die juristische Gedanken- und Vorstellungswelt, d. h. Normpyramiden, Person, Gesetz, Rechtsorganismus, – in fast poetischer Metapher gesagt – den "ciel étoilé des concepts" im Spiegel von Geschichte und Philosophie, kurz: "l’institution imaginaire du droit" mitsamt der Mythologisierung des "juristischen Logos". So ist dieses Buch auch gegen den Hochmut der Positivisten und einer reinen Praxis gerichtet, die sich glaubt selbst genügen zu können. Diesen "Geschichten" im deutschen juristischen Denken des 19. Jh. gilt das Interesse des Verfassers. Folgerichtig werden Privatrecht und öffentliches Recht gleichermaßen behandelt, indem die Wegstrecke von der Historischen Rechtsschule Savignys bis zu Georg Jellinek – beide könnten auch den Untertitel abgeben – abgeschritten wird. Jouanjans besonderes Interesse gehört – noch vor Savigny – jedoch Georg Jellinek. Über ihn hat er erst kürzlich eine umfassende Studie veröffentlicht. ...
Eine echte rechtshistorische Überraschung legt Karl Kroeschell vor – die erste Landesrechtsgeschichte seit rund hundert Jahren, sieht man von der etwas anders gelagerten Schweizer Literatur ab. Folgt Kroeschell damit dem jüngeren Historikertrend, mehr auf Regionen als auf Staaten zu blicken? Die Entstehung spricht dagegen. ...
Wie lässt sich ein gemeinsamer Grund formen, der eine heterogene Gesellschaft verfassen kann? Ein Grund für alle. Keiner soll mehr dürfen, sein (haben) als der andere. Seit den Anfängen des Konstitutionalismus gewinnt der Gleichheitssatz an Fahrt und Gerechtigkeit wird nach und nach zu einer An-, Auf- und Abrechnungssache. Wer wem was und wie viel in Rechnung stellt, ist eine Frage, die an der jeweiligen Begründung hängt. Hierum kümmern sich die je befugten Teilsysteme des Rechts- qua Rechenbetriebes, wobei sich die dem Entscheid folgende gefährliche Begründung durch eine "Berechtigkeits"-Buchhaltung ergänzt bzw. – etwa nach dem Wegfall der peinlich gewordenen Schuldfrage im Scheidungsrecht – sogar beinahe ersetzt sieht. Begründungen sind nämlich immer prekär, provozieren den Widerspruch der Gegenseite, anstatt die Wogen zu glätten. ...
Das rhetorische Ensemble
(2006)
Auf dem Tisch liegt die zweite Auflage von Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968) von Claus-Wilhelm Canaris, erschienen Berlin 1983. Die schriftliche Fassung basiert auf einem rhetorischen und mündlichen Ereignis, seinem Habilitationsvortrag. Spuren davon finden sich noch im Text. Das gilt für die Spuren, die Rhetorik immer schon in nicht-mündlichen Texten wie der Schrift hinterlassen hat, also etwa in den Kompositionsregeln und den Regeln des Umgangs mit Figuren und Stil. Die rhetorische Spur findet sich darüber hinaus an herausragenden Stellen in den kurzen Hinweisen und Adressen, die scheinbar außerhalb der eigentlichen Schrift selber stehen. In einem Fall findet sich z. B. in Kursivschrift eine Widmung an den verehrten Lehrer Karl Larenz, in einem anderen erinnert der Autor daran, dass der Vortrag am 20. Juli gehalten wurde. Es sind kurze und knappe Hinweise auf denMoment, an dem ein Jurist eigenständig, zu seinem autonomen System wird und eine eigene Lehrbefugnis erhält. Sie sind noch rhetorisch, weil sie in ihrem Aufspüren von Referenzen an den Lehrer und an historische Daten vollziehen und reflektieren, was sich in solchen Augenblicken geziemt. Sie begegnen einem an der Schwelle des Textes – also kurz bevor man sich auf die sachliche Ordnung des Textes einlässt. An der Schwelle wird die letzte Gelegenheit ergriffen, dem Text eine genealogische Adresse zu verleihen. Es sind (um selbst rhetorisch zu werden) letzte Tankstellen vor der Autobahn. Sie markieren keine Systembrüche, sie markieren den Eingang in den Text, der sich in einer rhetorischen Transmission positioniert. In der Architektur der Argumentationsführung sind diese Stellen der Bogen, der durchschritten wird, unmittelbar bevor die Lektüre beginnt – oder mit denen die Lektüre beginnt. Das hängt schon davon ab, wie man Rhetorik vom System abgrenzt. ...
Als allererste synthetische Darstellung der vollständigen Rechts- und Verfassungsgeschichte Osteuropas stellt Küppers Buch eine beachtenswerte Leistung dar, deren Stärke eine getreue Schilderung rechtshistorischer Fakten bildet. Hin und wieder gelingen Küpper aber auch tiefschürfende, obgleich nicht immer ganz neue, analytische Einsichten, etwa dass Ostmitteleuropas bis heute nachwirkende Rückständigkeit auf den sogenannten zweiten Feudalismus zurückgehe, in dessen Folge Böhmen, Ungarn und Polen im 16. – 18. Jahrhundert in verschiedenem Maße ihre Unabhängigkeit eingebüßt haben (24 f.). Die daraus entstandene "Staats- und Rechtsferne der Bevölkerung" gelte erst recht für das ein halbes Jahrtausend lang von den Osmanen beherrschte Südosteuropa (27), dem Küpper außerdem in der nachfolgenden Nationalstaatenperiode des 19. Jahrhunderts das starke Auseinanderklaffen des Modernisierten in den Städten und des Alten auf dem Lande treffend attestiert (368, 397). ...
Es ist eine besondere Pointe der Theorieschöpfung Thomas S. Kuhns, dass man im Wissenschaftsdiskurs nach schnellem Abschied vom "Fortschrittsdenken" nunmehr in den "Paradigmenwechsel" geradezu vernarrt zu sein scheint – fast täglich kippen die Paradigmen wie die Pappkameraden, Paradigmenwechsel ist immer und überall. ...
Alter im Recht
(2006)
"Die Menschen jedoch vor dem fünfundfünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahr in den Ruhestand zu schicken, scheint mir nicht allzu sinnvoll. Ich fände es im öffentlichen Interesse besser, die Dauer unsrer beruflichen Tätigkeit soweit wie nur irgend möglich zu verlängern. Den Fehler macht man meines Erachtens am anderen Ende: indem man uns nicht früh genug tätig werden lässt. … Ich beklage mich hier also nicht deswegen über die Gesetze, weil sie uns zu lange zur Arbeit anhalten, sondern weil sie uns zu lange davon abhalten."
Wer könnte das gesagt haben? Der Satz, der Assoziationen an einen Politiker oder Arbeitsmarktexperten unserer Tage weckt, stammt von Michel de Montaigne. "Über das Alter" lautet der Titel des Essais aus dem Jahr 1580. Der institutionalisierte Lebenslauf, der mit Hilfe von Altersgrenzen, altersspezifischen Normierungen und staatlichen Altersversorgungssystemen das Erwerbsleben zur zentralen Lebensphase macht, wird hier bereits angedeutet. Die im Laufe seiner Etablierung ab 1750 geschaffenen Lebensphasen der Jugend und des Ruhestands werden bei Montaigne dagegen nur ansatzweise als rechtlich schützenswert gedacht. ...
Die Geschichte des Alters ist jung, jünger als die Geschichte der Jugend. Die historische Betrachtung einer Lebensphase hat Konjunkturen, die den gesellschaftlichen und demographischen Entwicklungen folgen. Stand die Geschichte der Jugend lange unter dem Vorzeichen einer als hochpolitisch begriffenen Generation vor und nach 1968, so wurden die gleichen geburtenstarken Jahrgänge in letzter Zeit eher als die erste konsumfreundlich alternde Kohorte ("best agers") von Werbefachleuten in den Blick genommen. Vor allem die demographische Entwicklung westeuropäischer Gesellschaften steht nun Pate für die Konjunktur der sozialgeschichtlichen Forschung zum Alter. Zwei methodische Ansätze können unterschieden werden. Ein Breitbandansatz sammelt Bilder, Märchen und Fabeln, betrachtet Theaterstücke und Bauernschwänke, vertieft sich in wichtige geistesgeschichtliche Dokumente und betrachtet die ökonomische Situation älterer Menschen. So entstehen oft reich bebilderte Werke wie etwa die Geschichte des Alters von Peter Borscheid oder die Kulturgeschichte des Alters von Pat Thane. Nach der Lektüre hat man einen guten Eindruck von der Aufladung der Altersbilder durch biblische Mahnungen, den immer wiederkehrenden Stereotypen von Weisheit und Verfall und den Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. ...
Es ist wirklich nicht zum Lachen: ernsthaft aussehende Männer, bärtig, dunkel. Fundamentalisten nennt man sie, im Westen, und eine fundamentale Anspruchshaltung haben sie in der Tat. Der Mitgründer der Islamischen Heilsfront, der "Großinquisitor" oder auch "algerischer Savonarola" genannte Ali Benhadj, hat es nach seiner Entlassung aus langjähriger Haft in Algier klar gesagt: "Da wir ein muselmanisches Volk sind, kann es bei uns keinen Widerspruch geben wie im Westen. Der Koran ist die höchste Referenz … Die Leute des Buches – die Christen und die Juden – dürfen in der muselmanischen Gesellschaft ihre Religion praktizieren. Aber wir sind gegen diejenigen unter ihnen, die sich unter Ausnutzung der Schwäche der Unwissenden in Kämpfer verwandeln und Muslime konvertieren … Das sind Spione und Geheimagenten" (Interview Le Monde vom 4. April 2006). Widerspruch zwecklos. Ali Benhadj trägt keinen Bart. ...
Pourquoi Legendre?
(2006)
Das ist noch vornehm formuliert. Kommt man hierzulande auf Pierre Legendre zu sprechen, dann fallen die Kommentare von Verwaltungsrechtlern und Rechtshistorikern, also den Fachkollegen des französischen Gelehrten, drastisch aus. Vornehme Zurückhaltung wird kaum geübt, gefragt wird auch nicht, das Urteil steht fest: eine besonders spinnerte Spielart von French Theory. Man kennt das Verurteilungsspiel, meist sind Franzosen Objekte des Insults: Foucault – ein nihilistischer Phantast; Derrida – der Verderber unserer Jugend; Baudrillard – der Weltauflöser. Natürlich sind dies nicht die Urteile der modebewussten Intellektuellenschickeria, sondern des deutschen Normalprofessors, bei dem allenfalls der eher bodenständige, nachgerade empiristische Bourdieu durchgehen mag. ...
Luciano Canforas Buch "La democrazia. Storia di un’ideologia" ist in Deutschland bereits wegen seines Titels in Misskredit geraten. Demokratie als "Geschichte einer Ideologie" zu präsentieren, deute – so die FAZ vom 21. November 2005 – auf ein "Pamphlet" hin, denn die Demokratie sei, zumindest nach "unserer Alltagswahrnehmung", gerade der "Sieg über alle Ideologien". Weil Canfora den ideellen Stellenwert der Demokratie unserer Alltagswahrnehmung ganz offensichtlich nicht anzupassen gedenkt und die Begriffe Freiheit, Demokratie, Diktatur in einem eigenwilligen historischen Kontext interpretiert, hat sich der Verlag C.H. Beck geweigert, seinen mit Canfora abgeschlossenen Verlagsvertrag einzuhalten. Eine Vertragsauflösung hat im Rechtsleben durchaus nichts Dramatisches; im vorliegenden Fall bekommt sie allerdings dadurch ein spezifisches Gewicht, dass Canforas Geschichte der Demokratie zur Publikation in der vom französischen Historiker Jacques Le Goff herausgegebenen Reihe "Europa bauen" vorgesehen war und das Buch (in der jeweiligen Landessprache) in Frankreich, Italien, Spanien und England bereits erschienen ist. Ein deutscher Sonderweg also, dieses Mal im Verlagswesen? ...
Thomas Horstmann und Heike Litzinger haben ein bemerkenswertes Buch mit dem – zunächst irritierend – weit gefassten Titel "An den Grenzen des Rechts" herausgegeben. Erst der Untertitel "Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen" konkretisiert das Thema. Es geht um die Frage der strafrechtlichen Behandlung von Systemunrecht: ob und inwieweit NS-Verbrechen mit rechtsstaatlichen Instrumentarien abgeurteilt werden können. ...
Einst, so sagen manche, gab es nur ein Gesetz, Gottes Gesetz, das gleichzeitig und ununterschieden in der Natur, unter den Menschen, auf der Erde und im Himmel galt. Dann aber teilte sich das Gesetz vielfach: in die Gesetze der Natur, des Gottes, des Rechts, der Wissenschaft, der Geschichte … Die Geschichte ist nicht zu Ende. Und so vermag die Frage nach der Pluralität von Gesetzen und Gesetzlichkeiten immer noch zu interessieren, besonders für den Fall, dass die Gesetze miteinander ins Gehege kommen, einander widerstreiten und ihren je eigenen Anspruch auf universale Geltung behaupten. ...
Wenn in deutscher Gegenwart über Rhetorik gesprochen wird, dann darf man davon ausgehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch die packende Geschichte ihres weiland unrühmlichen Unterganges und ihres alsdann strahlendenWiederaufstiegs erzählt wird. Es ist eine sehr schöne Geschichte, denn sie lässt sich lang oder kurz erzählen, sie kann personalisiert und dramatisiert werden – etwa: wie die bedeutenden Bürger Kant und Goethe, obwohl selbst große Rhetoriker, hässliche Dinge über das "Wortgeklingel" verbreiteten, aber am Ende doch nicht Recht behielten –, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitungen mit "Aufklärung" und "Naturwissenschaften" und "Positivismuszeitalter" bis hin zu "Renaissance" und "Ubiquität der Rhetorik" etc. sind jederzeit möglich.
Gewiss, bei näherem Zusehen ist manches an der Geschichte so ganz richtig nicht. Wie immer, wenn man in DER Geschichte zu "genau" wird, erweist sich das Gespinst leicht als undicht und brüchig. Aber das kann und darf den echten Historiker, auch den Wissenschaftshistoriker, nicht davon abhalten, seine Geschichten immer wieder zu erzählen, denn dafür hat ihn die Gesellschaft bestellt.
Das Knäuel; auch: "der Knäuel". Ein schönes, sehr altes, deutsches Wort. Bezeichnet einen wenig konturierten und unstrukturierten Haufen, meistens einen in kugeliger Form aufgedrehten Faden. Vor dem inneren Auge aller Katzenfreunde erscheint das herumgeschubste Wollknäuel. Plural? "Die Knäuel" (neutrum und maskulin). So habe ich das gelernt.
In einem Aufsatz lese ich: "Stützungsknäule". "Knäule"? Ein Druckfehler? An herausgehobener Stelle eher unwahrscheinlich. Habe ich es mit einem willfährigen Gefolgsmann der dümmlich erneuerten deutschen Rechtschreibung zu tun? Der Text spricht nicht für diesen Verdacht. Vielleicht irre ich? Also: Wörterbücher! Der Wahrig (von 1986) schweigt. Der Duden referiert lakonisch: Plural: "Knäule". Kaum zu glauben. Allerdings ist dieser Duden reichlich veraltet. 13. Auflage 1948. Etwa zu der Zeit dürfte ich das Wort bewusst gelernt haben – jedoch, wie es scheint, falsch. Ein neuerer Duden ist nicht zur Hand. Aber man setzt seine Hoffnungen ohnehin besser gleich auf die Meister. Was sagt der Grimm? "der plural ist knäuel" Na bitte! Es folgt leider: "landschaftlich auch knäule". Also meinetwegen – "Knäule", falls es denn die Landschaft des Autors so will. Das Wort dürfte ohnehin dem Untergang geweiht sein. Richtige Deutsche sagen vermutlich dort, wo sie Knäuel sagen müssten, schon längst "cluster". ...
Zum Recht des Auftrags
(2006)
"All diese Aufgaben hat der Rechtshistoriker zu lösen. Erfüllt er diesen Auftrag nicht…," ja, was dann? Wird er verhaftet oder verachtet? Droht ihm die Todesstrafe oder löst er sich in Luft auf? Jedenfalls muss der Rechtshistoriker wissen, dass er als Beauftragter "für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts" haftet (Art. 398 Abs. 2 OR2). Das kann teuer werden. ...
Vom Raum zur Zeit
(2006)
"Transfer", die Debatte des 7. Bandes von "Rechtsgeschichte", wird in diesem Band fortgesetzt. Die Beiträge konzentrieren sich, wie es einer rechtshistorischen Zeitschrift angemessen ist, auf den Transfer von Recht, auf Bewegungen und Mutationen des Rechts im transnationalen Raum (Amstutz /Karavas), auf historische Prozesse von "Kontaminierungen" lokaler und nationaler Rechte (Monateri), auf den Rechtstransfer im "Ausnahmezustand" der Kolonien (Nuzzo), auf das merkwürdige Schicksal transferierter isolierter Normen in neuer Umgebung (Rudokvas) und auf das Experiment, durch Transfer und Zirkulation von Normen und Prinzipien ein europäisches Verfassungsrecht zu konstituieren (Seckelmann). ...
"… non do una traduzione" (Dieter Nörr). Das ist gut so. Denn das unverständliche punische Geplapper des Hanno: "ythemanethihychirsaelychotsithinaso" im "Poenulus" des Komödiendichters Plautus ist Teil der Komödie. Das zweite Buchstabenungetüm "uocationitantestaminigitur" können Kenner (so auch Gianfranco Lotito) hingegen schnell sezieren und ergänzen: (si in ius) vocat, ito. ni it, antestamino. igitur (em capito): "Wenn er vor Gericht lädt, soll er gehen.Wenn er nicht geht: vorher Zeugen rufen. Sodann ergreifen" – oder so ähnlich. Jedenfalls Tafel I 1 des Zwölftafelgesetzes aus dem 5. Jh. v. Chr., restituiert aus Porphyrios (3. Jh. n.Chr.). ...
Die vorliegende Münchner historische Dissertation untersucht am Beispiel der letzten Generation der Reichskammergerichtsassessoren die Wahrnehmung und Verarbeitung der Auflösung des Alten Reiches und die Bewältigung dieses epochalen Umbruchs durch die ehemaligen Richter bis in die Zeit des Deutschen Bundes hinein. Es geht folglich um Auflösung und Transfer eines Rechtssystems, das Mader am Beispiel der Bewältigungsstrategien der rund 20 Kammerrichter und ihrer Nachkarrieren detailliert rekonstruiert. Zwar fällt die Kritik des Verfassers an der "Untergangsorientierung" der Forschung zu einseitig und pauschal aus – denn diese hat das Funktionieren der Reichsverfassung auch in ihrer letzten Phase differenziert herausgearbeitet. Zutreffend ist jedoch, dass Fortwirkung, Kontinuität und Transfer des Alten Reiches, seines Rechts, seiner Institutionen und seiner Funktionsträger noch stärker erforscht werden sollten. ...
Protestanten haben keine Beichtstühle. Allfällige Bekenntnisbedürfnisse müssen sie deshalb öffentlich befriedigen. "Credo: Ich lehre Systematische Theologie und Ethik in einer Evangelisch- Theologischen Fakultät, verachte klerikale Moralrechthaberei (die es in allen Glaubensgemeinschaften gibt), schätze Geistesstreit als Klärungschance und sehe in individueller Freiheit das höchste innerweltliche Gut. Die Koordinaten meines Sehepunktes werden markiert durch liberalen Kulturprotestantismus, Kantischen Republikanismus und fanatismusresistenten Denkglauben …" Ein umfassendes Geständnis. Was Friedrich Wilhelm Graf sonst noch schätzt oder verachtet, erfährt man aus seinem zierlichen, mit schönen Bildern verzierten und mit heißer Feder geschriebenen Buch "Moses Vermächtnis". ...
Dass die Gegenüberstellung von Naturrecht und Rechtspositivismus kein sinnvolles Gegensatzpaar zur Analyse der rechtswissenschaftlichen Positionen um 1900 ist, sollte mittlerweile Gemeingut geworden sein. Wie man stattdessen argumentieren könnte und zugleich der Forschung ganz neue Untersuchungsfelder erschließt, illustriert die ausgezeichnete Arbeit von Sigrid Emmenegger, die hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und in ihrer Klarheit und Dichte für andere Qualifikationsschriften vorbildlich sein sollte. Sie untersucht in ihrer Freiburger Dissertation die reizvollen, aber wenig bekannten Diskussionen über "gute Gesetzgebung", die in den Jahren um 1900 in der deutschen Rechtswissenschaft stattgefunden haben. Diese Diskussionen umfassten – mit verschiedenen Akzentuierungen – sowohl Strafrecht, Zivilrecht als auch das öffentliche Recht. Emmenegger systematisiert den zeitlichen Verlauf und die Anliegen der Autoren. Ihre Argumentation ist dabei sehr transparent, sie zitiert ausgiebig und treffend. Überhaupt staunt man über die Dichte und Reichhaltigkeit des Materials, das sie gesammelt und analytisch durchdrungen hat. Bereits auf diese Weise widerlegt sie so ganz nebenbei das Vorurteil, eine Gesetzgebungslehre sei erst in den 1970er Jahren entstanden. Zugleich erhellt sie vielfach grundlegende inhaltliche und methodologische Differenzen der damaligen Diskussion gegenüber heutigen Stellungnahmen. ...
Nonostante una carrieraaccademica costruita e fondata nellaScienza del diritto, "in quanto giurista" Max Weber viene pochissi-mo preso in considerazione, in particolare proprio daparte della ri-cerca tedesca. Si cercheràqui di mostrare, partendodalla sua Dis-sertazione in Storia del diritto, l’impronta ricevutada Weber dal-l’ultima fase della Scuola storica e il significato che ciòebbe per il suosuccessivo lavoro come sociologo del diritto ma anche per il tipoparticolare della sua costruzione concettuale sociologica. ...
Als der oströmische Kaiser Theodosius II. in den Jahren 429 bis 438 nach Christus eine umfassende Rechtssammlung in Auftrag gab, rechnete er sicher damit, dass er eine schwierige Aufgabe in Angriff nahm. Das Recht – einst ein, wenn nicht das effektivste Herrschaftsinstrument des Imperium Romanum – hatte seine Wirkungsmacht weitgehend eingebüßt. Die Rechtsquellen waren unzugänglich oder unbekannt geworden und uneinheitlich in ihrem Geltungsanspruch. Sie hatten mit der administrativen Teilung des Reichs in Ost- und Westrom zumindest die Hälfte ihres Geltungsradius eingebüßt. Die zwei privaten Rechtssammlungen von Kaisergesetzen aus der Zeit Diokletians, der Codex Gregorianus und der Codex Hermogenianus, die aus dem letzten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts datieren, waren veraltet und ergänzungsbedürftig. ...
Charles Dickens wusste, was es bedeutet. Ihm selbst blieb dieses Schicksal zwar erspart, nicht aber seinem Vater. Der geriet in Schuldhaft (debtor’s prison), so wie der Vater von Little Dorit in Dickens’ gleichnamigem Roman. Von so etwas handelt Breßlers Buch. Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde die Aussage, jemand hafte (persönlich) für seine Schulden, sehr wörtlich genommen. Später haftete nicht mehr der Schuldner in Person, sondern nur sein Vermögen, und nach heutigem Recht ist Haft im Zusammenhang mit Schulden nur in Ausnahmefällen möglich. ...
Vallerani bürstet in seinem konzisen Band liebgewordene Forschungsvorverständnisse zur Entwicklung des mittelalterlichen gelehrten Prozessrechts wie auch sich paradigmatisch gebende neuere Forschungsansätze gegen den Strich. "La giustizia pubblica medievale" ist das an ein breiteres Publikum gerichtete und daher thesenfreudigere Pendant zu seiner quellengesättigten Studie der Strafgerichtsbarkeit in Perugia im 13. Jahrhundert. Bologna und Perugia sind aufgrund ihrer bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückreichenden gerichtlichen Dokumentation nahe liegende Referenzstädte. So setzt das serielle Prozessschriftgut aus den klassischen mittelalterlichen Großstädten Florenz und Venedig erst knapp einhundert Jahre später ein. Daneben aufgrund ihrer Verfassung als Regime mit Herrschaft des popolo zu Recht ausgewählt, eignen sich Bologna und Perugia hervorragend als Untersuchungsfelder für Valleranis zentrale Untersuchungsinteressen: Was war das Öffentliche am mittelalterlichen Strafprozess? Wie lief der Anfang des 13. Jahrhunderts durch die mittelalterliche Rechtskirche "erfundene" Inquisitionsprozess im rein weltlichen Kontext zweier italienischer Kommunen ab? Wie konnte öffentliche Strafgerichtsbarkeit im charakteristisch dichten Institutionengeflecht der mittelalterlichen Stadt einerseits zu einer Befriedung sozialer Konflikte beitragen, andererseits aber auch durch aufbrechende Klassengegensätze instrumentalisiert oder paralysiert werden? ...
Raymond Queneau, nach wie vor allseits bekannt durch Zazie dans le métro, legte vor 46 Jahren ein schmales zehnseitiges Werk vor. Bis heute hat kein Mensch auf der Welt es ganz lesen können. Selbst bei unablässiger Lektüre bei ganz durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit brauchte ein Einzelner weitere hundertneunzigmillionenzweihundertachtundfünfzigtausendsiebenhundertfünf Jahre dazu. Das Werkchen heißt Cent mille milliards de poèmes. Es handelt sich um zehn Sonette, deren je 14 Zeilen längs in Streifen geschnitten sind, so dass sie einzeln durchgeblättert werden können, womit der Leser 10 hoch 14 Sonette aufschlagen und kombinieren kann. Am Anfang steht der König: Le roi de la pampa retourne sa chemise. ...
Dieses Jahr ist ein Jahr des Schreckens. Fast Tag für Tag empört sich die Zeitungswelt in der lautesten Weise über vermüllte Kinder, Gefolterte, mit dem Koran verprügelte Frauen, Begnadigungen der besonderen Art, Geruchsproben von Meinungsäußerern, Schrottimmobilien, Großkapital und Erbschaften, Dopingtäter, Schrottpublikationen. Ein typographisch gedehntes Greinen über die Vielzahl von Schlechtigkeiten der Menschen. Was tun? ...
Der Titel der von Wolfgang Form und Theo Schiller herausgegebenen zwei Bände "Politische NS-Justiz in Hessen" scheint auf eine Darstellung des justiziellen Systems im nationalsozialistischen Staat im formellen und materiellen Sinn zu verweisen. In einem totalitären Staat kann jedem Sachgebiet politischer Charakter zukommen; politisch ist – wie Ernst Fraenkel formuliert –, "was die politischen Instanzen für politisch erklären". Aufschluss über den Inhalt beider Bände gibt der Untertitel "Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933–1945 sowie der Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34)". Deutlich wird, dass Thema der außerordentlich umfangreichen Studie von 1230 Seiten die strafverfahrensrechtliche Organisation in Hessen während des Nationalsozialismus ist...
Wer kennt es nicht, das gute alte Vexierbild? Das Auge erlebt einen Spagat zwischen zwei Darstellungen im selben Bild, von denen, je nach Betrachtungsweise, mal die eine, mal die andere im Vordergrund steht. Ein ähnliches Gefühl stellt sich ein, wenn man den Titel des vorliegenden Sammelbandes betrachtet, der 15 Blicke deutscher und französischer Historiker, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Juristen bietet – auf den eigenen Staat, den des Nachbarn oder beide gleichzeitig. Der deutsche Titel kündet von den "Figurationen des Staates in Deutschland und Frankreich", Bezugszeitraum 1870 bis 1945. So weit, so gut. Der französische, nur eine Zeile weiter unten, spricht hingegen von "Les figures de l’État en Allemagne et en France". Ein Übersetzungsfehler? Mitnichten. Ein Programm. So wie sich die Beiträge des Bandes in der Sprachkombination aus Deutsch und Französisch erschließen, erschließt sich sein Titel aus der Zusammenschau: Figuren und Figurationen. ...
"Ci-ce-ro! Ci-ce-ro!"
(2007)
"Journalistisch" ist ein Prädikat, das, wenn es von seriösen deutschen Wissenschaftlern verliehen wird, einen abfälligen, geringschätzigen, wenn nicht sogar hochnäsigen Klang hat. "Flotte Schreibe", die jede noch so gediegene Tageszeitung von ihren Autoren erwarten darf oder erwarten sollte, ist, wenn sie einem Habilitanden im Gutachten attestiert wird, ein fast schon tödliches Verdikt. Je flotter, desto näher rückt der Schreiberling dem Urteil, das Theodor Mommsen schon über Cicero verhängte: "eine Journalistennatur im schlechtesten Sinn des Wortes …" Um nicht in den Abgrund solcher Verdammung zu fallen, bewegen sich Historiker in Zeiten, die trotz allem "Sichtbarkeit" verlangen, zuweilen auf einem Schleichpfad: Sie schreiben Biographien und Sammelbände mit Biographien. Da darf man ein bisschen flott und populär und journalistisch sein. Weil ja große Männer im Grunde genau so menschlich sind, wie es die Julia in Lore-Romanen ist. ...
Was kann einem die Sicherheit verschaffen, vom Besonderen und nicht vom Sonderlichen auf das Allgemeine zu schließen? Da tat sich nach 1990 ein Aktenfund im Holzkeller eines vormaligen DDR-Gerichts auf; aber kann man mit Verfahrensakten eines Kreisgerichts (KG) eine Justizgeschichte für das ganze Land schreiben? Es blieb allerdings nicht bei den Verfahrensakten und auch Generalakten des KG "Lüritz". ...
Jon Elster hat sich in der rational choice-Theorie durch Studien zu Selbstbindungstechniken als Absicherung gegen Irrationalitäten im Entscheidungsprozess einen Namen gemacht. Passend zu diesem Theoriehintergrund untersucht Elster in seinem Buch "Die Akten schließen" Entscheidungsmöglichkeiten nationaler Gesellschaften, mit dem Irrationalen umzugehen und gesellschaftliche Umbrüche zu bearbeiten. Elster geht es darum zu zeigen, dass die Art und Weise, wie Gesellschaften ihre offenen Rechnungen nach Regimewechseln begleichen, höchst unterschiedlich ist. Darum trägt er unterschiedliche Formen der "Vergangenheitsbewältigung" zusammen und setzt sie miteinander in Bezug. ...