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Der Band ist das Ergebnis einer Tagung, die vom 22. bis 24. Juni 2006 in Trient abgehalten worden ist. Einleitend weisen Diego Quaglioni und Gerhard Dilcher auf den Nutzen des Austauschs zwischen italienischer und deutscher Geschichtswissenschaft auf dem Feld der kaiserlichen Gesetzgebung der Staufer hin, insbesondere in Bezug auf die roncalische Gesetzgebung. Dilcher verweist auf die komplizierte Überlieferung und den ambivalenten Charakter der einzelnen roncalischen Gesetze, in denen sich mittelalterliche und deutsche Rechtstraditionen mit römisch-justinianischen Traditionen unter einem neuen Ordnungs- und Gesetzgebungswillen des Herrschers vermischten. ...
Der umfangreiche Aufsatzband fokussiert die historischen Zäsuren, die die Zerstörungen der beiden Weltkriege im Bereich von Architektur und Städtebau in Europa veranlasst haben. Die Verwüstungen von historischen, identitätsstiftenden urbanen Entitäten hatten unterschiedlichste Wiederaufbaudiskurse und -maßnahmen zur Folge, die prägend für das Erscheinungsbild und die funktionalen Strukturen zahlreicher europäischer Kommunen jeden Größenmaßstabs – vom nordfranzösischen Dorf Gerbéviller bis zur niederländischen Metropole Rotterdam – geworden sind. Das wesentliche Kriterium des Wiederaufbaus stellte nicht eine als außerhalb von Ort und Zeit gedachte architektonische und urbanistische Innovation dar, deren Hauptanliegen es war, Stadträume gewandelten Lebensbedingungen anzupassen. Im Gegensatz zu dieser landläufigen Auffassung betonen die Herausgeber zu Recht, dass beim Wiederaufbau immer und notwendigerweise Geschichte und Zukunft in je unterschiedlicher Weise vermittelt wurden. ...
Die umfangreiche Studie zum Angestelltenwohnungsbau in der Weimarer Republik muss in zweifacher Hinsicht als bemerkenswertes Novum gelten: zum einen ist ein Gesamtüberblick in dieser Perspektive bisher höchstens ansatzweise geleistet, zum anderen handelt es sich um den in der Kunst- und Architekturgeschichte bislang seltenen Fall, dass ein Spezifikum der Weimarer Republik – der kollektive Siedlungsbau – nun in kompetenter Weise von der französischen Forschung beleuchtet wird. Das fachübergreifende Interesse steht außer Frage: Denn es ist eben die soziale Schicht der Angestellten als essentiellem Bestandteil der gesellschaftlichen Modernisierung, die über ein neues Berufsverständnis und neue Mentalitäten entscheidenden Anteil an den Transformationen in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jhs. hat bzw. diese hervorbringt. Entsprechend kann der berühmte, aber soziologisch bislang unzureichend differenzierte Siedlungsbau zu Recht einer spezifischen Angestellten-Wohnkultur zugerechnet werden. ...
Der von Olga Moskatova, Sandra Beate Reimann und Kathrin Schönegg herausgegebene Sammelband "enseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst" will die starre Dichotomie von Abstraktion und Körperlichkeit bzw. die reduktionistische Auffassung von Abstraktion als Entkörperlichung hinterfragen, wie sie sich etwa in den Schriften Wilhelm Worringers findet. Wie starr der Gegensatz zwischen Abstraktion und Körperlichkeit erscheint hängt jedoch stark davon ab, was man unter dem Begriff der Körperlichkeit genau versteht. So kann sich dieser auf eine räumlich konstruierte figurative Repräsentation von Körpern beziehen, oder aber auf die Physis des Artefakts bzw. den Leib der Produzierenden und/oder Rezipierenden dieses Artefakts. Dies impliziert aber gänzlich verschiedene Ebenen von Körperlichkeit. Hat sich die Opposition von Abstraktion und Körperlichkeit im Sinne einer räumlich-figurativen Repräsentation mittlerweile als Topos konsolidiert, so ist die Annahme einer strikten Gegenüberstellung von Abstraktion und Körperlichkeit – nun im Sinne einer materiellen/sinnlichen Fülle und Dichte – schon weniger geläufig. Wie von den Herausgeberinnen in ihrer Einleitung selbst betont wird, hat gerade die Abstraktion von einer räumlich-figurativen Körperdarstellung wesentlich zu einer Hervorkehrung des materiellen Substrats des Artefakts (seines "material support") bzw. einer Betonung der leiblichen Involvierung von Produzierenden und Betrachtenden beigetragen. Abstraktion vs. Körperlichkeit erscheint in dieser Hinsicht nur mehr als schwindender Gegensatz. Einen ähnlichen Effekt zeitigt auch das "Jenseits" in "Jenseits der Repräsentation", das sämtliche starre Gegenüberstellungen mit den Begriffen des Untertitels unterminieren soll. Ist dies bei Repräsentation und Körperlichkeit im Sinne von räumlich-figurativer Darstellung offensichtlich, so gilt es auch für die Ebene von Repräsentation und abstrakter Körperlichkeit, wobei Körperlichkeit nun die Widerspenstigkeit des Materials bezeichnet, das die Repräsentation zwar aufbaut, aber nicht völlig in ihr aufgeht, sondern einen obstinaten Körper als Rest bildet, der sich gegen eine Semiose sperrt. Körperlichkeit erscheint unter diesem Blickwinkel als Kehrseite jeder Repräsentation, wie es Marcel Finke in seinem Beitrag über die "Reclining Figures" von Francis Bacon betont.
Gerade das Changieren des Begriffs Körperlichkeit zwischen unterschiedlichen Bedeutungen führt also zu einer Destabilisierung gängiger Dichotomisierungen – der Preis dafür ist jedoch eine an unterschiedlichen Stellen des Bandes immer wieder punktuell auftretende begriffliche Unschärfe, die durch eine Prüfung, was Körperlichkeit im jeweiligen Kontext der einzelnen Beiträge meint, zu kompensieren ist. ...
Der Titel "Portrayed on the Heart" von Cynthia Hahns vorliegender Publikation bezieht sich auf jene von Gregor den Großen formulierte didaktische Funktion von bildlichen Darstellungen, deren Verinnerlichung gleichsam auf eine Vervollkommnung des Menschen zielte. Dieser Aufgabe war auch die bildliche Hagiographie des Mittelalters verpflichtet, "in inducing a movement beyond words and images - in creating an effect on the soul." (S. 331) Die Frage, welche Bildstrategien entwickelt wurden, um von der Heiligkeit der dargestellten Person zu überzeugen, und wie die Bildrhetorik auf die Wahrnehmung von Heiligkeit Einfluß zu nehmen vermochte, versucht sie am Beispiel der illuminierten "libelli" des 10. bis 13. Jahrhunderts zu beantworten. Diese Handschriften stellten aufgrund ihres Bildprogramms eine eigene Gruppe innerhalb der oft auch schmucklosen "libelli" dar, welche verschiedene hagiographische Texte zur Verehrung eines Heiligen, wie die Vita, das Offizium, Hymnen und Gebete, enthielten. Die in "Portrayed on the Heart" analysierten "libelli" geben der Autorin die Möglichkeit, ihre bisher in verschiedenen Aufsätzen veröffentlichen Erkenntnisse zum Thema von Hagiographie und Bildnarration zu synthetisieren sowie Wesen und Stellenwert von Heiligkeit im frühen und hohen Mittelalter aus mediävistischer Perspektive theoretisch zu hinterfragen. In diesem Sinne stellt das Buch eine anspruchvolle Einführung in das Forschungsfeld mittelalterlicher Heiligkeit dar. ...
Mit dem vorliegenden Band haben sich die Herausgeber des Desiderats einer übergreifenden Analyse zur Musealisierung mittelalterlicher Kunst angenommen. Ihnen ist es gelungen, Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen aus musealen Sammlungen und Universitäten zusammenzubringen, die überwiegend in Fallstudien die Inszenierungspraktiken mittelalterlicher Kunst in verschiedenen europäischen Ländern beleuchten, womit ein breites geographisches Feld abgesteckt ist. Der mit einem abschließenden Register ausgestattete Band führt die insgesamt fünfzehn Beiträge in einer sich an den Untersuchungsfeldern orientierenden chronologischen Anordnung auf. Die Herausgeber begründen diese Entscheidung in der Einleitung damit, dass eine Systematisierung im Hinblick auf historische Modelle, ästhetische Bewertungen sowie Praktiken des Kuratierens kaum möglich gewesen wäre – Aspekte, die in mehr oder weniger allen Beiträgen zum Tragen kommen und dort oft ineinandergreifen (8). Auf eine Vorstellung der einzelnen Beiträge wird verzichtet, gleichwohl werden Konzept und Ziel des Bandes dargelegt und wesentliche, auch den Titel bestimmende Begriffe, wie etwa der der Musealisierung näher erläutert. Weitergehende, in der Erforschung von Wissensordnungen virulente Begriffe, wie der des Dispositivs, oder auch alternative historische Denkmodelle werden in den einzelnen Fallstudien aufgegriffen. ...
In der letzten Zeit sind eine Reihe von Büchern erschienen, in denen Kunstkritiker/innen und Kurator/innen ihre gesammelten Artikel veröffentlichen. Auch Isabelle Graws "Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts" liegt eine Reihe von Aufsätzen zugrunde, die in den 1990er Jahren in Zeitschriften wie Artis und den von Graw herausgegebenen Texten zur Kunst zu lesen waren. Allerdings hat Graw ihre kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Positionierung von Künstlerinnen im Betriebssystem Kunst in drei Kapiteln neu zusammengefaßt, so dass ein eigenständiges Buch entstanden ist. ...
Es war, zumindest für die Spezialforschung, ein veritabler Paukenschlag, als Claudia Märtl 2010 auf einer Münchner Tagung über das Ende der konziliaren Epoche mit einem unbekannten, genau zum Thema passenden Text aufwartete, den sie in einer Augsburger Handschrift entdeckt hatte: das Dreiergespräch "Agreste otium" des Martin Le Franc, der bis dahin fast ausschließlich durch seine moralisch-didaktischen Werke in französischer Sprache bekannt war, allen voran das allegorische Versepos "Le champion des dames" (1440–1442) sowie ein Streitgespräch zwischen Fortuna und Tugend, "L’Estrif de Fortune et de Vertu" (1447). ...
Auch nach mehr als 70 Jahren gehört die britische Appeasement-Politik zu den umstrittenen Themen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Schon im Zweiten Weltkrieg als "Guilty Men" bezichtigt, und dann nach 1945 von Churchill wortgewaltig als Schwächlinge und einfältige Toren an den Pranger gestellt, gelten Neville Chamberlain und seine Mitstreiter seinen Kritikern als Politiker, die die wahren Ziele von Hitlers Außenpolitik nicht erkannten und so seinem Machtzuwachs nicht rechtzeitig Grenzen setzten. Demgegenüber verweisen seine Unterstützer auf die begrenzten Möglichkeiten der britischen Außenpolitik, die einen härteren Kurs der Eindämmung nicht zugelassen hätten. ...
Seit Oktober 2010 reflektiert im Italienisch-Deutschen Historischen Institut in Trient eine Gruppe von Historikern über ein zentrales Problem der Geschichtswissenschaften, demjenigen der Epochen und der "Transitionen" zwischen diesen. Vom 11.–14. September 2012 veranstaltete das Institut hierzu eine Tagung, auf der erste Ergebnisse und Gedanken vorgestellt wurden. Der Sammelband versammelt die meisten der damaligen Vorträge. ...
Wer das zu besprechende Werk von Susan Richter zur Hand nimmt, wird beim Blick in das Inhaltsverzeichnis positiv überrascht. Die überarbeitete Heidelberger Habilitationsschrift erweist sich nämlich nicht nur, wie im Titel angekündigt, als eine Studie "[zur] Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung", sondern auch als ein Buch, das den Blick weit über den europäischen Horizont hinaus richtet: Versucht wird darin, die wichtige Rolle des chinesischen Kaisers und insbesondere des von ihm jährlich durchgeführten Pflugrituals für den physiokratischen und kameralistischen Diskurs herauszuarbeiten. Die Studie verschreibt sich somit einem transfergeschichtlichen Ansatz. Sie untersucht nebst den Schriften und Bildzeugnissen aus dem Umkreis von Kameralisten und Physiokraten auch deren Quellen – Berichte von Reisenden und Experten, vor allem aber die berühmten Jesuitenberichte aus China. ...
Der hier zu besprechende Band kann von Ansatz, Methode und Reichtum der inhaltlichen Ausführungen als ein gelungenes Beispiel des oftmals geschmähten Sammelbandformats gelten. Das Thema ist mit den Autostädten als besondere Form des Typus Industriestadt klar bestimmt. Die insgesamt zehn Beiträge sowie der einführende, den Band methodisch wie in die Forschungsperspektiven einordnende Aufsatz von Martina Heßler fügen sich zu einem detailreichen Mosaik mit zahlreichen erhellenden zum Teil auch überraschenden Ausführungen, die in der Tat neue Zugänge zum Themenfeld Industriestadt im 20. Jahrhundert öffnen. ...
"Dies sei die Geschichte eines Buches, es ist ein Buch über ein Buch". Mit diesen Worten eröffnet Cecilia Hurley ihre voluminöse und detailreiche Untersuchung zu Aubin-Louis Millins "Antiquités nationales ou Recueil des monumens pour servir à l’Histoire générale et particulière de l’Empire françois […]" (1790–1798). Der Verfasser verband mit dessen Veröffentlichung die Absicht, all die französischen Denkmäler und Bauwerke, denen nach ihrer Verstaatlichung durch die Nationalversammlung der voreilige Verkauf, Plünderungen und ikonoklastische Zerstörung drohte, zu retten, indem er sie abbildete und beschrieb. Am Ende lag eine präzise Dokumentation von historisch bedeutsamen französischen – also der Nation gehörenden – Denkmälern vor, die sowohl in Paris als auch in den Provinzen bzw. Departements zu sehen waren. Ebenso wurden aber einige aufgeführt, die bereits zerstört worden waren. Das fünfbändige Werk umfasste 23 Hefte, erschien bis auf wenige Ausnahmen im Monatsrhythmus und enthielt rund 325 Abbildungen. Millins Anliegen war es, allen "wahrhaftigen" Staatsbürgern die Geschichte Frankreichs vor Augen zu führen. Allerdings handelte es sich um keine exklusiv monarchische, kirchliche oder familiengenealogische Geschichte, sondern vielmehr um eine, die sich ebenso aus den bedeutsamsten wie auch aus zweitrangigen Geschehnissen zusammensetze. Die in den 61 Artikeln illustrierten Denkmäler – in primis die niedergerissene Bastille, gefolgt von Klöstern, Abteien, Schlössern sowie den in ihrem Innern befindlichen Denkmälern wie Grabmälern, Inschriften, Kirchenfenstern etc. – fungieren in Millins Werk als strukturierende Elemente, um die herum sich historische Erzählungen und Anekdoten ranken. Diese nämlich standen nicht im Mittelpunkt künstlerischer oder architektonischer Betrachtungen. Als Zeugnisse der Vergangenheit boten sie der Geschichte aber doch ihren Stoff: Es ging eben um monuments historiques. ...
Au milieu du beau livre d’Anna Karla, le lecteur tombe sur les réflexions du général François-Amédée Doppet qui, dans sa préface aux »Mémoires politiques et militaires«(1797), rapporte les conditions nécessaires pour écrire une histoire véritable de la Révolution française. À son avis, il faudra un écrivain impartial, éloigné du chaos des événements, qui, tout d’abord, rassemblera tous les souvenirs écrits par les protagonistes de la Révolution, jusque-là encore dominés par l’esprit de parti. Seul cet écrivain pourra, avec l’impartialité de l’historien, extraire de ces mémoires une histoire complète des bouleversements révolutionnaires. La vérité sur la Révolution, donc, ne pourra être formulée que longtemps après la fin de celle-ci. ...
"Heutzutage liegt es in der Verantwortung der Ingenieure, bessere Gesellschaften aufzubauen", schrieb Jean Coutrot im März 1939, "sie sind es, die über die notwendigen Methoden für diese Aufgabe verfügen, nicht etwa die Juristen oder Politiker". In Rationalisierung, Planung und Erziehung sahen Technokraten wie Coutrot die Lösung zu den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen der Nation. Seit den zwanziger Jahren mehrten sich in Frankreich Schriften, in denen der Management-Gedanke als universales Heilmittel propagiert wurde: Jede Tätigkeit könne und müsse durch Organisation verbessert werden. Denkfabriken wie die Bewegung Redressement français, die Gruppe X-Crise oder der Comité national d’organisation français bildeten laut Jackie Clarke das Rückgrat eines scientific organisation movement , in dem eine Elite von Managern und Technokraten Visionen einer rationalen sozio-ökonomischen Neuordnung Frankreichs entwickelte. ...
Die soziale Rolle der Prostitution kann als Ausgangspunkt dienen, um Rückschlüsse auf den Stand der Geschlechterhierarchie in einer Gesellschaft zu ziehen. In vielen historischen Studien wurde Prostitution als Symbol patriarchalischer Unterdrückung interpretiert; die Stigmatisierung, Kontrolle bzw. Verfolgung von Prostituierten standen stellvertretend für die Ausgrenzung und Unterdrückung von Frauen allgemein. Nach Ansicht von Victoria Harris geriet das Individuum dabei aus dem Blick. Insbesondere in feministischen Studien sei die Geschichte der Prostituierten als eine Geschichte von Opfern aufgeschrieben worden. Diese Sichtweise werde der Komplexität der einzelnen Lebensgeschichten aber nicht gerecht. Nicht die Diskurse um Prostitution will Harris daher erfassen, nicht die Idee oder Bedeutung von Prostitution, sondern das Individuum im gesellschaftlichen Kontext: die Lebenserfahrung der Prostituierten. ...
Wer Eugenik als "bürgerliche Pseudowissenschaft" oder "präfaschistisches" Element abtut, wird der Komplexität dieses historischen Phänomens nicht gerecht. Spätestens seit Michael Schwartz die Affinitäten zwischen deutschem Sozialismus und eugenischer Sozialtechnologien für die Jahre vor 1933 nachwies, steht außer Frage, dass diese Wissenschaftsbewegung unabhängig von der nationalsozialistischen Rassenhygiene analysiert und interpretiert werden muss. Nicht zwangsläufig war eugenisches Gedankengut mit rechtslastigen, rassistischen Ideologien verknüpft, auch im linken Lager fanden die Ideen Anklang. Dass es sich um keine homogene Strömung handelte, hat die internationale Forschung bereits aufgedeckt, indem sie je nach Nation ganz unterschiedliche Stilrichtungen ausmachte. Aufgrund der unterschiedlichen Wege, welche die Eugenik auf internationaler Ebene einschlug, bietet ihre Geschichte aber auch ein herausragendes Beispiel für die "soziopolitische Bedingtheit von Wissenschaftsentwicklung" (Michael Schwartz). Fasst man Eugenik als sozialtechnologisches Programm auf, das die Fortpflanzung bestimmter Bevölkerungsgruppen nach erbgesundheitlichen Kriterien zu steuern versucht, so wird zudem begreiflich, warum sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein weltübergreifender Trend ausbildete, der nicht notwendigerweise Euthanasie oder rassistische Züchtung anvisierte, sondern auch auf eine Präventivmedizin zum umfassenden Erhalt der Volksgesundheit abzielen mochte. Die Historisierung der Eugenik ermöglicht es, diese als Wissenschaft neu zu bewerten und ihrem Verhältnis zu Genetik, Demographie, Psychologie und anderen Disziplinen nachzugehen. ...
Prostitution war Anfang des 20. Jahrhunderts für Frauenrechtlerinnen kein selbstverständlicher Programmpunkt. Als 1902 auf dem Pariser congrès du travail féminin zwei Teilnehmerinnen versuchten, das Thema einzubringen, sorgte der Vorstoß für Heiterkeit und stieß unmissverständlich auf Ablehnung. Die Damen täten dem Feminismus Unrecht, wenn sie über Prostitution genauso debattieren wollten wie über Malthusianismus, lautete ein Zwischenruf. Ohne Zweifel fürchteten viele Frauen, ihrem Streben nach Gleichstellung zu schaden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit für die Rechte "leichter Mädchen" einsetzten. Wer zu viel über den Alltag und die Probleme von Prostituierten wusste, machte sich verdächtig und riskierte, den eigenen Ruf zu beschädigen. Umso erstaunlicher ist es, dass es schon Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen gab, die das Thema dennoch aufgriffen und die staatliche Reglementierung des Gewerbes in Frage stellten. ...
Kosmopolitismus ist kein Konzept, das für jedermann positiv besetzt ist, auch wenn dies die wohlklingende Bezeichnung "Weltbürger" zunächst vermuten lässt. Für George Cogniot, Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung "L’Humanité" repräsentierte der Kosmopolit vielmehr "die letzte Stufe kapitalistischer Unmenschlichkeit"; letztlich handele es sich um eine "weltweite zynische Ausbeutung entwurzelter Sklaven". Wer in den Koordinaten einer proletarischen Internationalen dachte, sah im Kosmopolitismus eher ein Konkurrenzprojekt des gehobenen Bürgertums. Schließlich war die Grundidee des Weltbürgertums eng mit der Aufklärung und dem Reisenden des 18. Jahrhunderts verbunden, mit den Vertretern der Oberschicht, die während einer Grand Tour die benachbarten Kulturen kennenlernten und dort weltgewandtes Auftreten erwarben. Der Großteil der historischen Studien, die sich mit der Geschichte des Kosmopolitismus beschäftigen, konzentriert sich auf diese Epoche. Dass dadurch ein wichtiger Umbruchpunkt in der Entwicklung des Kosmopolitismus ausgeklammert wird, verdeutlicht der vorliegende Sammelband von Ute Lemke, Massimo Lucarelli und Emmanuel Mattiato, in dem der Fokus auf die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gelegt wird. ...
Die umfangreiche und einem ausführlichen Quellenstudium entspringende Arbeit von Jakob Zollmann will sowohl der Entstehungs- als auch die Wirkungsgeschichte des völkerrechtlichen "Naulila"-Schiedsspruchs von 1928 nachgehen. Dieser Schiedsspruch, der eigentlich in drei Schritten getroffen wurde – 1928, 1930, 1933 –, ist ein "landmark case" des Völkerrechts und daher bis heute wirksam (S. 23). Wohl aus diesem Grund geht Zollmann ihm 100 Jahre später so detailliert nach, was mit der Aufnahme seiner Arbeit in die angesehene Reihe der "Studien zur Geschichte des Völkerrechts" honoriert worden ist. ...
Dieses Buch war lange überfällig. Wer sich mit Frauen im 20. Jahrhundert beschäftigt, vermisste einen Überblick über die aktuellen Forschungen zur "Frauengeschichte" der Weimarer Republik. Die Autorin liefert eine frische und gut lesbare Zusammenfassung der bisher geleisteten Forschungen und kann andeuten, welche weiteren Fragen gestellt werden müssen. Wie schon vor ihr Matthew Stibbe, mit seinem ebenfalls sehr gelungenen Überblick interpretiert Boak die Weimarer Republik als "Post-war society". Folgerichtig beginnt sie ihre Darstellung mit einem langen Kapitel über Frauen im Ersten Weltkrieg. Schlüssig argumentiert sie, dass der Krieg das Leben der meisten Frauen erheblich veränderte, aber nur sehr wenige Emanzipationsgewinne zu finden seien. An dieser Stelle weist sie die These Ute Daniels von einer "Emanzipation auf Leihbasis" als unangemessene Formulierung zurück. ...
Eine gute Biografie sollte ein Schlüssel sein zu einer Zeit, ihren Strukturen und Charakteristika. Die Doppelbiografie der Brüder von Eichthal aus der Feder von Hervé Le Bret erfüllt diese Forderung in besonderer Weise. Denn die mannigfachen Tätigkeits- und Interessengebiete der beiden ungleichen und doch innig verbundenen Brüder geben Einblick in weite Bereiche des europäischen Geistes- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts. In der Verflechtung der beiden Biografien ergibt sich so ganz von selbst eine enge Verbindung von internationaler Banken- und Kulturgeschichte. ...
"Das Private ist politisch", lautete ein Slogan, unter welchem die deutsche Frauenbewegung ab 1968 eine Auseinandersetzung mit der etablierten Geschlechterhierarchie einforderte. Und politisch ist das Private auch nach Dagmar Herzog, die mit dem vorliegenden Band einen gelungenen Überblick über die Geschichte der Sexualität in Europa liefert. Seien es Fragen der Empfängnisverhütung, Homosexualität, Pornographie, Vergewaltigung oder der Geschlechtskrankheiten, stets waren die nationalen Regierungen unweigerlich involviert, weil sie nicht umhin kamen, Regelungen zu fixieren und somit Verhaltensmuster vorzugeben oder diesen mit der juristischen Rahmenordnung zu folgen. Das Buch reicht aber weiter, indem es sich auch die Rekonstruktion sexueller Ethiken zum Ziel setzt: Welche Gedanken und Empfindungen waren mit Sexualität verbunden, was löste Ängste aus, was wurde bekämpft? Inwiefern änderte sich die Einstellung der Gesellschaften im Laufe des Jahrhunderts? Denn letztlich ging es immer wieder aufs Neue um die Deutungshoheit, was richtig und was falsch ist. ...
Diese monumentale Darstellung des Lebens und der Wirksamkeit Adelas von Blois will das gesamte historische Umfeld der Protagonistin mit deren Augen sehen und bewerten anstatt sie konventionell-allgemeinen Fragestellung wie etwa der nach der Rolle adliger Frauen in ihrer Zeit und Gesellschaft auszusetzen. Als Grundlage dient eine möglichst vollständige Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte und der politischen Aktivitäten, aus der sich dann die Biographie einer französischen Fürstin in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ergeben soll. ...
Der durch sein Buch zur Regierung und Verwaltungsorganisation der frühen Capetinger als Kenner dieser Epoche ausgewiesene Autor legt eine umfassende Biographie Ludwigs VI. vor, die eine empfindliche Lücke jedenfalls zu großen Teilen schließt, denn eine zusammenfassende monographische Darstellung der Zeit und Wirksamkeit dieses Königs (1108–1137) fehlt seit langem. ...
Völlig zu Recht ist diese bei Jean-Bernard Marquette an der Universität Bordeaux 3 gearbeitete Dissertation mit dem "Prix de la fondation Charles-Higounet" der Académie nationale des sciences, belles-lettres et arts de Bordeaux ausgezeichnet worden, steht sie doch würdig in der guten regionalgeschichtlichen Tradition dieses großen Gelehrten, dessen Arbeiten und Methoden sich immer wieder mit der deutschen landesgeschichtlichen Forschung auseinandergesetzt haben. ...
Wer sich auf die Suche nach "starken Frauen" des Mittelalters begibt, wird sogleich auf die berühmteste von allen treffen, auf Eleonore, die schöne und selbstbewusste Erbtochter Herzog Wilhelms X. von Aquitanien, Gemahlin erst Ludwigs VII. von Frankreich, danach Heinrichs II. von England. Er wird ihre Gestalt freilich nur undeutlich wahrnehmen, verhüllt von einem dichten Schleier aus Legenden und konventionellen Urteilen, die Eleonore bis in die Gegenwart populär gemacht und sich erstaunlicherweise seit dem Mittelalter kaum geändert haben, immer noch persönliche Motive unterstellend, wo nach politischen Intentionen gefragt werden muss. Obwohl die Herzogin von Aquitanien ihren beiden Ehemännern das Fundament für erweiterte Herrschaft gelegt hatte, wurde ihr Anspruch auf Teilhabe mit diffamierenden Gerüchten abgewehrt, die noch immer reichlich Stoff für moderne psychohistorische Spekulationen liefern. Ein solcher Sumpf lässt sich nur mit Spezialkenntnissen trockenlegen, und diese vermittelt der Autor in seinem sympathisch klar geschriebenen Buch, fundiert durch souveräne Kenntnis der Quellen (darunter das Material für die in Cambridge vorbereitete Edition der Urkunden Eleonores) und der Forschung. ...
Der vorliegende Sammelband des groupement de recherche (GDR) bildet nicht nur den Abschluss des seit 2003 betriebenen Verbundprojektes »Les Entreprises françaises sous l’Occupation« über die Geschichte der französischen Wirtschaft und Unternehmen in der Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, sondern stellt bereits die zwölfte Publikation des Großvorhabens (plus zwei thematische Schwerpunkte in deutschen und französischen Fachzeitschriften) dar, in denen die unterschiedlichen Perspektiven (Unternehmen der unbesetzten Zone, Konsumgüterindustrie, Medien, oder Energieunternehmen, Transportsektor, Arbeitsbeziehungen, Wirtschaftsorganisation u. a.) in rund 300 Artikeln behandelt wurden. Der vorliegende Band, der auf die gleichnamige Konferenz an der Universität Metz 2009 zurückgeht, widmet sich dabei der Frage, welche Folgen die Besatzung für die Entwicklung der französischen Unternehmen nach deren Ende bis Anfang der 1960er Jahre besaß. ...
Solche Bücher gab es vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland auch: Prachtwerke zur nationalen Erbauung eines seiner selbst nicht mehr ganz sicheren Publikums, das ein unüberhörbares Mahlen des Zahns der Zeit doch tapfer ignorieren wollte. Wer den Band aufschlägt und in der vorangestellten "Liste d’honneur des souscripteurs" als erläuterndes Prädikat hinter einem Namen "catholique et royaliste" liest, hat rasch Gewissheit: Mit Wissenschaft hat das teure Produkt nichts zu tun, viel dagegen mit Fragen wie der, "que notre Louis IX est bien nommé saint Louis, et non Saint Louis selon une mode universitaire qui se répand depuis quelques années" […]. J’écris donc comme dans les livres de ma religion, […]. De même, pour le héros de ce livre, et suivant la mode des anciens, j’écris Roi avec majuscule quand je parle de lui, car c’est le Roi par excellence, […]« (S. 14). In diesem Stil sprechen vier umfangreiche Kapitel über den König, königliche Symbolik, seine Umgebung und die Heraldik der Kapetinger; opulent illustriert mit Reproduktionen aus Handschriften des 13.–16. Jahrhunderts (darunter aus dem um 1250 entstandenen Krönungsordo BnF lat. 1246), schönen Faksimiles der Bulle Papst Gregors IX. für Ludwig IX. von 1239, der Gründungsurkunde der Sainte-Chapelle (1246), einer zur Unlesbarkeit verkleinerten Frankreichkarte aus dem 19. Jahrhundert, Photos der Sainte-Chapelle, Beispielen der Chartreser Glasfenster, Siegeln (u. a. des Königs, seiner Mutter, Margarethes von Provence, Peters II. von Courtenay, Rudolfs II. von Vermandois, Odos III. von Burgund, des Reimser Domkapitels), Münzen, der sog. "Cassette de St-Louis" (um 1236), Fotos erhaltener Teile des Krönungsornats (Sporen, Schwert Karls des Großen), Reproduktionen verlorener Stücke nach der "Collection Gaignières" und anderer gelehrter Werke des 17. und 18. Jahrhunderts (u. a. Félibien), Historiengemälden des 17. und 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt zahlreichen Malereien von Claude de Gallo in der Art von Kinderbuchillustrationen (Ludwig IX. im Krönungsornat und zu Pferd, Blanche von Kastilien und Margarethe von Provence, Robert I. von Artois, Karl von Anjou und viele mehr) und einer bonbonfarbenen "Reconstitution de la sainte couronne ou couronne de S. Louis" von Jörg Mauriange. ...
Aus Anlass der achthundertsten Jahrestage des Todes Eleonores von Aquitanien und des Verlusts der Normandie durch Johann Ohneland fand im Mai 2004 eine gemeinsame Tagung der Forschungszentren CESCM (Poitiers) und HIRES (Angers) statt, deren Vorträge nun im Druck vorgelegt werden. Die magistrale Einleitung von Martin Aurell (Introduction. Pourquoi la débâcle de 1204?, S. 3–14) betont zwar die Schlüsselrolle Eleonores, deren Ehe mit Heinrich II. jenes angevinische Reich entstehen ließ, das im Jahr ihres Todes zusammenbrach, hebt aber stärker auf die Zurücksetzung der Normandie gegenüber den englischen Eliten seit 1154 ab, auf geradezu xenophobische Züge in der wechselseitigen Einschätzung des Adels diesseits und jenseits des Kanals. Große der Normandie hatten kein materielles Interesse mehr daran, sich für einen König zu schlagen, der die Gewinne seinem insularen Entourage würde zukommen lassen; die Lehnsabhängigkeit der angevinischen Könige von den Kapetingern hielt diese in der Position der Herren gegenüber ungetreuen Vasallen, deren gesamter Kontinentalbesitz französisches Krongut blieb. Der kontinentale Adel nutzte das nach Kräften, Insistieren auf karolingische Tradition stützte die Unabhängigkeit der Kirchen und Klöster vom englischen König und seinen Beauftragten, während der intellektuelle Hofklerus Heinrichs II. und seiner Söhne verstört am Becket-Mord litt und seinem alten Studienort Paris nostalgische Sympathie entgegenbrachte. Unter solchen Voraussetzungen lag es nicht nur an der militärischen und politischen Unfähigkeit Johanns, wenn die französische Position der Plantagenêt in der Krise des Krieges schnell dahinschmolz. ...
Da es bisher keine kritische Edition der Urkunden Philipps des Schönen gibt und in Frankeich auch keine den "Regesta Imperii" vergleichbare Institution, ist das hier zu besprechende Werk ein Meilenstein der Forschung, denn es erfüllt mehrere Aufgaben zugleich: Erschließung und Analyse eines gewaltigen Quellencorpus, Rekonstruktion des königlichen Itinerars und Auswertung der Befunde hinsichtlich Logistik, Reisetechnik, Gastungsrecht, Gefolge und Regierungspraxis des reisenden Hofes, schließlich eine Bewertung der Rolle von Paris als Hauptstadt und Behördensitz. ...
Die Jahrestagung 2015 der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) stand unter dem Thema »Geschichte im Comic – Geschichte des Comics«. Ein Blick in das damalige Programm (als LINK: http://www.comicgesellschaft.de/2015/ 07/23/programm-der-10-comfor-jahrestagungin-frankfurtm/) oder den mittlerweile erschienen Tagungsband (als LINK: http://www.christianbachmann.de/b_comfor7.html) offenbart, dass der zweite titelgebende Teil deutlich unterrepräsentiert war. Geplant war die Tagung auch als Gegengewicht zu den Theoriediskursen in der Comicforschung, d.h. zur Stärkung diachroner Arbeiten. Das Desiderat historischer Comicforschung blieb damit bestehen. Ein um weitere Beiträge ergänzter Band basierend auf den wenigen gehaltenen Vorträgen ist für 2018 angekündigt; bereits 2016 ist jedoch eine erfreulich große Anzahl an Publikationen mit teilweise historischen Fragestellungen erschienen. ...
Archaisierung und Pinkifizierung, das sind für Kerstin Böhm Schlagworte, mit denen die geschlechtergetrennte Literatur für Jungen einerseits und für Mädchen andererseits beschrieben werden kann. Während Jungen über einen Heldenmythos erreicht werden könnten, sei für Mädchen eine »emphasized femininity« über bestimmte Mythen der »schwärmerisch-romantischen, emotionalen Liebe« und damit einhergehend den Mythos der »Ästhetisierung der Demut« ausschlaggebend. [...] Auch die Kultur-, Musik- und Kunstwissenschaftlerin Sarah Dangendorf setzt sich mit der Rückkehr von Stereotypen in der Populärkultur auseinander. Sie stellt sich in ihrer Dissertation Kleine Mädchen in High Heels die Frage: Wie autonom handeln kleine Lolitas? Lassen sie sich von der Popkultur und der Ökonomie dazu drängen, sich schon in ihrer prä-adoleszenten Phase zu kleinen geschminkten und gestylten Kindfrauen herauszuputzen? Oder verdeutlichen sie »das Prinzip der Eigenverantwortung, in einer Kultur, die das auch von Kindern schon erwartet?« (318) Also eigentlich: Sind sie Opfer des Systems oder aktive Teilhaberinnen an ihm? Anders als die Diskurse der Erwachsenen es erwarten lassen, antworten 33 junge Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren in qualitativen Interviews mit einer durchdachten Identitätsbildung, die sie nicht als sexualisierte Opfer erscheinen lassen. ...
Ich lernte Perry Rhodan 1961 kennen, als ich an einem Zeitungskiosk das erste Heft der Serie kaufte, das mittlerweile antiquarisch hoch gehandelt wird. Ich blieb der Serie ein paar Jahre treu, erwarb später auch die Schallplatte Count down (1969) des Sängers Norman Space (d. i. Uwe Reuss) sowie das Perry Rhodan Lexikon (1971) von H. G. Ewers und H. Scheer. In den Jahren, die uns Studenten kreativ politisierten, stellten wir Kauf und Lektüre der Serie ein und sprachen von Perry Rhodan nur noch als »Space Adolf«. Nicht als naiver Rezipient, sondern als Forschender, nahm ich später die Analyse eines Hefts der Serie in meine Habilitationsschrift Aspekte der literarischen Utopie (1976) auf. Soweit der persönliche Beitrag zur Rezeption. ...
Diskussionen um Kinderliteratur haben in vielfältiger Weise mit Ethik zu tun: In vielen kinderliterarischen Texten geht es um den Gegensatz zwischen ›gut‹ und ›böse‹; viele Bücher für Kinder dienen der moralischen Unterweisung, das heißt dem Zweck, Kindern das ›richtige‹ Verständnis von Gut und Böse zu vermitteln, und schließlich verspüren manche Kinderliteratur-Kritiker eine ethische Verpflichtung, kinderliterarische Texte auf ihre moralische (und politische) Korrektheit zu überprüfen. ...
Der Sammelband ist in drei Abschnitte unterteilt und enthält 12 Beiträge. In ihrem einführenden Beitrag gehen die Herausgeberinnen Emer O’Sullivan und Andrea Immel unter anderem auf die historisch verankerte Funktion der Kinder- und Jugendliteratur als Sozialisationsinstanz ein, auf ihre gemeinschaftskonstituierende Funktion sowie das Potenzial, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich ein »uns« gegenüber einem wie auch immer gearteten »Anderen« und »Fremden« verhält. Dass die Perspektive, aus der das literarische Geschehen geschildert und betrachtet wird, für die Rezeptionslenkung und die (Be-)Wertung der Dichotomie von »eigen« und »fremd« bzw. »vertraut« und »unbekannt« ausschlaggebend ist, veranschaulichen sie am Beispiel der Imagologie. ...
Der Sammelband gibt einen breit gefächerten, diachronen Überblick über potenzielle Klassiker des Kinder- und Jugendfilms. Dieser setzt im Jahr 1901 mit dem nahezu vergessenen Science-Fiction-Film Die Reise zum Mond ein und endet im Jahr 2014 mit dem Film Rico, Oskar und die Tieferschatten nach dem gleichnamigen Roman von Andreas Steinhöfel aus dem Jahr 2008. Die Beiträge schließen stringent an den von Anita Schilcher und Claudia Pecher herausgegebenen zweiteiligen Sammelband Klassiker der internationalen Kinder- und Jugendliteratur (2012) an und basieren auf Vorträgen einer Ringvorlesung der Universität Augsburg im Jahr 2015. Als zentral für die Begriffsbestimmung erweist sich der erste Beitrag von Ulf Abraham, der den viel diskutierten und strapazierten Klassikerbegriff auf den Film zuschneidet. So wählt er einen deskriptiven Ansatz bei der Bestimmung des Klassikerstatus und unterscheidet zwischen innertextuellen (Inhalt und Form) und außertextuellen (Rezeption und Tradierung) Kriterien. ...
Mareile Oetken widmet sich in ihrer Habilitationsschrift dem Bilderbuch als einem sich in Entgrenzungs-, Erweiterungs- und Durchlässigkeitsprozessen befindlichen Medium. Die ausschließlich im Netz verfügbare Veröffentlichung (http://oops.uni-oldenburg.de/3204/1/oetken_ bilderbuecher_habil_2017.pdf) lehnt sich an etablierte Positionen von Jens Thiele und Michael | Jahrbuch der GKJF 2018 | rezensionen 183 Staiger an und erweitert mittels Anschluss an den Diskurs um Narratologie das vorrangig von Didaktik und Praxisbezügen geprägte Forschungsinteresse am Gegenstand Bilderbuch (vgl. 16). Die Arbeit geht Fragen zu »dynamischen bildästhetischen und literarischen Entwicklungen« (17) nach und bietet unter Berücksichtigung medienkonvergenter Prozesse und künstlerischer Anlehnungen einen analytischen Blick auf Strukturen, die narrative und ästhetische Kategorien sowie die Interdependenz von Bild- und Sprachtext bedingen. ...
Nicht erst seit den scheinbar nicht enden wollenden Grimm-Publikationsjubiläen: 2012 Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen (KHM), 2016 Deutsche Sagen, 2019 Deutsche Grammatik erfährt die ›Gattung Grimm‹ eine erhöhte kulturelle und wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Sie ist quasi ein ›Dauerbrenner‹, Jahr für Jahr, allerdings unter wechselnden Perspektiven. Die Fülle kann hier nur in einer fokussierten Auswahl vorgestellt werden. Ein gemeinsames Thema der drei vorliegenden Publikationen ist das Verhältnis der Gattung zu ganz unterschiedlichen Bildwelten. Erst die Verschränkung von Text und Bild hat, so eine Sicht, ein philologisches Editionsprojekt in einen kinderliterarischen Klassiker von Weltbedeutung transformiert. ...
Die großen Wanderungsbewegungen unserer Zeit bringen nicht nur politische Integrationsfragen in stärkerem Maß als je zuvor mit sich. Auch die damit verbundene Durchmischung der Kulturen und Religionen fordert intensivere Aufmerksamkeit sowohl im tagesaktuellen wie im akademischen Bereich. So trifft das vorliegende Werk Kindertora – Kinderbibel – Kinderkoran. Neue Chancen für (inter-)religiöses Lernen genau ins Herz der aktuellen Fragestellungen zur Thematik des religiösen Miteinanders – und zwar sowohl das Genre als solches betreffend wie auch die diversen praxisorientierten Ansätze einbeziehend. In seiner Herangehensweise an das Thema stellt sich das Werk tatsächlich als Novum dar. Denn: »Erstmals in der Geschichte der drei monotheistischen Weltreligionen liegen speziell für Kinder und Jugendliche konzipierte Ausgaben von Tora, Bibel und Koran vor« (Rückseitentext). ...
Gillian Lathey ist eine ausgewiesene Expertin, was Forschung zur Übersetzung von Kinderliteratur angeht. Davon zeugen ihre Untersuchung The Role of Translators in Children’s Literature (2010) und der von ihr herausgegebene Sammelband The Translation of Children’s Literature: A Reader (2006). Außerdem genießt die Reihe Translation Practices Explained, in der die neue Arbeit der Autorin erschienen ist, unter DozentInnen und PraktikerInnen in der Translatologie einen sehr guten Ruf. Das Buch weckt also Erwartungen, und es enttäuscht sie nicht: Es bietet eine vorzügliche Mischung aus Fachkenntnis, Belesenheit und wissenschaftlich-didaktischer Kreativität. ...
J ugendliteratur entsteht und besteht im Kontext von Jugendkultur, bildet diese ab, formt sie, um über sie zu reflektieren, und prägt sie dabei wechselwirkend mit. Das Programm des Bandes, jugendliterarische Texte mit Fokus auf ihre Bezüge zu den sich wandelnden Jugendkulturen im 21. Jahrhundert zu untersuchen, ist deshalb durchaus sinnvoll und bietet fruchtbare Anschlussmöglichkeiten für wissenschaftliche Fachdiskussionen. Der interdisziplinäre Zugriff nimmt dabei nicht nur die beschriebenen Wechselwirkungen in den Blick, sondern widmet sich der Jugend auch als literatur- und medienübergreifendem Darstellungsgegenstand. ...
UTB-Bände können unterschiedlich gut geeignet sein für den Einsatz in Universitäts-Seminaren. Ein vorbildliches Werk war der Band Kinderund Jugendliteratur (2010) von Gina Weinkauff und Gabriele von Glasenapp. Der Band Bilderbuchanalyse von Tobias Kurwinkel lässt sich an diesem Vorbild messen, auch er tritt mit dem Anspruch an, ein »Grundlagenwerk« für »Lehrveranstaltungen« für »Lehramtsstudierende der Fächer Deutsch und Kunst« (11) zum Thema Bilderbuch anzubieten. Der in der Szene auch als Chefredakteur des Internetportals KinderundJugendmedien.de bekannte Verfasser leitet als Universitätslektor für Germanistische Literaturwissenschaft den Arbeitsbereich Kinder- und Jugendliteratur sowie Kinder- und Jugendmedien am Fachbereich 10 der Universität Bremen und ist Ko-Leiter des Bremer Instituts für Bilderbuchforschung (BIBF). ...
Der mit 120 Abbildungen reich illustrierte Sammelband greift ein Themengebiet auf, das von der Forschung bisher etwas nachlässig behandelt wurde. Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR ist bereits seit langer Zeit in den Fokus der Forschung gerückt (z. B. Richter, Karin: Die erzählende Kinder- und Jugendliteratur der DDR, 2016; Roeder, Caroline: Phantastisches Leseland. Die Entwicklung phantastischer Kinderliteratur der DDR [...], 2006; Havekost, Hermann/Langenhahn, Sandra/ Wicklein, Anne (Hrsg.): Helden nach Plan? Kinderund Jugendliteratur der DDR zwischen Wagnis und Zensur, 1993; Thiel, Bernd-Jürgen: Die realistische Kindergeschichte in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, 1979). Mit Schmidelers Buch offenbart sich jedoch ein Bereich, der noch viel Raum für sich anschließende Forschungen beinhaltet. Dementsprechend deckt der Band auch ein breites Themenspektrum ab, das in fünf Teilen sowie einer vorgeschalteten Einführung des Herausgebers achtzehn Beiträge präsentiert, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven annähern. ...
Mit subtilen Analysen literarischer Texte bietet die Aufsatzsammlung einen fulminanten Einblick in verschiedene Gegenstände der Kinderund Jugendliteraturforschung. Im Nachhinein wurde die Publikation, die anlässlich der Emeritierung von Otto Brunken sein Wirken würdigen sollte, zu einem Nachruf. Am 30. März 2017 starb der ausgewiesene Forscher. Nun ist diese Festschrift auch Anlass, über die wissenschaftlichen Gegenstände nachzudenken, die Otto Brunken mit Weitblick und Akribie ins Zentrum seiner Forschungen gerückt hat und damit einen wesentlichen Impuls vermittelte, unübersehbare Einseitigkeiten der literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Zuwendungen zur Kinder- und Jugendliteratur und ihrer medialen Kontexte zu erkennen und neue Zugänge zu wagen. ...
Tiere haben als Gegenstand gerade der Kinderund Jugendliteratur ihre eigene Geschichte, und so verwundert es nicht, wenn dies gegenwärtig, in einer Zeit des Klimawandel- und Umweltdiskurses, in hohem Maße und unter ganz spezifischen Gesichtspunkten der Fall ist. Der Fokus liegt dabei offensichtlich auf Insekten als relevanten Indikatoren für die Veränderungen in der Natur, und hier wiederum sind es die Bienen, deren Präsenz in Meldungen, Berichten, literarischen Darstellungen und Medien auffällt. Umweltaktionen und Ausstellungen wie »Summende Staatenbauer und pikende Plagegeister« in der Internationalen Jugendbibliothek 2018, in der ebenfalls die Bienen einen Schwerpunkt bilden, komplettieren dieses Szenarium. Bernhard Viels Biographie über Waldemar Bonsels trägt sinnigerweise den metaphorischen Obertitel Der Honigsammler (2015; siehe dazu die Rezension auf S. 187). ...