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Am 01. Juni 2013 gingen ca. 20.000 Menschen in Frankfurt am Main auf die Straße, um im Rahmen der Blockupy-Aktionstage gegen die europäische Finanzpolitik zu demonstrieren. Weit kam die Versammlung damals nicht. Bereits nach einer halben Stunde wurde der vordere Demonstrationsteil mit fast 1.000 Personen durch die Polizei eingekesselt. Bis in den späten Abend, insgesamt über neun Stunden, wurden die Betroffenen festgesetzt, einzeln kontrolliert und erkennungsdienstlich behandelt, so dass die Versammlung ihre geplante Route nicht laufen konnte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete damals von schwerverletzten Demonstrant*innen und Journalist*innen. ...
Erinnern wir uns zurück: Am 11.11.2011, nur wenige Tage nach Bekanntwerden der zehnfachen Mordserie des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), erfolgte im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine umfangreiche Vernichtung von Akten. Geschreddert wurden Akten zu sieben V-Leuten des Verfassungsschutzes, die ihm Rahmen der "Operation Rennsteig" angeworben worden waren. Diese Geheimdienstoperation unter Beteiligung des BfV, verschiedenen Landesverfassungsschutzämtern sowie dem Militärischen Abschirmdienst hatte zwischen 1997 und 2003 zum Ziel, die rechtsextremistische Szene in Thüringen zu untersuchen. Angeworben wurden dabei auch V-Leute, die im Thüringischen Heimatschutz aktiv gewesen sind, gerade jener rechtsextremistischen Gruppierung, in der das NSU-Trio politisch sozialisiert wurde. Auch nach diesem Tag ging die Aktenvernichtung im BfV weiter. Die unter dem Namen "Operation Konfetti" bekanntgewordene Vernichtungsaktion schlug hohe Wellen und führte zumindest kurzzeitig zu einer schweren Legitimationskrise des Verfassungsschutzes. Infolge der Krise trat der damalige BfV-Präsident Heinz Fromm zurück. ...
Der EGMR in Straßburg hat letzte Woche eine Entscheidung veröffentlicht, die in diesen Zeiten der Staatsschuldenkrise die Banken die Ohren spitzen lassen dürfte: Die Mitgliedsstaaten der EMRK dürfen ihre insolventen Kommunen nicht davor schützen, dass deren Gläubiger ihre rechtskräftig festgestellten Ansprüche eintreiben und in das Kommunalvermögen vollstrecken. Ein kommunales Insolvenzrecht, das vollstreckbare Titel wirkungslos macht, verstößt nach Meinung einer EGMR-Kammer gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Denn solche Titel gelten als Eigentum, und das setzt sich auch gegen das öffentliche Interesse durch, die kommunalen Schulen, Bibliotheken und Schwimmbäder vor dem Gerichtsvollzieher zu schützen. ...
Ende November hat Bundesjustizministerin Christine Lamprecht (SPD) vorgeschlagen, das Grundgesetz zu ändern und darin ausdrücklich Kinderrechte zu verankern. Der Vorschlag befindet sich derzeit in der Ressortabstimmung. Auf dem Verfassungsblog hat sich Friederike Wapler kritisch mit diesem Entwurf auseinandergesetzt und am Ende empfohlen, statt einer schlechten Grundgesetzänderung lieber gar keine zu verabschieden. Ich hingegen halte eine solche Grundgesetzänderung für ebenso sinnvoll wie möglich.
Der Zweifel muss schweigen, soll ein richterliches Urteil überzeugen. Gewissheit zu verbreiten, ist das nicht allzu heimliche Ziel der juristischen Ausbildung. Der Charme der Gutachtentechnik, alles Mögliche zu erwägen und zu prüfen, wird in der Referendarausbildung durch die Relationstechnik ersetzt und in der richterlichen Urteilspraxis vollends desavouiert. Gewissheitsdenken und Erledigungsökonomie gehen in Führung. Vieles bleibt "dahingestellt", wenn die Entscheidung einmal feststeht. Und die Gutachten von Rechtsexperten hängen dem Interesse der Auftraggeber häufig einen mehr als fadenscheinigen Mantel um. Ungewissheit, das scheint gewiss, ist Sache der juristischen Zunft nicht. ...
Während der Streit um den Verfassungsgerichtshof aus polnischer Sicht als mittlerweile beendet gilt, versucht die Europäische Union eine passende Lösung zu finden, die in der Empfehlung der Kommission geäußerten Forderungen durchzusetzen. Die regierende Partei "Recht und Gerechtigkeit" beschließt jedoch in der Zwischenzeit weitere Justizreformen, die genauso, wie das umstrittene Verfassungsgerichtshofgesetz, gegen die Grundsätze der Europäischen Union aus Art. 2 EUV, vor allem gegen die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, verstoßen können. ...
Krisen als Normalität
(2020)
Es gibt in Krisenzeiten wenig Verlässliches. Doch auf eines kann man immer zählen: Irgendwann, und meistens früher als später, fällt der Begriff der Ausnahme oder einer seiner zahlreichen Verwandten. Hierzu gehört vor allem die große Schwester der Ausnahme: der Ausnahmezustand. Da unterscheidet sich die Corona-Krise nicht von der Eurozonenkrise, die Eurozonenkrise nicht von der globalen Finanzkrise und diese nicht von der durch die Terroranschläge vom 11. September ausgelöste Sicherheitskrise. Auch wenn wir über den Corona-Virus selbst nicht viel wissen, scheint vieler Orten Gewissheit darüber zu herrschen, dass wir derzeit im Ausnahmezustand leben. ...
Angesichts der in Deutschland und anderswo präzedenzlosen Eingrenzung des rechtlich Erlaubten stehen die begrenzenden Rechtsverordnungen, Allgemeinverfügungen und vollziehenden Maßnahmen des Staates im Zentrum grundrechtlicher Aufmerksamkeit. Freiheitsschonendere Alternativen werden in erster Linie durch das Prisma der Erforderlichkeit in den Blick genommen. Sich in einer Pandemielage gegen Beschränkungen zu entscheiden, erscheint grundrechtlich unverdächtig. Doch wäre es das tatsächlich? Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Szenarien einer solchen Entscheidung vorgestellt und es wird ein näherer Blick auf die Folgen für den individuellen Grundrechtsgebrauch geworfen. Es zeigen sich Grundrechtsfragen, die im Ergebnis auch für die Beurteilung des beschränkenden Staates aufgeworfen sind.
Seit Wochen nun beobachten wir, wie Menschen auf sehr unterschiedliche Weise auf die COVID-19-Pandemie reagieren. Die unmittelbare Gefahrenursache ist zwar für das bloße Auge nicht sichtbar. Sichtbar hingegen sind die von der Weltgesundheitsorganisation, der Johns Hopkins Universität oder dem Robert-Koch-Institut veröffentlichten Daten. Täglich steigende Zahlen von Infizierten, täglich steigende Zahlen von Toten. Vielleicht ist es nachvollziehbar, dass "in diesen Zeiten" Regelungsmaßnahmen "mit heißer Nadel gestrickt" (noch so eine Phrase) sind. Selbst wenn in der Theorie Krisenszenarien vielleicht irgendwann einmal durchgespielt worden sind (siehe BT Drs. 17/12051, S. 57 ff.), lässt sich nicht jede Variante einer Krise antizipieren – genauso wenig wie der tatsächliche Stressmodus, in dem andere und man selbst sich befinden werden. In diesem Modus sind nun Entscheidungen getroffen worden. Entscheidungen, deren Konsequenzen ohne jegliche Übertreibung als der "massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik" bezeichnet werden können. ...
Das Oberverwaltungsgericht für Nordrhein-Westfalen hat am 19. März eine für die rechtsstaatliche Prägung deutscher Außenpolitik sehr bedeutsame Entscheidung getroffen. Demnach muss sich die Bundesrepublik in Zukunft vergewissern, ob durch den Einsatz von US-Drohnen, die über deutsches Gebiet gesteuert werden, Völkerrecht verletzt wird. Ist dies der Fall, muss sie Maßnahmen treffen, damit eine solche Rechtsverletzung unterbleibt. Ein einfaches Wegducken der Bundesrepublik ist damit nicht mehr möglich. ...
Bevor der Bundesgesundheitsminister mit der Corona-Bewältigung in das Rampenlicht der Öffentlichkeit treten konnte, versuchte er in einer Reihe von Gesetzgebungsvorhaben und Maßnahmen, die deutsche gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu verändern. Eine seiner Maßnahmen war das Digitale-Versorgung-Gesetz, das der Bundestag im Dezember 2019 verabschiedete (DVG, BGBl. I, S. 2562) und die medizinische Versorgung durch Digitalisierung und Innovation verbessern sollte. Es sieht u.a. vor, Gesundheits-Apps auf Rezept zu verschreiben und Videosprechstunden und Telemedizin zum Alltag werden zu lassen. Vor allem aber sollen umfangreiche medizinische Daten der Versicherten in einem Forschungsdatenzentrum zusammengeführt und effektiv ausgewertet werden, um bessere Erkenntnisse in der Gesundheitsforschung zu erlangen.
Dagegen hatte ein Versicherter Beschwerde erhoben, und das Bundesverfassungsgericht hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entschieden, dass Teile dieses Gesetzes – nämlich §§ 68a Abs. 5 und 303a-303f SGB V – in der Tat erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aufwerfen. Dennoch hat das Gericht den Vollzug dieser Regelungen nicht ausgesetzt (Rn. 6 ff.) und noch nicht einmal die hilfsweise beantragte Reduktion des Datenumgangs angeordnet. Das ist im Ergebnis, vor allem aber in seiner Begründung unter mindestens zwei Aspekten kritisch zu betrachten.
Datenschutz versus Katastrophenschutz : Standortdaten als Mittel zur Bekämpfung der Corona-Pandemie
(2020)
Einige Länder setzen Standortdaten jetzt schon gezielt ein, um die weitere Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Ein Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der weitreichende Befugnisse vorsah, um mithilfe von Standortdaten Kontaktpersonen von Infizierten über deren Handys zu orten, stieß auf teilweise heftige Kritik. Der Gesetzentwurf wurde daraufhin zurückgezogen, ohne dass nähere Einzelheiten an die Öffentlichkeit gelangt sind. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass eine Verarbeitung von Standortgesundheitsdaten nicht nur tatsächlich nützlich sein kann, sondern auch rechtlich möglich ist.
Mit Dashcams den Verkehr aufzuzeichnen, kann nach einem Unfall in einem zivilrechtlichen Haftpflichtprozess sehr nützlich sein – obwohl man das datenschutzrechtlich eigentlich nicht darf. Der BGH hat in dieser Woche (BGH, Urt. v. 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17) zwei rechtliche Problemlagen geklärt, die deutsche Gerichte seit geraumer Zeit beschäftigt haben: Zum einen betrifft dies die datenschutzrechtliche Zulässigkeit des Einsatzes von Dashcams im öffentlichen Verkehrsraum. Zum anderen deren zivilprozessuale Verwertbarkeit, insbesondere wenn die Aufnahmen rechtswidrig erfolgten.
Die Dritte Option: Für wen?
(2017)
Sollte der Gesetzgeber eine Dritte Option im Personenstandsrecht einführen, so wird er sich damit auseinandersetzen müssen, wer Zugang zu dieser Dritten Option erhalten soll. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was sich aus der Entscheidung vom 10. Oktober 2017 dazu entnehmen lässt: Muss die dritte Option neben inter*geschlechtlichen Menschen auch allen anderen offen stehen, die sich weder als Mann noch als Frau verstehen?
Ab Donnerstag, 21. November, wollen wir mit Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen aus Recht und Netzpolitik über die rechtlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen des Persönlichkeitsschutzes im Internet diskutieren. In der Veranstaltungsreihe "Persönlichkeitsrecht 2.0" an der HU Berlin, sollen die Entfaltung und Verletzung der Persönlichkeitsrechte im Internet wissenschaftlich aufgearbeitet werden.
In Österreich kategorisiert ab 2019 ein Algorithmus arbeitslose Personen nach ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Software trennt in drei Personengruppen: Arbeitssuchende mit guten, mittleren und schlechten Perspektiven, einen Arbeitsplatz zu finden. Auf dieser Basis will der Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) seine Ressourcen ab 2020 überwiegend auf Personen der mittleren Gruppe konzentrieren. Dort seien sie am effektivsten eingesetzt. Die "Arbeitsmarktintegrationschancen" von Frauen bewertet der Algorithmus pauschal negativ. Zudem führen betreuungspflichtige Kinder zu einer schlechten Einstufung – allerdings nur für Frauen. Bei Männern, so begründen die Entwickler, habe eine Betreuungspflicht statistisch gesehen keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmarktchancen.
Freund oder Feind?
(2019)
Bemühen wir uns um einen nüchternen Blick auf die "Fakten". Ein Hochschulprofessor betritt von Protesten begleitet einen Hörsaal, um seine Vorlesung zu halten. Aufgrund lauter Beschimpfungen und Störungen kann er diese Vorlesung nicht halten und verlässt den Campus schließlich zwei Stunden später unter Polizeischutz. Es handelt sich nicht um irgendeinen Professor, sondern um den Mann, der eine Partei gründete, vordergründig, um den Austritt Deutschlands aus der Eurozone zu erreichen und der auf der Pegida-Welle reitend eine rechtspopulistische Partei hervorbrachte, die ihre Umfragewerte von Unzufriedenheit und Enttäuschung nährt. Seit 2015 gehört er dieser Partei nicht mehr an. Samthandschuhe hat Bernd Lucke deswegen noch lange nicht verdient. Wie weit sollte aber der grundsätzlich berechtigte Protest gegen Lucke gehen?
Schneller als erwartet fängt Donald Trump an, seine Versprechungen, mit denen er sich die Stimmen der radikalen Rechten im Wahlkampf erkauft hat, einzulösen. Und er scheint die Möglichkeit der Befriedung der Ultra-Rechten gefunden zu haben: die Nominierung eines neuen Richters am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, dem Supreme Court.
Es war eine heißer, schwüler Sommerabend, als John Rawls im Hörsaal H der Frankfurter Universität einen Vortrag hielt. Er sprach leise, fast schleppend, und er hatte sich vorgenommen, den Text in einer deutschen Übersetzung vorzulesen, was für einen amerikanischen Professor ungewöhnlich war und deshalb Bewunderung verdiente. Doch war die angespannte Konzentration spürbar, die Rawls aufbringen musste, um deutscheWorte mit so wenig amerikanischer Phonetik wiemöglich zu sprechen, und der Vortrag wurde dadurch noch langsamer, die Stimme noch leiser. Außerdem funktionierte das Mikrofon nicht richtig. Deshalb wurde es ihm von seinem Übersetzer, Wilfried Hinsch, mit ausgestrecktem Arm so nahe an denMund gehalten, dass wenigstens ein paar Worte zu verstehen waren. Nach kurzer Zeit verließen die ersten Zuhörer den Hörsaal. Der ausgestreckte Arm des Helfers wurde sichtbar schwerer; Anstrengung und Hitze ließen Schweißbäche rinnen und das Oberhemd nass werden.Der Vortragwar nicht einfach. Rawls machte, wie gewohnt, keinerlei Konzessionen, sondern diktierte einen komplexen Satz nach dem anderen. Wer etwas verstehen wollte, musste von der komischen Situation absehen, alle Kräfte gegen die von der schwülen Hitze geführten Ermüdungsattacken aufbieten und sich irgendwie konzentrieren. Der einzige, der sich davon nicht beirren ließ, sondern hartnäckig Satz für Satz in den schwülen Sommerabend hämmerte, war der kleine, schmächtige, blasse, sein Gesicht hinter einer riesigen Brille verbergende, aber Respekt heischende Professor Rawls. Wenn Geist so unmittelbar präsent ist, wird eben alles andere banal. ...
Joint Venture : International Max Planck Research School for comparative european legal history
(2002)
Gegenwärtigen Fusionspraktiken folgend, haben auch Rechtshistoriker sich verbündet, um international Synergien zu erzeugen. Das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte und das Institut für Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität haben – mit dem Segen und dem Geld ihrer "Mütter" – ein gemeinsames Forschungskolleg gegründet. ...
Öffentlichkeit der Verhandlung ist eine der obersten Maximen unserer Strafprozesse. So mühsam diese Forderung im Geist der Aufklärung vom bürgerlichen Liberalismus vor 200 Jahren erkämpft wurde, so hoch wird der heilige Grundsatz – "das Kernstück des Strafverfahrens" (so Pfeiffer in der Einleitung des Karlsruher Kommentars zur StPO) – noch heute, meilenweit von der Geheimjustiz des Absolutismus entfernt, gehalten. In peniblen Entscheidungen hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung über Generationen mit so zentralen Fragen wie der auseinandergesetzt, ob ein versehentliches Abschließen einer Gerichtstür oder ein unzulänglicher Hinweis auf den Verhandlungssaal zur Urteilsaufhebung nach § 338 Nr. 6 StPO (Verletzung der Öffentlichkeit) führen muss – und dabei die doch wohl recht beschränkte praktische Relevanz des Publizitätsprinzips etwas aus den Augen verloren oder überbewertet. ...
Die juristische Europakarte bestand bis vor kurzem aus dem common law, dem romanistischen civil law und dem sozialistischen Recht. Angesichts dessen Niedergangs und des Zusammenwachsens Westeuropas vereint man die beiden ersteren unter dem altsowjetologischen Schild der western legal tradition, wodurch das Ostrecht aus der europäischen Rechtsgeschichte ausgegrenzt wird. Coings Weitsicht, Osteuropa einschließlich Russlands mindestens teilweise in die Disziplin einzubeziehen, findet praktisch keine Nachahmer. Immer noch versteht man, in Savignys Fußstapfen tretend, unter der "europäischen" mehr oder minder stillschweigend die westeuropäische Rechtsgeschichte. Die "Reformstaaten Mittel- und Osteuropas" tauchen in manchem Traktat der Rechtsvergleichung wie deus ex machina auf. Während man die Zäsur zwischen civil law und common law vernachlässigt, wird die europäische Natur Osteuropas, besonders Russlands und der Balkanländer, angezweifelt. ...
Im vergangenen Jahr habe ich ihn noch einmal gesehen bei der Feier zum 60. Geburtstag seines Schülers Rüdiger Bubner. In einer improvisierten Rede brachte er das Enigma des Verstehens gleichsam auf den letzten Stand vor einem eingeweihten, die Fakultäten überspannenden Publikum. Unter den Zuhörern war auch der Autor des Buches, das vom kulturellen Gedächtnis handelt, Jan Assmann. ...
Sommer 1789: Frankreich revoltiert, Preußen evaluiert. Staatsminister Johann Christoph von Wöllner, Chef des geistlichen Departements, entsendet einen bewährten Berliner Schulmann ins deutsche Reich, mit dem Auftrag, die außerpreußischen Lehranstalten zu begutachten, "teils überhaupt die Verfassung der fremden Universitäten kennen zu lernen, teils von dem Vortrag solcher Professoren, auf die einmal bei irgend einer preußischen Universität reflektiert werden könnte, zuverlässig Nachricht und Kenntnis einzuziehen". Es ist Friedrich Gedike, der durch ministeriale Order zum Headhunter für das Königreich ernannt wird. Seine Beobachtungen legt er in einem Bericht an den König nieder, der, 1905 ediert, 61 Blätter umfasst. ...
In der Debatte über die Entscheidung des EGMR zum Burka-Verbot in Frankreich läuft einiges gerade ziemlich schief. Viele Liberale – an vorderster Stelle im Verfassungsblog selbst – empören sich geradezu über die Entscheidung, während diese andererseits im Namen der Geschlechtergleichheit von Leuten verteidigt wird, die man bislang nicht gerade als deren Vorkämpfer in Erinnerung hatte. [...]
Die Frage, die der Fall Böhmermann aufwirft, ist nicht, ob Böhmermann sich strafbar gemacht hat oder nicht und die Bundesregierung ihre Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilen durfte oder nicht. Sondern die Frage ist, ob es Sinn macht, in diesem Fall mit dem Recht zu kommen. Das hängt auf einer ersten und vordergründigen Ebene davon ab, ob das Recht auf diesen Fall überhaupt eine Antwort oder jedenfalls eine einigermaßen klare Antwort hat. Hat es eine Antwort?
Kaum hat der Bundestag das Gesetz über die Öffnung der Ehe beschlossen, wird es schon verfassungsrechtlich diskutiert. Dass das Bundesverfassungsgericht es für verfassungswidrig erklären wird, ist wenig wahrscheinlich. Und das lässt sich auch ohne Rückgriff auf den historischen Willen des Verfassungsgebers überzeugend begründen.
Fällt nach der Einführung der Ehe für alle der grundgesetzliche und der zivilrechtliche Ehebegriff auseinander? Das wäre nicht nur für die Ehe für alle als eine politische Errungenschaft, sondern auch für das Grundgesetz selbst ausgesprochen unglücklich. Wenn der Gesetzgeber in diesem Sinne die Ehe für alle öffnet, kann das dementsprechend den verfassungsrechtlichen Ehebegriff nicht unberührt lassen.
Eine in Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft weit verbreitete Annahme lautet: "Europa muss, um eine Zukunft haben zu können, sich zu einer Geschichtsgemeinschaft entwickeln." Was man dabei übersieht: So wenig sich nationale Geschichtsgemeinschaften identifizieren lassen, so wenig wird sich eine europäische Geschichtsgemeinschaft konstituieren.
Der Ausnahmezustand
(2020)
Wenn wir die Berechtigung der Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie unterstellen, dann deshalb, weil wir darauf hoffen, dass sie greifen und etwas bewirken, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft. Tun sie es, ist alles gut. Aber was, wenn nicht – und wenn der Zustand, der durch sie eintritt, länger und länger dauert, vielleicht ein Ende auch gar nicht absehbar ist? Dazu drei knappe, aber grundsätzliche Bemerkungen aus der Sicht der Staatstheorie, des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie.
Wie lässt sich ein gemeinsamer Grund formen, der eine heterogene Gesellschaft verfassen kann? Ein Grund für alle. Keiner soll mehr dürfen, sein (haben) als der andere. Seit den Anfängen des Konstitutionalismus gewinnt der Gleichheitssatz an Fahrt und Gerechtigkeit wird nach und nach zu einer An-, Auf- und Abrechnungssache. Wer wem was und wie viel in Rechnung stellt, ist eine Frage, die an der jeweiligen Begründung hängt. Hierum kümmern sich die je befugten Teilsysteme des Rechts- qua Rechenbetriebes, wobei sich die dem Entscheid folgende gefährliche Begründung durch eine "Berechtigkeits"-Buchhaltung ergänzt bzw. – etwa nach dem Wegfall der peinlich gewordenen Schuldfrage im Scheidungsrecht – sogar beinahe ersetzt sieht. Begründungen sind nämlich immer prekär, provozieren den Widerspruch der Gegenseite, anstatt die Wogen zu glätten. ...
Das rhetorische Ensemble
(2006)
Auf dem Tisch liegt die zweite Auflage von Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968) von Claus-Wilhelm Canaris, erschienen Berlin 1983. Die schriftliche Fassung basiert auf einem rhetorischen und mündlichen Ereignis, seinem Habilitationsvortrag. Spuren davon finden sich noch im Text. Das gilt für die Spuren, die Rhetorik immer schon in nicht-mündlichen Texten wie der Schrift hinterlassen hat, also etwa in den Kompositionsregeln und den Regeln des Umgangs mit Figuren und Stil. Die rhetorische Spur findet sich darüber hinaus an herausragenden Stellen in den kurzen Hinweisen und Adressen, die scheinbar außerhalb der eigentlichen Schrift selber stehen. In einem Fall findet sich z. B. in Kursivschrift eine Widmung an den verehrten Lehrer Karl Larenz, in einem anderen erinnert der Autor daran, dass der Vortrag am 20. Juli gehalten wurde. Es sind kurze und knappe Hinweise auf denMoment, an dem ein Jurist eigenständig, zu seinem autonomen System wird und eine eigene Lehrbefugnis erhält. Sie sind noch rhetorisch, weil sie in ihrem Aufspüren von Referenzen an den Lehrer und an historische Daten vollziehen und reflektieren, was sich in solchen Augenblicken geziemt. Sie begegnen einem an der Schwelle des Textes – also kurz bevor man sich auf die sachliche Ordnung des Textes einlässt. An der Schwelle wird die letzte Gelegenheit ergriffen, dem Text eine genealogische Adresse zu verleihen. Es sind (um selbst rhetorisch zu werden) letzte Tankstellen vor der Autobahn. Sie markieren keine Systembrüche, sie markieren den Eingang in den Text, der sich in einer rhetorischen Transmission positioniert. In der Architektur der Argumentationsführung sind diese Stellen der Bogen, der durchschritten wird, unmittelbar bevor die Lektüre beginnt – oder mit denen die Lektüre beginnt. Das hängt schon davon ab, wie man Rhetorik vom System abgrenzt. ...
Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben. Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit. Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal bei Walter Wilhelm zu Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor an der Universität Frankfurt im Jahre 1968 kennen gelernt. ...
"Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde". Wir wissen das. Wir wussten es vermutlich schon lange bevor der "Prediger" Salomo (3.1), der ein Philosoph war, uns vor nunmehr gut 2200 Jahren darüber belehrte. Aber wir handeln nur selten nach unseren Einsichten. Trennungen fallen schwer und Gewohnheiten verkleiden sich bereitwillig als Notwendigkeit. Verschwendung ist den Reichen keine Kategorie, und wer vom Verschwender lebt, erhebt keine Vorwürfe. Schließlich das Wichtigste: Wer außer Gott hat Kraft und Befugnis "Zeit" und "Stunde" zu bestimmen? ...
Wenn in deutscher Gegenwart über Rhetorik gesprochen wird, dann darf man davon ausgehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch die packende Geschichte ihres weiland unrühmlichen Unterganges und ihres alsdann strahlendenWiederaufstiegs erzählt wird. Es ist eine sehr schöne Geschichte, denn sie lässt sich lang oder kurz erzählen, sie kann personalisiert und dramatisiert werden – etwa: wie die bedeutenden Bürger Kant und Goethe, obwohl selbst große Rhetoriker, hässliche Dinge über das "Wortgeklingel" verbreiteten, aber am Ende doch nicht Recht behielten –, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitungen mit "Aufklärung" und "Naturwissenschaften" und "Positivismuszeitalter" bis hin zu "Renaissance" und "Ubiquität der Rhetorik" etc. sind jederzeit möglich.
Gewiss, bei näherem Zusehen ist manches an der Geschichte so ganz richtig nicht. Wie immer, wenn man in DER Geschichte zu "genau" wird, erweist sich das Gespinst leicht als undicht und brüchig. Aber das kann und darf den echten Historiker, auch den Wissenschaftshistoriker, nicht davon abhalten, seine Geschichten immer wieder zu erzählen, denn dafür hat ihn die Gesellschaft bestellt.
Premiere
(2003)
Die 1968 gegründete Zeitschrift "Kritische Justiz" stand anfangs am äußerst linken Rand der juristischen Publikationen. Auch der Rezensent, der in einer Ausgabe des Jahrgangs 1970 die Neuauflage der Lebenserinnerungen des KommunistenMax Hoelz "Vom 'Weißen Kreuz' zur roten Fahne" besprach, machte aus seinem dezidiert linken Standpunkt kein Geheimnis: die Neuauflage sei "wichtiges Lehrmaterial für die gegenwärtigen Klassenkämpfe" (Kritische Justiz 1970, 363–365). ...
Geschichtsschreibung lebt davon, dass sie Veränderungen beobachtet. Selbst eine Geschichte des Augenblicks kommt nicht ohne ein Vorher und ein Nachher aus. Es gibt keine Geschichte ohne Ereignis und ohne die Differenz, welche sie als "Zeit" begreift und beschreibt. Rechtsgeschichte hat es mit Veränderungen im Recht zu tun. Das Recht eines beliebig gesetzten Zeitpunkts X wird betrachtet und danach beurteilt, was neu, was anders geworden, was gleich geblieben ist. Das muss erst einmal erkannt und beschrieben werden, ehe man nach den Gründen fragt, warum es denn anders geworden ist, und zwar so und nicht anders anders geworden ist. ...
In Band 1 dieser Zeitschrift wurde ein "Vorschlag" gemacht, wie – mit welchem Erkenntnisziel und welchem theoretischen Gerüst – man Rechtsgeschichte betreiben könnte. Dieser Vorschlag wurde von zwei Kollegen kommentiert: Simon Roberts zeigte sich skeptisch, ob ein systemtheoretischer Ansatz für vormoderne Gesellschaften überhaupt brauchbar sei, und besorgt um den Verlust des Menschen sowie konkurrierender Theorien in der Geschichtsschreibung. Marc Amstutz hingegen drängte auf erhöhte theoretische Genauigkeit, insbesondere was die Bedeutung exogener und endogener Faktoren von evolutiven Prozessen betrifft. Beiden sei herzlich gedankt. ...
Nach Hause…
(2004)
Read only memory. Eine CD ROM ist ein Festwertspeicher. Die Daten kann man lesen, aber nicht verändern, ergänzen oder löschen. Man kann die Scheibe zertrümmern oder die Platte zerstören, aber die Daten manipulieren kann man nicht. Eine CD ROM schützt sich selbst vor Variation. Die Erfindung dieser Technik hat eine neue, kleine Gewissheit in der chronisch unsicheren Welt geschaffen. Was auf der CD ROM steht, steht fest. Und da viel auf ihr stehen kann – ganze Bibliotheken der Vergangenheit –, steht viel fest. Das macht Historiker glücklich. Drohen ihnen schon die Fakten abhanden zu kommen, verfügen sie immerhin noch über Festwerte, die aus einer zuverlässigen "Quelle" (Oexle, S. 165) fließen. ...
Es gibt technische, intellektuelle, soziale Erfindungen, die ungewöhnlich großen Erfolg haben, so großen Erfolg, dass sie über Jahrhunderte und Jahrtausende beibehalten, gepflegt und ausgebaut werden, ja aus der Gesellschaft nicht mehr leicht wegzudenken sind. Zu solchen evolutionären Errungenschaften gehören das Rad, das Geld, die Schrift, das Eigentum, die Straßen und manches mehr, namentlich auch der Vertrag, ohne dessen Konstruktion und Gebrauch erhebliche Teile der Kommunikationen und Funktionen in der Gesellschaft zusammenbrächen. Ob Ehevertrag oder Kaufvertrag, ob Ausbildungs-, Arbeits-, Beförderungs-, Lizenz-, Tarifoder Staatsvertrag – so gut wie nichts funktioniert in kleinsten bis hin zu großen sozialen Systemen ohne die Begründung wechselseitiger Rechte und Pflichten und ohne die in pacta sunt servanda zementierten normativen Erwartungen. ...
Einleitung
(2005)
Es mag mit der Erfahrung erhöhter Geschwindigkeit und Dichte von weltweiten Kommunikationen zusammenhängen, es mag Resultat lebhafter Austauschbeziehungen in Wirtschaft, Kunst, Politik sein, es mag Folge der Ahnung sein, dass vor unseren Augen eine "Weltgesellschaft" entsteht – Anlass genug gibt es jedenfalls, genauer zu beobachten, wie und zu welchem Ende Produkte und Imaginationen, Technik und Visionen, Waren und Wissen Grenzen überschreiten, um in einem entgrenzten Raum zu zirkulieren und ihr Eigenleben zu entfalten. Grenzen, das sind nicht nur, aber immer noch, nationale Grenzen. Begrenzt sind jenseits von Nationalitäten ganze Kulturen durch ihre historisch bedingten Strukturen, die wohl vieles, aber eben nicht alles zulassen. Durch Grenzen etablieren sich auch die sozialen Systeme der Gesellschaft, womit das Kreuzen der Grenzen nicht ausgeschlossen, aber ein heikler, die Autonomie der beteiligten Systeme tangierender Vorgang ist. ...
Rechtstransfer
(2005)
Anlass zu beschreiben, was Rechtstransfer bedeutet, sieht nicht nur die gegenwärtige juristische Gesellschaft. Erheblicher Bedarf an Erklärungsmodellen bestand auch im 19. Jahrhundert. Eine der größten Migrationswellen, die so genannte Rezeption des römischen Rechts, hatte Europa während mehrerer Jahrhunderte überflutet. Aus dieser Flut, kaum hatte sie ihren Höchststand erreicht, reckten sich nun allerorts nationale Gesetzgebungsprogramme und ganze Kodifikationen hervor. Das Verhältnis von rezipiertem, römischem Recht – das längst ganz "eigen" und "heutig" geworden war – zu den das ius commune störenden oder sogar zerstörenden Eingriffen nationaler Gesetzgeber galt es zu klären und zu erklären. Nur wenn es für den einstigen Transfer des römischen Rechts in germanische Gefilde plausible und irreversible Gründe gab, gab es auch Gründe, die kecken Vorstöße des nationalen Gesetzgebers zurückzuweisen und der Positivität des Rechts Einhalt zu gebieten. Das war die Position eines Savigny und seiner Gesinnungsgenossen. ...
"Mit Bettina und Savigny in traulich scherzendem Gespräche den Sonnenuntergang betrachtet. Savigny heim, wir allein zurük und gute Nacht, Hand in Hand, in denen die ersten Küsse glühen, tief bewegt zu Bette…" Das notierte Philipp Hössli, Gast auf dem Landsitz der von Arnims in Wiepersdorf, in sein Tagebuch am 21. September 1822. Im Frühjahr 1821 war der 21jährige Philipp Hössli aus Nufenen, Graubünden, in Berlin zum Studium eingetroffen, hatte sich umgehend bei Wilhelm von Humboldt und Carl Friedrich von Savigny vorgestellt und wurde von diesem herzlich willkommen geheißen. Savigny machte ihn mit seiner Familie, darunter auch seiner Schwägerin, Bettina von Arnim, bekannt. "Die Frau von Arnim begleitet", "Bald weg zu Frau von Arnim", "Zu Madame von Arnim", "Bei Frau von Arnim" – fast für jeden Tag findet sich ab Juni 1822 ein solcher Eintrag in Hösslis Tagebuch. Im Juli heißt es dann: "Zu Bettina. Wunderbare Stunden!" Eine glühende Liebesgeschichte zwischen Bettina und ihrem 15 Jahre jüngeren "Schweizerknaben" nimmt ihren Lauf. "Nach dem Essen an die Castanien.…Dann auf die Bäume gestiegen. Wonniges Gefühl…" "Dann eilen wir in ihr Zimmer aufs Sopha. … In reinster, innigster Liebe beisammen. Über Freundschaft gesprochen." ...
Vom Raum zur Zeit
(2006)
"Transfer", die Debatte des 7. Bandes von "Rechtsgeschichte", wird in diesem Band fortgesetzt. Die Beiträge konzentrieren sich, wie es einer rechtshistorischen Zeitschrift angemessen ist, auf den Transfer von Recht, auf Bewegungen und Mutationen des Rechts im transnationalen Raum (Amstutz /Karavas), auf historische Prozesse von "Kontaminierungen" lokaler und nationaler Rechte (Monateri), auf den Rechtstransfer im "Ausnahmezustand" der Kolonien (Nuzzo), auf das merkwürdige Schicksal transferierter isolierter Normen in neuer Umgebung (Rudokvas) und auf das Experiment, durch Transfer und Zirkulation von Normen und Prinzipien ein europäisches Verfassungsrecht zu konstituieren (Seckelmann). ...
Zum Recht des Auftrags
(2006)
"All diese Aufgaben hat der Rechtshistoriker zu lösen. Erfüllt er diesen Auftrag nicht…," ja, was dann? Wird er verhaftet oder verachtet? Droht ihm die Todesstrafe oder löst er sich in Luft auf? Jedenfalls muss der Rechtshistoriker wissen, dass er als Beauftragter "für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts" haftet (Art. 398 Abs. 2 OR2). Das kann teuer werden. ...
"Ci-ce-ro! Ci-ce-ro!"
(2007)
"Journalistisch" ist ein Prädikat, das, wenn es von seriösen deutschen Wissenschaftlern verliehen wird, einen abfälligen, geringschätzigen, wenn nicht sogar hochnäsigen Klang hat. "Flotte Schreibe", die jede noch so gediegene Tageszeitung von ihren Autoren erwarten darf oder erwarten sollte, ist, wenn sie einem Habilitanden im Gutachten attestiert wird, ein fast schon tödliches Verdikt. Je flotter, desto näher rückt der Schreiberling dem Urteil, das Theodor Mommsen schon über Cicero verhängte: "eine Journalistennatur im schlechtesten Sinn des Wortes …" Um nicht in den Abgrund solcher Verdammung zu fallen, bewegen sich Historiker in Zeiten, die trotz allem "Sichtbarkeit" verlangen, zuweilen auf einem Schleichpfad: Sie schreiben Biographien und Sammelbände mit Biographien. Da darf man ein bisschen flott und populär und journalistisch sein. Weil ja große Männer im Grunde genau so menschlich sind, wie es die Julia in Lore-Romanen ist. ...
Nach Hause…
(2002)
Wer kennt ihn nicht, den leisen, herzzerreißenden Klagelaut einer displaced person namens E.T.: "nach Hause…". Die übergroßen Augen sehnsuchtsvoll ins Weltall gerichtet, jammert jenes kleine, auf der Erde vergessene, unglückliche Wesen nach seiner Heimat, die fern und den Erdenbewohnern fremd und unbekannt ist – ein Nichtort, der gleichwohl der Ort des Ursprungs, des Zuhauseseins und aller Wehmut ist. ...
Nach Hause … [enth.: Olympia – Rom – New York / Michael Kempe ; Athen – Bagdad / Marie Theres Fögen]
(2003)
Geplünderte, rauchende Paläste, umgestürzte Statuen, ausgeweidete Museen – anders als die Ruinen von Bagdad, an die uns der TV-Jahresrückblick Ende 2003 erinnern wird, verweist die nur noch auf Bildern existierende Ruine der New Yorker Twin Towers nicht auf die Folgen eines Krieges, in dem auch das Völkerrecht ruiniert wurde, sondern auf die Folgen eines Terroranschlags, der das einstige stolze Symbol Manhattans in weniger als zwei Stunden in Schutt und Staub verwandelte. ...
So geht es einer Stadt, die Frieden schaffen sollte – selbst, aus eigner Kraft! – und für den Sieg gebetet hat. Als ob es Siege gäbe, wenn die Menschen sterben.
Wer diese Euripides-Verse in der Übertragung von Walter Jens im März 2003 am Vorabend, buchstäblich am Vorabend, eines Krieges gelesen hat, kann sich über den Titel des Buches, in dem sie stehen, nur wundern: "Ferne und Nähe der Antike". Wieso denn "Ferne"? Euripides- Jens ist so nah wie der Krieg nah war. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. ...
Ausgemustert
(2002)
... Urkundlich belegt ist, dass der der Wehrtauglichkeitsprüfung unterzogene Dackel nicht Troll, sondern Atta Troll hieß. Der Halter des Hundes sah sich angesichts der amtlichen Aktion zu einer Namensfälschung gezwungen, um das Tier vor dem Verdacht der Fremdrassigkeit zu schützen. Heinrich Heine, Atta Troll, Kap. VIII: "Hüte dich vor der Menschendenkart, sie verdirbt dir Leib und Seele…"
Im Niemandsland
(2004)
Dass die Regierungen westlicher Staaten eine offene oder verdeckte Tendenz haben, die ihnen in einem langen historischen Prozess auferlegten rechtsstaatlichen Bindungen aus politischen Gründen wenn nicht abzustreifen, so doch zu lockern, ist ein Thema, das Juristen, Ökonomen, Politologen und Soziologen gleichermaßen beschäftigt. Giorgio Agamben, italienischer Philosoph und Ästhetiker, spitzt die Thematik mit der These zu, die "Normalität" staatlichen Lebens existiere nicht mehr, es sei das "Niemandsland" des Ausnahmezustandes, "in dem wir leben" ("lo stato di eccezione 'in cui viviamo'"). Er sei die "fundamentale politische Struktur" unserer Zeit; er habe inzwischen die "größte planetarische Entfaltung" erreicht, die Menschen auf die "nuda vita", das nackte Leben, reduziert, das dem Kalkül der Macht unterworfen sei und in eine "beispiellose biopolitische Katastrophe" auszuarten drohe. Seine "Materialisierung" hat der Ausnahmezustand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wie in allen Lagern gefunden, in denen Menschen von der "normalen Ordnung" ausgeschlossen werden; Guantánamo ist für Agamben ein aktuelles Beispiel. Die "Lager" in allen ihren Erscheinungsformen sind die "verborgene Matrix der Politik". Der Ausnahmezustand ist ein arcanum imperii, dessen "Demaskierung" die einzige Möglichkeit ist, den durch ihn bewirkten "Bann" zu brechen. ...
Luciano Canforas Buch "La democrazia. Storia di un’ideologia" ist in Deutschland bereits wegen seines Titels in Misskredit geraten. Demokratie als "Geschichte einer Ideologie" zu präsentieren, deute – so die FAZ vom 21. November 2005 – auf ein "Pamphlet" hin, denn die Demokratie sei, zumindest nach "unserer Alltagswahrnehmung", gerade der "Sieg über alle Ideologien". Weil Canfora den ideellen Stellenwert der Demokratie unserer Alltagswahrnehmung ganz offensichtlich nicht anzupassen gedenkt und die Begriffe Freiheit, Demokratie, Diktatur in einem eigenwilligen historischen Kontext interpretiert, hat sich der Verlag C.H. Beck geweigert, seinen mit Canfora abgeschlossenen Verlagsvertrag einzuhalten. Eine Vertragsauflösung hat im Rechtsleben durchaus nichts Dramatisches; im vorliegenden Fall bekommt sie allerdings dadurch ein spezifisches Gewicht, dass Canforas Geschichte der Demokratie zur Publikation in der vom französischen Historiker Jacques Le Goff herausgegebenen Reihe "Europa bauen" vorgesehen war und das Buch (in der jeweiligen Landessprache) in Frankreich, Italien, Spanien und England bereits erschienen ist. Ein deutscher Sonderweg also, dieses Mal im Verlagswesen? ...
"Nun stand er nackt da." Bloßes, entblößtes, reines Leben. Das alte Gerichtsverfahren überzeugte nicht mehr. Der Offizier, der die Urteile vollstreckt hatte, die der hergebrachten Prozedur entsprungen waren, erkannte, dass es nun Zeit war, das Ende des Verfahrens selbst zu vollstrecken.Mit Hilfe der Maschine, die er so liebte und die den Verurteilten die Urteile auf den Leib, den nackten Leib, geschrieben hatte. Es war, wie es immer gewesen war. Der Offizier hörte sich die Angaben an und fällte sofort das Urteil. Weitere Nachforschungen, gar Vorladungen, Befragungen hätten die Sache nur kompliziert. Lüge hätte sich an Lüge gereiht und am Ende wäre nur Verwirrung entstanden. Dabei war alles sehr einfach. "Die Schuld ist immer zweifellos." Jedenfalls hatte dieser Grundsatz, nach dem der Offizier entschied, unter dem alten Kommandanten uneingeschränkte Gültigkeit gehabt. Der Kommandant hatte die Urteilsarten in einer Mappe mit eigenen Handzeichnungen – er war Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker und Zeichner – aufbewahrt. Die Verurteilten kannten ihr Urteil nie. Es wurde ihnen nicht verkündet. Wozu auch? Sie erfuhren es auf ihrem Leib. ...
Wozu Rechtsgeschichte?
(2003)
Es ist kaum noch zu ertragen. Immer wieder diese alten Fragen. Warum Aufklärung? Was können wir wissen? Wozu sollen wir das oder jenes wissen? Turfanforschung – schon das Sujet ist dem Normalsterblichen ein Rätsel. Ägyptologie – hier verspricht der Gegenstand wenigstens eine vorstellbare und noch heute erlebbare Exotik. Zwei Wochen Nilfahrt. Aber das alte Schreiben und Denken und Musizieren der Turkmenen? Wer will das kennen lernen? Wem mögen die Kenntnisse über die Turkmenenkultur nutzen? Dann doch lieber gleich Kulturwissenschaft tout court. Das kommt an. Also etwa die Kultur des Riechens, von der Toilette über das Parfum zu den Gerüchen der Städte. Damals und heute. Da kann, zu welchem Behufe auch immer, jeder mitriechen – auch der kultivierte Steuerzahler, der die Kulturwissenschaft bezahlt. Die ebenso zahlenden unkultivierten Bürger interessieren nicht weiter. Oder das sagenhafte Gehör der Wüstenspringmaus. Das ist Grundlagenforschung, bei der sich immerhin ahnen lässt, es könnte à la longue etwas dabei herauskommen, ein neues Hörgerät, nicht für Mäuse, sondern für Menschen. ...
"Sie wissen, was man manchmal zur Rechtfertigung der Henker sagt: man müsse sich wohl oder übel dazu entschließen, einen Menschen zu foltern, wenn seine Geständnisse Hunderten das Leben retten." Für Jean-Paul Sartre war die Rettungsfolter am 6. März 1958, als er diesen Satz schrieb, eine "Heuchelei". Zwei Wochen zuvor war "La Question" von Henri Alleg, dem Herausgeber des Alger Républicain, der einzigen freien Tageszeitung Algeriens, in den Éditions de Minuit erschienen: der vielleicht aufregendste, weil auf eigener Erfahrung beruhende und doch so kühl erzählte, Bericht über die Praxis in den französischen Folterkellern Nordafrikas. Sartre griff zur Feder und schrieb über die Folter im Zeitalter der Zivilisation, des 20. Jahrhunderts, das schon in seiner Mitte massenhaft Folterungen gesehen hatte, das die Folter zur Raserei werden ließ, das den Folterknecht in einen Sisyphos verwandelte, der immer wieder zur Tortur zurückkehren muss, in einem Jahrhundert, in dem die Folter endlich ihren Grund gefunden hat: sich selbst. Die letzten Jahrzehnte sahen, wie die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Globalisierung des Schmerzes der Gefolterten – der unterworfenen Untermenschen der Moderne. In dieser weltweiten Orgie der Qual – nicht nur dokumentiert in den Berichten von Amnesty International – geht es kaum um die Rettung von Menschen, um das Erzwingen von Geständnissen, um das Aufdecken einer Wahrheit. Es geht um die totale Herrschaft von Menschen über Menschen (Jan Philipp Reemtsma), um das Zusammenhalten der Gesellschaft durch die Drohung mit körperlicher Gewalt (Adorno), um den Blutkitt zwischen den Menschen, der diese beisammen hält, um die "Ich-Ausdehnung" der Peiniger (Lutz Ellrich). Die Folter des 20. Jahrhunderts – ob in Chile, in Indonesien oder im Deutschen Reich – kommt ohne Recht aus, interessiert sich nicht für in Körpern eingeschlossene Wahrheiten und feiert Feste der Angst. ...
Letzte Fragen
(2004)
Eine Debatte anzuzetteln ist immer ein Risiko. Wer von den – sorgsam, wenn auch letztlich arbiträr ausgewählten – Angeschriebenen und Angesprochenen wird auf die freundliche Einladung einen freundlichen Absagebrief schreiben oder gar nichts schreiben oder nur telephonieren? Wer aus der weiten Welt der Rechtsgeschichte-Leser wird sich beteiligen, ohne ermuntert worden zu sein? Wer wird sich auf die Sache, und das heißt hier die Frage, einlassen? Und wie? Wird es eine spannende Debatte werden oder eine langweilige Bestandsaufnahme? Phantasie oder Inventur? Fußnoten oder Thesen? ...
Punktierkunst
(2005)
Ach, Festschriften. Was soll man zu diesem weiter und weiter vor sich hinwesenden Wesen noch sagen? Unwesen? Nun, es gibt natürlich Ausnahmen von der Sitte, mehr oder weniger lieblos herausgekramte oder lieblos verfasste Schreibversuche von Kollegen, Schülern, Freunden, oder solchen, die sich dafür halten, als Hommage für einen mehr oder weniger alt gewordenen Mann zusammenzudrucken. Eine solche Ausnahme zu sein versprechen Titel, Umfang und Adressat einer 2004 im Heidelberger Synchron Verlag erschienenen, von Rüdiger Campe und Michael Niehaus herausgegebenen Festschrift. Der Titel: "Gesetz. Ironie". Eine feine Symmetrie. Sechs Buchstaben auf der linken, sechs Buchstaben auf der rechten Seite. C’est chic. Und die Worte sind gut, und gut gewählt. Wer wird schon an einem Buch vorbeigehen, das ein solch schönes Wortpaar ziert. Und dann auch noch ein rätselhafter Punkt in der Mitte, der erst recht Neugierde weckt. Der Umfang: Einvierteltausend Seiten, also ein Viertel des Üblichen. Im fettsüchtigen Zeitalter des Quadriple-XLFood ein Leichtgewicht. Der Adressat: Manfred Schneider, 60 Jahre, und in seiner Wissenschaft, dem Nachdenken über Literatur, so etwas wie ein Garant für das Zusammentreffen von Strenge und Ironie, wie die Herausgeber zu Recht hervorheben. Also, drei Gründe, die Festschriftsache etwas näher zu betrachten. ...
Pourquoi Legendre?
(2006)
Das ist noch vornehm formuliert. Kommt man hierzulande auf Pierre Legendre zu sprechen, dann fallen die Kommentare von Verwaltungsrechtlern und Rechtshistorikern, also den Fachkollegen des französischen Gelehrten, drastisch aus. Vornehme Zurückhaltung wird kaum geübt, gefragt wird auch nicht, das Urteil steht fest: eine besonders spinnerte Spielart von French Theory. Man kennt das Verurteilungsspiel, meist sind Franzosen Objekte des Insults: Foucault – ein nihilistischer Phantast; Derrida – der Verderber unserer Jugend; Baudrillard – der Weltauflöser. Natürlich sind dies nicht die Urteile der modebewussten Intellektuellenschickeria, sondern des deutschen Normalprofessors, bei dem allenfalls der eher bodenständige, nachgerade empiristische Bourdieu durchgehen mag. ...
Es ist wirklich nicht zum Lachen: ernsthaft aussehende Männer, bärtig, dunkel. Fundamentalisten nennt man sie, im Westen, und eine fundamentale Anspruchshaltung haben sie in der Tat. Der Mitgründer der Islamischen Heilsfront, der "Großinquisitor" oder auch "algerischer Savonarola" genannte Ali Benhadj, hat es nach seiner Entlassung aus langjähriger Haft in Algier klar gesagt: "Da wir ein muselmanisches Volk sind, kann es bei uns keinen Widerspruch geben wie im Westen. Der Koran ist die höchste Referenz … Die Leute des Buches – die Christen und die Juden – dürfen in der muselmanischen Gesellschaft ihre Religion praktizieren. Aber wir sind gegen diejenigen unter ihnen, die sich unter Ausnutzung der Schwäche der Unwissenden in Kämpfer verwandeln und Muslime konvertieren … Das sind Spione und Geheimagenten" (Interview Le Monde vom 4. April 2006). Widerspruch zwecklos. Ali Benhadj trägt keinen Bart. ...
Dieses Jahr ist ein Jahr des Schreckens. Fast Tag für Tag empört sich die Zeitungswelt in der lautesten Weise über vermüllte Kinder, Gefolterte, mit dem Koran verprügelte Frauen, Begnadigungen der besonderen Art, Geruchsproben von Meinungsäußerern, Schrottimmobilien, Großkapital und Erbschaften, Dopingtäter, Schrottpublikationen. Ein typographisch gedehntes Greinen über die Vielzahl von Schlechtigkeiten der Menschen. Was tun? ...
Bartolus "down under"
(2003)
In einem abgedunkelten Raum der Heidelberger rechtshistorischen Bibliothek am Friedrich-Ebert-Platz findet man separiert die wertvollen Rara-Bestände; darunter auch die letzte Ausgabe der Opera Omnia des Bartolus von Sassoferrato (1314–1357), die in Venedig 1615 für die Bedürfnisse juristischer Praktiker verlegt wurde. Friedlich vereint stehen die Folianten Rücken an Rücken, Regal an Regal, Wand an Wand – so als ob sie seit den Gründungsjahren der Universität im 14. Jahrhundert, mindestens aber seit der Zeit der Druckerpresse und damit ihrer eigenen Herstellungszeit, schon immer so gestanden hätten. Kommunizieren die Bücher etwa heimlich miteinander, wenn niemand sie beobachtet? ...
Alter im Recht
(2006)
"Die Menschen jedoch vor dem fünfundfünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahr in den Ruhestand zu schicken, scheint mir nicht allzu sinnvoll. Ich fände es im öffentlichen Interesse besser, die Dauer unsrer beruflichen Tätigkeit soweit wie nur irgend möglich zu verlängern. Den Fehler macht man meines Erachtens am anderen Ende: indem man uns nicht früh genug tätig werden lässt. … Ich beklage mich hier also nicht deswegen über die Gesetze, weil sie uns zu lange zur Arbeit anhalten, sondern weil sie uns zu lange davon abhalten."
Wer könnte das gesagt haben? Der Satz, der Assoziationen an einen Politiker oder Arbeitsmarktexperten unserer Tage weckt, stammt von Michel de Montaigne. "Über das Alter" lautet der Titel des Essais aus dem Jahr 1580. Der institutionalisierte Lebenslauf, der mit Hilfe von Altersgrenzen, altersspezifischen Normierungen und staatlichen Altersversorgungssystemen das Erwerbsleben zur zentralen Lebensphase macht, wird hier bereits angedeutet. Die im Laufe seiner Etablierung ab 1750 geschaffenen Lebensphasen der Jugend und des Ruhestands werden bei Montaigne dagegen nur ansatzweise als rechtlich schützenswert gedacht. ...
Am Anfang der modernen Lehren vom Staat war Thomas Hobbes. Genauer: sein unbestritten einflussreichstes Werk: der "Leviathan". Einige Historiker, Philosophen und Staatslehrer werden den Moment des Anfangs, wenn es denn auf einen solchen ankommt, anders bestimmen wollen. In der Tat wäre hinsichtlich des Ursprungs der ungebundenen Staatstechnik an Machiavellis "Fürst", geschrieben 1513 und publiziert 1552, zu erinnern. Oder an Jean Bodin als Vater der modernen Souveränitätslehre. Was die Moderne betrifft, so kommen als weitere Schnittstellen, zugleich Bruchstellen mit dem Alten, je nach Perspektive und Präferenz, auch folgende Ereignisse, Bewegungen und Prozesse in Frage: die Entdeckung der Neuen Welt, das Erdbeben von Lissabon, die Glaubensspaltung nebst Westfälischem Frieden, die Kopernikanische Wende, die "Großen Revolutionen", die Philosophie der Aufklärung, auch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks und andere mehr. "Im Anfang liegt nicht nur ein Zauber, sondern auch ein Rätsel." ...
1832 schrieb der Heidelberger Rechtsprofessor Karl Salomo Zachariä im fünften Band seiner Vierzig Bücher vom Staat: "Der Staatsmann, der mit der […] Wirtschaftslehre unbekannt ist, gleicht einem Schiffer, der sich ohne Kompass auf die hohe See wagt." Für den Gießener Staatsrechtslehrer Friedrich Schmitthenner waren ökonomische Kenntnisse "vollends für den Staatsmann unentbehrlich". Als Verfassungshistoriker neigt man dazu, solche oder ähnliche Aussagen im Staatsrecht des Vormärz zu relativieren: Zum einen waren staatsphilosophische Aussagen über Ökonomie und Staatswirtschaft schon lange vor dem 19. Jahrhundert üblich, zum anderen geht es in der Verfassungsgeschichte ohnehin – wie es Dietmar Willoweit3 formuliert hat – um die rechtlichen Regeln und Strukturen, die die politische Ordnung prägen. Staatliche Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaft scheinen für die politische Ordnung dagegen nur eine Nebenrolle zu spielen, zumal das Staatsrecht im Vormärz für die Ausbildung des modernen Rechts- und Verfassungsstaates ohnehin zentrale Bedeutung hatte. ...
Editorial
(2010)
Wohl jeder Jurist kennt Kants Satz, dass die einfache Frage "Was ist Recht?" den "Rechtsgelehrten […] in Verlegenheit" setze. Höchstens "[w]as Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben", schloss Kant an, könne dieser "noch wohl angeben". Selbst das ist, wie wir inzwischen wissen, mindestens sehr optimistisch formuliert: Denn "Rechtens" war eben nicht nur, "was die Gesetze" sagten. Und obwohl vor allem deutsche Gelehrte seit Jahrzehnten beträchtliche intellektuelle Energie auf die Erforschung "des Rechtsbegriffs" verschiedener historischer Situationen verwenden, erscheinen die Grundbegriffe von "Recht" einem geschulten Beobachter immer noch "viel weniger historisch durchgearbeitet als 'Staat'". ...
In der Diskussion des Vortrages, den Martin Pilch am 15. Januar 2010 am Frankfurter Internationalen Max-Planck-Forschungskolleg gehalten hat, konnte ich das Verhältnis von "Dinggenossenschaft und Recht" (Herbst 1979 – Frühjahr 1983, erschienen 1985) zu Gerhart Husserls "Rechtskraft und Rechtsgeltung" (1925) erläutern. Einen konzeptionellen Einfluss sehe ich nicht. Intensiv habe ich mich mit Husserls Verständnis des Urteilserfüllungsgelöbnisses der fränkischen Placita befasst. Wann je diskutierte ein Rechtstheoretiker anhand historisch derart interessanter Quellen? Das Urteilserfüllungsgelöbnis bringt notwendigerweise subjektiv-bilaterale Elemente in die Rechtsbildung ein. Doch ist es kollektiv in die gerichtliche Willensbildung eingebettet. Eine signifikante, prägende "Anknüpfung an Husserls bilaterale Geltungstheorie des Rechts" (Pilch [2009] 343) möchte ich auch deshalb verneinen, weil ich mich ja nur mit den Rechtsgewohnheiten (recht), nicht auch mit Vertrag und Willkür, näher befasste. Allerdings waren einzelne Elemente und Bilder brauchbar. Objektiv wird mein Konzept in erster Linie bestimmt durch rechtshistorische Konsensvorstellungen (z. B. Ekkehard Kaufmann, Konsens, HRG II, 1090–1102), die "Dogmatik" des deutschrechtlichen Urteils (Julius Wilhelm Planck, August Sigismund Schultze, Gerhard Buchda; Weitzel, consilio et iudicio (1980), in: FS Kroeschell 1987, 581 f.) und die mir seit den späten 1970er Jahren durch Uwe Wesel bekannte Oralitätsproblematik. ...
Hein Kötz hat es vor Jahren schon festgestellt: "Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung sind Holz vom gleichen Stamm. Sie sind Zwillingsschwestern." Und wie dies mit Zwillingen nun einmal so ist – sie lassen sich bisweilen nur schwer auseinander halten. So geht es auch dem Leser von Stefan Vogenauers fünfzehnhundert Seiten starker Dissertation zur Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent: Mochte man als Rechtshistoriker zunächst noch glauben, es handele sich dabei um Rechtsvergleichung, wurde der "monumentalen Untersuchung Vogenauers" inzwischen bescheinigt, sie sei auch "als bedeutende rechtshistorische Leistung" zu würdigen. Aber macht es denn tatsächlich so viel aus, welche der beiden Disziplinen die Arbeit für sich vereinnahmen kann? ...
Vom Kerbholz zur Konzernbilanz? : Wege und Holzwege zu einem autonomen Recht der global economy
(2004)
Die lex mercatoria, die sich abzeichnende transnationale Rechtsordnung der Weltmärkte, ist in aller Munde. Abgesehen von der vagen Idee eines eigenständigen privaten Rechts der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, das sich jenseits von nationalem Recht und Völkerrecht entwickeln soll, sind indes selbst die Grundfragen der mercatoristischen Doktrin im Streit: So fechten internationale Wirtschaftsjuristen "einen dreißigjährigen Krieg um die Frage der Unabhängigkeit der lex mercatoria aus, ohne daß Münster und Osnabrück in Sicht wären". Auch die Rechtsgeschichte wurde von den streitenden Parteien in diesen Glaubenskrieg verwickelt, geht die neue lex mercatoria angeblich doch zurück auf "das mittelalterliche universale Kaufmannsgewohnheitsrecht des interregionalen und internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs, das sich außerhalb des römischen Rechts autonom und in eigenständigen handels- und gesellschaftsrechtlichen Formen entwickelt hatte". Strittig ist, ob die neue lex mercatoria ihren Namen zu Recht trägt oder nur dessen historische Dignität ausbeutet und dadurch eine ihr nicht zukommende Universalität und Autonomie suggeriert; kaum hinterfragt wurde dagegen, ob das immer wieder bemühte historische Vorbild auch tatsächlich die ihm zugeschriebenen Eigenschaften aufweist. ...
Im Jahre 1721 setzt der preußische König Friedrich Wilhelm I. für das Herzogtum Preußen ein sogenanntes "Landrecht" in Kraft. Anders als der moderne Gesetzgeber begnügt sich der König dabei nicht mit der bloßen Publikation des Gesetzes, sondern er fügt dem Gesetzestext am Schluss ein ausdrückliches, an die Gerichte gewendetes Anwendungsgebot bei. Damit soll augenscheinlich eine bestimmte Argumentationslinie, mit der die Gerichte die Nichtanwendung des Gesetzes begründen könnten, von vornherein abgeschnitten werden: Der Einwand mangelnder Observanz, so heißt es in diesem Anwendungsgebot, sei kein Grund, das Landrecht nicht anzuwenden. Mangelnde Observanz entbinde die Richter keinesfalls von der Pflicht, das Landrecht ihrer Urteilstätigkeit zugrunde zu legen. Denn es sei gerade die Schuldigkeit der Richter, "unsere Gesetze zur Observanz zu bringen". Derartige Anwendungsgebote sind häufig anzutreffender Bestandteil vor allem der frühneuzeitlichen "Landrechte" und "Reformationen". In der Regel beinhalten sie ein in erster Linie an die Rechtsstäbe gerichtetes Gebot, das betreffende Landrecht "gleich nach beschehener Publication aller Orths ad observantiam" zu bringen – so die Formulierung etwa im Trierer Landrecht von 1668. Häufig ist dies dann verbunden mit dem Verbot, weiterhin neben oder gar an Stelle des neu ergangenen Landrechts das bislang gerichtsgebräuchliche Gewohnheitsrecht anzuwenden. In diesem Muster hält sich auch das eingangs zitierte Anwendungsgebot König Friedrich Wilhelms I., nur dass hier überdies ganz gezielt ein bestimmter Gegeneinwand von Seiten der Gerichte vorweggenommen wird: der Einwand nämlich, dass ein Gesetz – und sei es auch nach allen Regeln promulgiert und bekanntgemacht – so lange keine Wirksamkeit entfalten könne, als es nicht zur "Observanz" gelangt sei. In den reichskammergerichtlichen "Decisiones" Johann Meichsners etwa findet sich dieses Argument wie eine unbestrittene Selbstverständlichkeit vorgetragen: "Statutum enim, quod non est receptum in observantia, licet fuerit publicatum, nullas habet vires, ideo ligare non potest." ...
Das sog. "Policeyrecht" gilt als Ausgangspunkt bei der Entstehungsgeschichte des modernen Verwaltungsrechts. Es wird daher von Michael Stolleis in der "Geschichte des öffentlichen Rechts" eingehend behandelt. Im Jahre 2000 ist außerdem die von ihm betreute Dissertation von Johann Christian Pauly zur "Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin" erschienen; sie gibt einen Überblick über die ersten Autoren und deren Publikationen, die unter dem im 18. Jahrhundert noch neuen Titel des "Policeyrechts" bzw. "Ius Politiae" veröffentlicht wurden. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich in der Literatur die Unterscheidung zwischen einem genuin "policeywissenschaftlichen" und einem spezifisch "policeyrechtlichen" Ansatz beobachten; seitdem gibt es überhaupt erst das Wort "Policeyrecht". Damals erschienen die ersten Abhandlungen zu diesem Thema; soweit ersichtlich war die in Latein verfasste Arbeit von Johann Heumann die erste, die das "Ius Politiae" im Titel führte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat es sich dann zwar als Rechtsgebiet etabliert, wenn auch damals immer noch die Berechtigung einer Bezeichnung "Policeyrecht" nachdrücklich in Zweifel gezogen wurde. ...
In der aktuellen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Literatur konnte noch immer keine Einigung über den Regulierungsbegriff erzielt werden. Durchzusetzen scheint sich eine Definition, die unter Regulierung "jede gewollte staatliche Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse [versteht], die einen spezifischen, aber über den Einzelfall hinausgehenden Ordnungszweck verfolgt und dabei im Recht zentrales Medium und Grenze findet". Basierend auf einem derartigen Verständnis von Regulierung unterschied W. Hoffmann-Riem 1990 zwischen drei Regulierungsformen und prägte für sie die Begriffe staatlich imperative Regulierung, staatlich regulierte Selbstregulierung und private Selbstregulierung. Dabei soll sich die regulierte Selbstregulierung als Mittelkategorie dadurch auszeichnen, dass sich der Staat einerseits eine spezifisch gesellschaftliche Handlungslogik zunutze macht, andererseits aber den angestrebten Ordnungszweck (mit-)bestimmen kann. ..
Nicht nur in den dogmatischen Disziplinen der Rechtswissenschaft, sondern auch in der Rechtsgeschichte als einem sog. Grundlagenfach sind wissenschaftliche Reflexionen über die Methode des eigenen Fachs weitgehend Desiderat: "Methode hat man, über Methode spricht man nicht!" Diese Haltung verbindet sich in der Rechtsgeschichte noch immer allzu oft mit der Absicht, zeigen zu wollen, "wie es eigentlich gewesen" (Ranke). Insgesamt scheint sich an der Beobachtung von Heinrich Mitteis aus dem Jahr 1947, die Rechtsgeschichte habe sich "methodischen Fragen gegenüber gleichgültiger verhalten als andere Teile der Geschichtswissenschaft" und ihr Werk bislang mit "nachtwandlerischer Selbstsicherheit" verrichtet, nichts fundamental geändert zu haben. So verwundert es nicht, dass sich die rechtsgeschichtliche Forschung bisweilen dem Vorwurf ausgesetzt sieht, methodisch wenig innovativ vorzugehen. ...
Die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts ist ein Teilgebiet der Geschichte des öffentlichen Rechts. Sie befasst sich mit der wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Rechts in der Vergangenheit. Da sich die wissenschaftliche Bearbeitung des öffentlichen Rechts in literarischen Produkten niederschlägt, hat es die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts mit Literatur über öffentliches Recht zu tun. Das öffentliche Recht besteht wie anderes Recht auch aus Normen und Normenkomplexen unterschiedlichen Ranges und unterschiedlicher Provenienz. Zum öffentlichen Recht gehören aber auch die Entscheidungen unterschiedlicher Akteure, die diese Normen anwenden, vor allem Ausführungsund Durchsetzungsinstanzen wie Körperschaften, Anstalten und Behörden und Instanzen zur Streitschlichtung und Rechtmäßigkeitskontrolle wie Gerichte. ...
Beinahe hätte die sachlich begrüßenswerte Entscheidung, den Michael Stolleis gewidmeten Band nur Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte des Öffentlichen Rechts vorzubehalten, mich um die Freude gebracht, mich daran beteiligen zu können, denn die Wissenschaftsgeschichte des Öffentlichen Rechts war niemals mein Thema, sondern immer nur die Rechtspraxis.
Aber die theoretische Beschäftigung mit dem Recht diente und dient sowohl der Erfassung des Rechts zu seinem besseren Verständnis als auch der Verbesserung der Rechtspraxis. Insofern gibt es Berührungspunkte zwischen Rechtswissenschaftsgeschichte und der Geschichte der Rechtspraxis, nämlich dort, wo Rechtspraktiker theoretische Argumentationen und Topoi aufgreifen, um sie im rechtlichen Diskurs der pragmatischen Handlungsebene zu verwenden. Am deutlichsten wird dies, wenn Gerichte ihren Entscheidungen neue rechtswissenschaftliche Überlegungen zugrunde legen. In diesem Sinne hat Jürgen Weitzel in Relationen von Reichskammergerichtsassessoren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts freiheitsrechtliche Argumentationen ermittelt. Ob und wie weit dies mit dem Wirken des Illuminatenordens in Wetzlar zusammenhängt, ist umstritten. Aber auch Anwaltsschriftsätze können solche Argumentationsmuster aus der Wissenschaft übernehmen. Da der Anwalt das Gericht überzeugen wollte, sind Formulierungen von Anwaltsprozessschriften als Teil des rechtspragmatischen Diskurses ebenso ernst zu nehmen wie entsprechende Wendungen in Relationen von Richtern. Man kann an ihnen erkennen, wie schnell theoretische Überlegungen in der Rechtspraxis akzeptiert wurden. Wolfgang Schmale hat in diesem Sinne diese Quellengattung intensiv für seine Analyse genutzt, indem er Prozessakten burgundischer wie kursächsischer Provenienz aus der Mitte des 17. Jahrhunderts im Vergleich ausgewertet hat. Ich hoffe, dass dieser rezeptionsgeschichtliche Aspekt auch das Interesse des Adressaten dieses Bandes finden wird. ...
Verwaltungsrechtsgeschichte
(2011)
Obwohl ein stattliches Gebiet mit vielen interessanten Perspektiven eröffnend, ist die Verwaltungsrechtsgeschichte in Deutschland nur ein zartes Pflänzchen. Im Fächerkanon der Rechtsgeschichte taucht sie nicht auf, zur institutionellen Verortung reicht es schon gar nicht, Studierende lernen sie nicht kennen, es gibt keine Quellensammlung für Einstiegszwecke. Gibt es die Verwaltungsrechtsgeschichte überhaupt? ...
In der Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts hat man den Glauben verloren, in scheinbar ewigen Begriffen zeitlose objektive Wahrheiten gespeichert zu finden. Die Bedeutung von Begriffen wie von Worten überhaupt ergibt sich aus wandelbaren Regeln ihrer Verwendung in konkreten Kontexten, die ihrerseits sprachlich erfasst und verstanden sein wollen. Die hiermit betonte Kontextbindung unterstreicht die kantische Erkenntnis, dass wir durch "sehr abstrakte" Begriffe "an vielen Dingen wenig" und durch "sehr konkrete" Begriffe "an wenigen Dingen viel" erkennen. Dabei hängt für Kant nicht nur das "Maximum der Erkenntnis" an der richtigen Austarierung der Abstraktionshöhe, sondern besteht hierin zugleich die "Kunst der Popularität". Die Wahl des Abstraktionsgrades und der Vergleichsebenen stellt Anforderungen auch an die Geschichtsschreibung, namentlich an die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, der nicht einfach "Der Faschismus in seiner Epoche" gewesen ist. In Besonderheit zeigt der Holocaust, dass sich transnationale Vergleichsbildungen geradezu verbieten können. Sofern sich die Wissenschaftsgeschichte mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, ist sie gut beraten, mit Michael Stolleis bei den zeitgenössischen Wortverwendungen ihren Ausgangspunkt zu nehmen. Da die zentralen Wörter, traditionell die "Grundbegriffe" der Wissenschaft des öffentlichen Rechts, immer wieder die Aufmerksamkeit auch anderer Disziplinen gefunden haben, insbesondere der politischen Theorie, Philosophie, Geschichtswissenschaft und später zudem der Sozialwissenschaften, geben bereits die zu gewärtigenden gegenseitigen Beeinflussungen zu entsprechenden Seitenblicken in der Geschichte des öffentlichen Rechts Anlass. ...
Alle historische Forschung basiert auf einer Selektion von Themen, die sich aus dem Kontext ergeben, in dem diese Selektion stattfindet. Historische Forschung ist selbst zeitgebunden, und das beeinflusst ihre Perspektiven und Fragestellungen, nicht aber ist die Geschichtswissenschaft in der Lage, eine zeitlose Wahrheit über die Vergangenheit zu erschließen. Eine Suche nach dem "wie es eigentlich gewesen ist" muss auch daran scheitern, dass historische Forschung immer mit Wissen und Nicht-Wissen zugleich konfrontiert wird. Auch die rechtshistorische Forschung ist stets ein Subjekt ihrer Zeit, und auch sie muss akzeptieren, dass historisches Wissen notwendigerweise unvollständig ist. Die Rechtsgeschichte kann immer nur Fragmente der Objektivität der Geschichte rekonstruieren, sie kann nur "die sichtbare Seite einer Gesellschaft – Institutionen, Denkmäler, Werke, Gegenstände" zugänglich machen, nicht aber ihre "verborgene, unsichtbare Seite: Vorstellungen, Wünsche, Ängste, Verdrängungen, Träume". Tradition, heißt es dazu bei Harold Berman auch, "ist mehr als historische Kontinuität. Eine Tradition ist eine Mischung aus bewußten und unbewußten Elementen." ...
Ich möchte dem Direktor, Herrn Professor Thomas Duve, meinen aufrichtigsten Dank dafür sagen, dass ich die Rede zum Beginn einer neuen Phase im mittlerweile langen Leben des Frankfurter Instituts halten darf. Für einen Rechtshistoriker handelt es sich um eine wirkliche Ehre, hat doch das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte seit 1964, seinem Gründungsjahr, dank seiner Leiter – u.a. Helmut Coing, Dieter Simon, Michael Stolleis und Thomas Duve, die allesamt herausragende, allgemein anerkannte Wissenschaftler waren (und sind) – die Studien zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtsgeschichte wesentlich vorangetrieben und sich damit weltweit als wichtigstes Forschungszentrum durchgesetzt. ...
Peter Oestmann unterscheidet in seiner Intervention drei Arten der Rechtsgeschichtsschreibung, die er Normen-, Wissenschafts- und Praxisgeschichte nennt. Als bekennender Vertreter der letzten Kategorie setzt er sich für deren Emanzipation von der rechtsdogmatischen "Normenkontrolle" ein. Er bezeichnet es als "unfair, wenn Vertreter der Normengeschichte erwarten, diejenigen, die sich mit der Rechtspraxis beschäftigen, müssten im gleichen Maße die Rechtsliteratur und normative Quellen in ihre Untersuchungen einbeziehen wie andere Rechtshistoriker auch" (8). Zugleich bricht er eine Lanze für die "erheblich unjuristischere" Rechtsgeschichte der Praxis (ebd.). Wir pflichten diesem Anliegen vorbehaltlos bei. Zugleich beobachten wir, dass Oestmanns Kritik an Grundlagen des rechtshistorischen Selbstverständnisses rührt, die zur Diskussion zu stellen im deutschsprachigen Raum erfahrungsgemäß schwer fällt. Auch bleibt Oestmann zu oft in den Kategorien des von ihm Kritisierten befangen. Unsere Replik setzt sich mit den historischen Ursachen dieses strukturellen Unbehagens in der Rechtsgeschichte auseinander.
Als der oströmische Kaiser Theodosius II. in den Jahren 429 bis 438 nach Christus eine umfassende Rechtssammlung in Auftrag gab, rechnete er sicher damit, dass er eine schwierige Aufgabe in Angriff nahm. Das Recht – einst ein, wenn nicht das effektivste Herrschaftsinstrument des Imperium Romanum – hatte seine Wirkungsmacht weitgehend eingebüßt. Die Rechtsquellen waren unzugänglich oder unbekannt geworden und uneinheitlich in ihrem Geltungsanspruch. Sie hatten mit der administrativen Teilung des Reichs in Ost- und Westrom zumindest die Hälfte ihres Geltungsradius eingebüßt. Die zwei privaten Rechtssammlungen von Kaisergesetzen aus der Zeit Diokletians, der Codex Gregorianus und der Codex Hermogenianus, die aus dem letzten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts datieren, waren veraltet und ergänzungsbedürftig. ...
Da es der rechtsgeschichtlichen Forschung um das Recht der Vergangenheit geht, ist sie in ihrer Epistemologie von der Existenzform des Phänomens Recht abhängig. Alles Recht ist gedanklicher Natur. Es handelt sich um die Überzeugung, dass für das organisierte menschliche Zusammenleben gewisse Regeln verpflichtender Art zu beachten sind, deren Verletzung mit einer Sanktion geahndet werden wird/soll. Wird Recht in einem objektiven Sinne ("Rechtsordnung") angesprochen, handelt es sich um ein Konstrukt. Überzeugungen sind als solche individuell. Eine "Kollektivüberzeugung" hat keine reale Existenz. Überindividuell handelt es sich um ein Kommunikationsgeschehen, in dem eine teilweise oder weitgehende Übereinstimmung darüber besteht oder hergestellt wird, was als Recht und was als Unrecht anzusehen ist. In fortgeschrittenen Gesellschaften nehmen an diesem Kommunikationsgeschehen Personen teil, die in verschiedenen Rollen mit Vertragsgestaltung, Streitentscheidung, Normerzeugung und akademischer (intergenerationeller) Normvermittlung befasst sind. Die überindividuelle Existenz von Recht als einem Gedankengebilde, das weithin übereinstimmend für zutreffend gehalten wird, ist ein Tatbestand, der angemessen nur wissenssoziologisch erfasst werden kann. ...
Konstitutionalisierung, Europäisierung, Internationalisierung … So viele bestehende oder sich abzeichnende Tendenzen, die durch ihre Neuheit bestechen und durch ihre Dynamik Interesse erwecken. Doch, wie Jean-Claude Gautron gerne seinen Doktoranden zu verstehen gibt, "nicht alles, was glänzt, ist Gold", eine Einstellung, die sich auch in seiner eigenen Haltung der "kritischen Betrachtung Europas durch einen Europarechtler" widerspiegelt. Ihn durch den Versuch zu würdigen, die Verwendung bestimmter Begriffe zu beleuchten, ist daher nicht unangemessen. ...
Konnte Michael Stolleis noch 1985 im Rechtshistorischen Journal beklagen, dass die Strafrechtsgeschichte ein blinder Fleck in der (rechts-)historischen Forschung sei, so ist seit etwa 1990 geradezu ein Boom der historischen Kriminalitätsforschung zu verzeichnen, der inzwischen auch die Rechtsgeschichte erfasst hat ...
In der postmodernen globalen Welt erweist sich gerade die Weiterentwicklung der normativen Ordnung im Bereich des transnationalen Strafrechts als problembehaftet. Das internationale Strafrecht im engeren Sinn supranationaler Kodifikationen und Institutionen ist noch immer auf wenige Tatbestände und internationale Gerichte beschränkt. Eine umfassendere, alle Elemente der grenzübergreifenden Interaktion von Strafrechtsregimen normierende internationale Strafrechtskodifikation scheint kaum realisierbar; bereits partielle Harmonisierungsbemühungen in der Europäischen Union stoßen an enge Grenzen und wurden – wie der europäische Haftbefehl oder das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen – nach 2002 nur unter dem Druck terroristischer Sicherheitsbedrohungen realisiert. Die normativen Grundlagen wie die staatliche Praxis des internationalen Strafrechts lassen zahlreiche Ambivalenzen, Regime-Kollisionen und Konflikte erkennen, vertragliche Vereinbarungen gehen dem Gesetzesrecht vor, polizeilich-politische Erfordernisse dominieren vor rechtsstaatlicher Einhegung und Individualrechten und insgesamt erweisen sich transnationale Strafrechtsregime als rechtlich eher gering normiert. ...
Ob eine Suche nach Rechtsbegriffen des Mittelalters förderlich sei, erscheine – so Harald Siems – zweifelhaft. Theoretische Reflexionen über Recht habe man im Frühen Mittelalter kaum angestellt. Jedenfalls nicht in der Intensität, dass sie sich zum Begriff verdichtet hätten. Die Frage nach dem Rechtsbegriff sei auch deshalb fehl am Platze, weil im Frühmittelalter so etwas zur Lösung von Rechtsfragen nichts hätte beitragen können. Warum sollte jemand auf die Idee kommen, "quasi auf Vorrat" Rechtsbegriffe zu entwickeln? Schon wenn es um konkrete Rechtsfragen wie beispielsweise die Behandlung von Diebstahl oder Raub geht, fehle es "noch lange an Begriff und System". Diese knappe Feststellung bringt Siems’ Ausführungen für einen kurzen Moment in die Nähe von Überlegungen, die Pilch anstellt und die auf dieser Tagung zu verfolgen sind. Aber wirklich nur für einen Augenblick blitzt das auf: Siems sagt, Rechtsbegriffe seien eine schwierige, abstrakte Kategorie, für die heute die Vertreter der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie zuständig seien. ...
Abseits von Europas Hauptverkehrswegen fand vom 7. bis 10. Mai 2008 das XIV. Europäische Forum junger Rechtshistoriker/innen statt: in der kleinen Universitätsstadt Pécs, gelegen im Südwesten Ungarns. Selbst mit dem Schnellzug ist es gut vier Stunden vom Budapest Keleti pályaudvar entfernt, wo sich die Bahnlinien aus allen Himmelsrichtungen und Metropolen Europas treffen. So stellte sich bei der Suche nach Reiseverbindungen schnell das Gefühl ein, in einen abgelegenen Winkel des Kontinents zu reisen. Doch Zentrum und Peripherie waren Denkkategorien, die im Verlauf der Tagung gehörig in Frage gestellt werden sollten. ...
Die deutsche Normalschraube
(2003)
Moderne Selbstbeschreibungen können durchaus produktiv die historische Forschung zu neuen Paradigmen anregen. Die derzeit sehr populäre Vorstellung von "Netzwerken" lässt sich mit Gewinn sogar auf historische Gesellschaften übertragen. Die Folgen dieses Konzepts für Theorien der Herrschaft beschäftigten am 5. und 6. Dezember 2002 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz einen von Peter Becker und Raffaele Romanelli organisierten Workshop – sein Thema: "Governing through Networks: International Collaboration between Public Administrators". Der Veranstaltungstitel bildet nicht ab, dass es sich um ein dichtes Expertengespräch zum 19. Jahrhundert handelte. Thomas Nutz (München)berichtete über den sich internationalisierenden Gefängnisdiskurs in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, Pietro Corsi (Paris) breitete imposantes Material über die bis heute fruchtlosen Versuche italienischer Geologen aus, eine vollständige Karte des Landes zu erstellen. Hier wie auch bei den Statistikern (Silvana Patriarca, Fordham) wurde deutlich, welch überragende Rolle internationalen Netzwerken von wissenschaftlichen Experten im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten zugewachsen war. Sie organisierten sich in privaten Vereinen oder halbstaatlichen Organisationen und bildeten grenzüberschreitende Wissenssysteme, denen zunehmend eine Schlüsselstellung bei der politischen Entscheidungsfindung zukam. ...
Im Spätherbst 2007 wurde in Mannheim eine Ausstellung mit früher bundesrepublikanischer Polizeifotografie eröffnet, die bis zum April 2008 gezeigt wurde. Die Bilder waren dabei über zwei Ausstellungsorte verteilt, denn die Schau fand sowohl im Museum Weltkulturen der Reiss-Engelhorn-Museen als auch im ersten Stock des Mannheimer Polizeipräsidiums statt. Die Besucher konnten somit ganz praktisch über die grundlegende Frage reflektieren, ob die Umgebung einer Ausstellung unmittelbare Rückwirkung auf die Wahrnehmung der Inhalte durch ihre Betrachter hat. ...
Juristischer Polyzentrismus : wie unterrichtet man vergleichende europäische Rechtsgeschichte?
(2010)
Auch Fragen, die offen klingen, können Suggestionen enthalten. "How to teach European comparative legal history?" lautete der Titel eines Workshops, der vom 19. – 21. August 2009 im südschwedischen Lund stattfand. Eingeladen hatten die örtlichen Rechtshistoriker Kjell Å. Modéer und Per Nilsén. Die Vorannahme, die der Titel transportierte, wurde durch das einleitende Referat Modéers begründet und als Imperativ bekräftigt: Ja, wir sollen vergleichende europäische Rechtsgeschichte lehren! Modéer scheint die europäisch-vergleichende Perspektive in diesen Zeiten hochgradig angemessen, da sie nationale Kurzsichtigkeiten und Engführungen überwinde. Den Wandel skizzierte er mit den Stichworten der Europäisierung des Rechts, der Internationalisierung der Studenten in den universitären Kursen und gesellschaftlich allgemeiner mit den zunehmenden Konflikten der Kulturen sowie der "postkolonialen Situation". Juristisch habe sich die Perspektive von der Pluralität der Rechtssysteme hin zur Pluralität der Rechtsordnungen gewandelt. Unter diesen Umständen sollten, so Modéers Credo, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung kooperieren und neue Perspektiven auf das Recht entwickeln. Immerhin gebe es ja Theorien der Rechtsvergleichung, allerdings lehre die Erfahrung, dass sie im Unterricht entweder dominierten oder fehlten. Wie aber soll der Rechtshistoriker dieses Programm in der Lehre umsetzen?
Die "Grundrechte der Staaten" sind eine juristische Doktrin, die das Natur- und Völkerrecht der Vormoderne hervorgebracht hat. Der folgende Beitrag rekonstruiert ihre Merkmale, wobei er sich vor allem der Tradierung dieser Doktrin im 19. Jahrhundert widmet. Skizziert werden sollen die Voraussetzungen dieser Konstruktion, die ihre Ausformulierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fand; im Hauptteil folgen einige Bemerkungen zu ihrer vollen Entfaltung und Karriere um 1800 und ihrer Fortdauer im 19. und 20. Jahrhundert. Gefragt wird, welche Vorstellungen über die zwischenstaatlichen Beziehungen sich in ihr abbildeten und wie diese normativ begründet wurden. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Rechtsquellenlehre des klassischen Völkerrechts, welche diese offenkundig naturrechtliche Vorstellung von der Existenz der "Grundrechte der Staaten" auch in jenen Epochen weitgehend unangetastet ließ, die vielfach als "positivistisch" etikettiert werden. ...
Einen schönen Einstieg in "Rechtspluralismus" bietet ein jüdischer Witz: Zum Rabbi kam ein Mann und lamentierte über seine Ehefrau. Sie erziehe die Kinder falsch und kümmere sich zu wenig um den Haushalt. Sie koche nicht gut und sonst allerlei gelinge ihr ebenfalls nicht. Daraufhin dachte der Rabbi kurz nach und sagte: "Ja, ja, sicher, Du hast Recht." Am Tag darauf kam die Frau zum Rabbi und beschwerte sich heftig über ihren Ehemann. Dieser kümmere sich zu Hause um gar nichts, liege nur faul herum und sonst sei auch nichts mit ihm anzufangen. Da dachte der Rabbi wieder kurz nach und antwortete: "Ja, ja, Du hast Recht." Beiden Gesprächen wohnte der Schüler des Rabbis bei. Dieser wunderte sich nun und fragte den Rabbi in vorwurfsvollem Ton: "Du kannst nicht geben Recht dem Einen und dann der Anderen. Das geht nicht, dass beide Recht haben." Da dachte der Rabbi wieder nach und sprach: "Ja, ja, Du hast auch Recht." ...
Synästhetische Normativität
(2017)
Im Herzen Frankreichs, südlich von Paris und Orléans, östlich von Blois, in einem ausgedehnten Waldgebiet liegt das Schloss von Chambord, das prächtige, das unvergleichliche Chambord, Prunk- und Jagdresidenz Franz’ I., architektonischer Höhe- und Wendepunkt der französischen Renaissance. Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und des allerchristlichsten Königs ewiger Rivale, soll das Schloss, als er es 1539 zu Gesicht bekam, gepriesen haben als den "Inbegriff dessen, was menschliche Kunst vermag.". ...
Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte bezog und bezieht ihren Erkenntniswert einerseits aus der Überwindung der Enge einer nationalstaatlichen Betrachtung. Daraus ist andererseits oft eine neue Beschränkung erwachsen, die aus der Globalisierung unserer Welt herrührt und von kosmopolitischem Geist – jenseits aller arbeitsökonomischen Bedingungen – als Europazentrismus kritisiert wird. So kann das ehemals Progressive wieder zu einer neuen Form von Rückständigkeit mutieren. Heute müssen wir sagen: "Europa lässt sich ohne Außereuropa gar nicht denken." ...
Die geläufige Unterscheidung in privates und öffentliches Recht gehört zu den ältesten kategorialen Einteilungen des Rechts und der Rechtswissenschaft schlechthin. Das geht auf die bekannte UlpianFormel über die "duae positiones" des Rechts und Rechtsstudiums zurück, dass nämlich das "ius publicum … ad statum rei Romanae spectat, privatum … ad singulorum utilitatem" (D 1.1.2.2). Diese Bezeichnung der beiden für den Unterricht bestimmten Rechtsmaterien suggerierte eine eigenständige "positio" des Privatrechts gegenüber dem öffentlichen Recht, die die gesamte bisherige Literatur mit unterschiedlichen Akzenten durchzieht. Radbruch begreift z. B. die Begriffe "privates" und "öffentliches Recht" als "apriorisch", die so bereits im Rechtsbegriff selbst verankert und in der Rechtsidee angelegt seien.1 Allerdings macht Radbruch die wichtige Einschränkung, dass das Wert- und das Rangverhältnis der beiden Rechtskategorien nicht absolut zu setzen sind.2 Das Verhältnis zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht unterliegt historischen Entwicklungen, rechtskulturellen Situationen, sozialen Anforderungen und damit politisch-weltanschaulichen Bewertungen. Das relativiert die Möglichkeit eindeutiger und dauerhafter dogmatischer Festlegung, deren bisherige Versuche Sten Gagnér teils als "uferlos", teils als "Groteske" ironisiert hat. ...
Martin Pilchs rechtstheoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Rechtsgewohnheit bzw. Rechtsgewohnheiten sowie dem Rechtsbegriff als solchem, wie sie seit geraumer Zeit innerhalb der Rechtsgeschichte des Mittelalters diskutiert werden, bietet Gelegenheit zu einer Stellungnahme aus der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte. Während in anderen Bereichen der antiken Rechtsgeschichte Rechtsgewohnheiten als Begriff und als Phänomen jedenfalls in jüngerer Zeit durchaus thematisiert werden, spielt dies im Zusammenhang mit Untersuchungen zu den Keilschriftrechten bislang eine allenfalls untergeordnete Rolle. ...