BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Walter Benjamin teilt das Schicksal vieler Autoren, die den literarischen und philosophischen Kanon anführen; man denke an Kleist, Büchner, Kafka oder Wittgenstein. Wie bei diesen so bilden auch bei Benjamin die zu Lebzeiten veröffentlichten Texte nur die Spitze eines Eisbergs. Der weitaus größere Teil ist erst nach dem Tod erschienen. Das Schicksal des Werkes lag damit in der Hand von Editoren, die es nach ihren Vorstellungen eingerichtet haben. Die für Benjamin tragische Geschichte der unabgeschlossenen, gescheiterten oder redaktionell verstümmelten Buch- und Aufsatzpublikationen wie das 'Passagen-Werk', die 'Berliner Kindheit' oder der Aufsatz 'Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit' ist häufig dargestellt worden. Man könnte es damit bewenden lassen und nun auf eine Ausgabe hoffen, in der alle veröffentlichten und unveröffentlichten Arbeiten samt ihrer Fassungen, Varianten und Materialien vollständig versammelt werden sollen. Dieser Anspruch ist allerdings mit verschiedenen Fragezeichen zu versehen.
Seit 2008 erscheint im Suhrkamp Verlag eine kritische Gesamtausgabe der Schriften Walter Benjamins unter dem Titel 'Werke und Nachlaß', "im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv". Dieser Edition, die sich anschickt, die von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser 1989 abgeschlossene und für mehrere Generationen von Benjamin-Forschern bis heute maßgebliche Ausgabe der 'Gesammelten Schriften' abzulösen, ist keine professionell geführte öffentliche Diskussion vorangegangen, wie dies bei derartigen Großprojekten etwa in Form von Arbeitstagungen durchaus üblich und sinnvoll ist. Erst auf Initiative der 'International Walter Benjamin Society' ist mit dem Antwerpener Symposium von 2009 ein solches Gespräch, bei Abwesenheit der Hauptherausgeber, in Gang gesetzt worden. Angesichts dieser einigermaßen kuriosen Situation können sich die folgenden Überlegungen nur auf die knappen, von Gödde und Lonitz unterzeichneten Leitlinien und deren Umsetzung in den ersten drei, jeweils von Uwe Steiner (WuN III), Momme Brodersen (WuN X) und Detlev Schöttker (WuN VIII) mit großem Sachverstand kuratierten Bände stützen. An dieser Stelle scheint es mir geboten, von editorischen Details und Fragen der Kommentierung abzusehen und das Augenmerk zunächst einmal auf die grundlegenden Aspekte und Interessen der neuen Edition zu richten. Was will sie? Und wie geht sie vor? Zu den Geburtsfehlern dieser "Kritischen Gesamtausgabe" - so viel sei vorausgeschickt - gehört der Umstand, dass zwischen dem programmatischen Anspruch und der Wahl der editorischen Mittel eine sachlich nicht zu rechtfertigende Diskrepanz besteht.
Es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, worin die editorische Leistung und der Erkenntnisgewinn der neuen Benjamin-Ausgabe (WuN) besteht, da sie kaum vor Ende des kommenden Jahrzehnts ihren Abschluss finden wird. Aber es ist nicht zu früh, über die Edition zu diskutieren. Denn sie gibt Anlass, über das grundsätzlich nachzudenken, was doch das Fundament jeder Benjamindiskussion und -forschung darstellt: die Zugänglichkeit und wissenschaftliche Erschließung seines Werks. Und hier verspricht die neue Ausgabe, erstmals alles von Benjamin Überlieferte und im Archiv Gesammelte textintegral zu edieren und damit also das Vermächtnis seines Schreibens neu zu erschließen.
In seiner Rezension zur Kritischen Ausgabe der 'Einbahnstraße' schreibt Lorenz Jäger in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' vom 11.3.2010: "Zwischen Moskau und Paris liegt der geographische Raum dieses Buches, auch nach Süden hin ist er offen." Tatsächlich spielt der Süden Europas im Leben und Werk Benjamins eine wichtige Rolle. In Italien und Spanien hat er nicht nur längere Phasen seines Lebens verbracht, sondern bekanntlich auch zentrale, seine intellektuelle Entwicklung prägende Zäsuren erlebt. Seine autobiographischen Texte, Reisebilder und die Besprechungen einschlägiger Werke zur Kultur und Landschaft Südeuropas geben davon ein eindrucksvolles Zeugnis. Hinsichtlich der Rezeption der romanischen Literatur im engeren Sinn wird man aber von einer eher schmalen Tür nach Süden sprechen müssen, jedenfalls gemessen an den breiten Toren, die nach Westen in Richtung Frankreich bzw. nach Osten zur russischen Literatur führen. Gewiss, Benjamin kannte die italienischen Klassiker Dante, Petrarca, Boccaccio, Aretino oder Marsilio Ficino, aber sehr tiefe Spuren haben sie in seinem Werk nicht hinterlassen. Etwas anders sieht es bei den großen Autoren des spanischen 'Siglo de Oro' aus. Mit Cervantes als Erzähler, vor allem aber mit dem "Handorakel" von Baltasar Gracián und den Trauerspielen Calderons hat er sich seit den 1920er Jahren wiederholt und intensiv auseinandergesetzt. Aber auch hier fehlt, sieht man von der kurzen Rezension des spanischen Surrealisten Ramón Gómez de la Serna ab, jede nähere Beschäftigung mit bedeutenden Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Umso auffälliger ist vor diesem Hintergrund das Interesse, das Benjamin dem italienischen Dichter, Philologen, Essayisten und großen Aphoristiker Giacomo Leopardi (1798–1837) entgegengebracht hat. Es findet seinen deutlichsten Niederschlag in der Rezension einer deutschen Übersetzung von Leopardis 'Pensieri', die im Frühjahr 1928 geschrieben wurde und in der 'Literarischen Welt' vom 18.3.1928 erschienen ist. Größere Aufmerksamkeit hat diese Besprechung nicht gefunden. Bekannter ist der sich daran anschließende, zwei Monate später an gleicher Stelle publizierte Disput mit dem Übersetzer Richard Peters, der dem Kritiker Gelegenheit gab, zu grundsätzlichen Fragen der Übersetzungstheorie Stellung zu nehmen (WuN XIII, 144–147). Dagegen wurde die Verbindung zwischen Benjamin und Leopardi bislang in der Forschung von keiner Seite thematisiert.
Die vielberufene Zitierbarkeit der Benjamin'schen Wendungen gehört ins Register jener '-abilities', die Samuel Weber entdeckt hat. Sie berührt sich, sozusagen als 'quotability', mit der Brauchbarkeit, Erkennbarkeit, Kontrollierbarkeit, Kritisierbarkeit, Lesbarkeit, Mitteilbarkeit, Reproduzierbarkeit, Übersetzbarkeit, Vererbbarkeit, jenen Qualitäten, die einer Sache, durchweg einer Sache sprachlich-textlicher Faktur, virtuelle Kraft zusprechen. Diese Kraft bezeichnet nicht nur einen Charakter der passiven Eignung oder aktiven Befähigung, sondern dem Vorbild des lateinischen Gerundiums einen impliziten Imperativ. Was zitierbar ist, kann nicht nur, sondern muss zitiert werden, und es wirkt als ein Zu-Zitierendes. Benjaministische Benjamin-Forschung befolgt diesen Imperativ allzu wörtlich. Sie setzt autoritative Zitate an die Stelle sowohl des Kontextes, wo sie zuerst erschienen waren, wie auch der Technik des Denkens und Schreibens, denen sie ihre Spezifik verdanken. Für den autoritativen Gestus des Benjamin'schen Schreibens stehen viele Termini parat, und ein nicht abwegiger Terminus ist der des Aphorismus. Man wird auch vom Fragmentarismus des Benjamin'schen Schreibens sprechen dürfen, von seinem Hang zu Sentenzen (eben zitierbaren Sätzen), zur physiognomischen Zuschreibung, zum gnomischen, einprägsamen, inschrifthaften und monumentalen Wort. Die vieldebattierte Frage, ob Benjamins Stil aphoristische oder fragmentaristische Züge habe, kann in dieser Allgemeinheit etwas akademisch anmuten. Ein Anderes sieht, wer Aphorismus und Fragment zusammendenkt - wie etwa Gerhard Neumann in seiner monumentalen Studie 'Ideenparadiese'-, ein Anderes, wer sie unterscheidet.
Dass Paul Valéry, zunächst über seine Schriften, später auch persönlich als Vortragsredner, den einundzwanzig Jahre jüngeren Walter Benjamin intellektuell stark beeindruckt hat, ist in dessen Briefen, Aufsätzen und Rezensionen, dem Verzeichnis der gelesenen Schriften und dem Quellenverzeichnis zum Passagen- Werk gut dokumentiert. Danach lernte Benjamin von Valérys Werk seit Mitte der 1920er Jahre neben der Lyrik und 'Monsieur Teste' auch die literaturtheoretischen und kulturkritischen Essays kennen: zunächst den ersten Band der Sammlung 'Variété, Eupalinos ou l’architecte' und 'L’ Âme et la danse', dann auch die 'Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, L’ Idée fixe' (wohl 1934), die 'Pièces sur l’art' und 'Regards sur le monde actuel', beide in der Ausgabe 1938. Fasziniert hat Benjamin an Valéry nach Ausweis seiner bisweilen geradezu hymnischen Urteile vor allem die Betonung der Intellektualität und Bewusstheit gerade auch bei den vagen Objekten der ästhetischen Reflexion und damit die Gegnerschaft zum surrealistischen Konzept. Ihre Nähe ist gelegentlich aber auch mit der gemeinsamen Affinität zum Aphoristischen in Verbindung gebracht worden, die in Benjamins Valéry-Lob keinen direkten Niederschlag findet. Ich will daher hier einmal etwas genauer der These einer generischen Nähe zweier Korpora von kurzen Reflexionen uneinheitlicher Textsortenzugehörigkeit nachgehen, die kurz nacheinander erschienen sind - und vielleicht auch nicht ganz unabhängig voneinander: Valérys 'Rhumbs' (die hier metonymisch für verschiedene Einzelsammlungen aus dem später sogenannten 'Tel-Quel'-Konvolut stehen) und Benjamins 'Einbahnstraße'.
Zwischen emanzipatorischem Appell und melancholischem Verstummen : Walter Benjamins Jugendschriften
(2011)
Wenn ich im Folgenden versuche, den prekären Status des juvenilen Diskurses anhand seiner grundlegenden Motive an diesem selbst nachzuweisen, geht es mir nicht darum, den Schluss-Stein in der Konstruktion seines Werkes zu setzen. Vielmehr soll mit der kritische Analyse der Konfiguration seiner frühesten Schriften davon abgerückt werden, sein Schreiben in der Totalität eines Werkes fixieren zu wollen. Denn - um es in Anlehnung an Foucaults genealogischem Blick auf die Geschichte zu formulieren - an seinem Anfang "stößt man nicht auf die noch unversehrte Identität (eines) Ursprungs, sondern auf Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit". Deshalb gilt es, Benjamins Jugendschriften in ihrer Marginalität, Kontingenz und Vergänglichkeit ernst zu nehmen. Meine These lautet, dass diese außerhalb seines Werkes stehen müssen, weil sie sich weder selbst in ein Werk abschließen noch einfach seinem Autornamen zuordnen lassen. Ihre verstörende Wirkung erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass sie entstanden sind, noch bevor Walter Benjamin als 'Autor' zu schreiben begonnen hat.
Walter Benjamin's 9th thesis on the concept of history is his most-quoted and -commented text. As it is well known, his idea of the "Angel of History" appears as a commentary on Paul Klee’s famous watercolor titled 'Angelus Novus'. I think it is necessary to open another way of interpretation through the connection of Benjamin’s Angel of History with the political iconography of Berlin, the city where he was born and lived for many years and about which he wrote in his memories of childhood, his Berlin chronicles and radio programs. I shall begin the historical narrative of Berlin's political iconography with a figure to which Benjamin paid little attention: the Goddess Fortune.
Zwischen 1930 und 1931 schreibt und entwirft Benjamin einige seiner scharfsinnigsten und originellsten Texte. Wenn wir in einer Sentenz das Knäuel von Erfahrungen zusammenfassen möchten, das die Schriften dieser Jahre verbindet, so könnten wir an den Titel der Zeitschrift im Kreis um Brecht erinnern: 'Krise und Kritik'. In einer Schilderung seiner eigenen Verfassung dieses Jahres schreibt Benjamin an Scholem: "[T]rotzdem ich nicht die mindeste Vorstellung von dem habe, "was werden soll" - geht mirs gut. [...] [I]ch komme mir zum ersten Mal im meinem Leben erwachsen vor. Nicht nur: nicht jung mehr, sondern erwachsen indem ich eine der vielen in mir angelegten Daseinsformen nahezu realisiert habe. [...] Ich habe einen der - wahrscheinlich kurzen, vorübergehenden - Augenblicke erreicht, wo ich mich niemandem mehr abzufragen und die Bereitschaft habe, den verschiedensten Mobilisierungsbefehlen zu folgen. [...] Mein nächster Umgang ist seit ungefähr einem Jahr Gustav Glück, Direktor der Auslandsabteilung der Reichskreditgesellschaft, von dem Du eine Art Porträtabriß - cum grano salis zu verstehen - in dem "Destruktiven Charakter" findest, den ich Dir übersandte. Du erwähntest ihn nicht?" (GB IV, 61 f.). Der fragliche Text, das Fragment 'Der destruktive Charakter' aus dem Jahre 1931, das, wie es scheint, Benjamin sehr am Herzen lag, verdichtet in einem 'Denkbild' all jene Motive, die seine Textproduktion der Krisis charakterisieren. Dass es sich tatsächlich um ein Portrait eines Freundes von Karl Kraus handelt, kann nicht mit Gewissheit angenommen werden. In jedem Fall ist Gustav Glück, jenseits aller Biographismen, der Name den Benjamin jener Figur eines Revolutionärs geben wollte, die dann die Zeit des Übergangs, der Wende und der Krise verkörpert. 'Der destruktive Charakter' ist das hermeneutische Paradigma, das der Autor heraufbeschwört, um das Motiv des Grenzüberschritts aufzurufen. Er stellt das Bild fragiler und verlorener Umrisse vor, in der sich jene essenzielle Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft aufhält, die die Gegenwart ist - eine Figur, der Benjamin in einigen entscheidenden Passagen seines Werks auch den Namen 'Schwelle' verliehen hat. Auf den folgenden Seiten soll eine hermeneutische Auslegung vorgenommen werden, die den destruktiven Charakter als eine Figur der Schwelle begreift, d.h. als Figur einer dynamischen Koexistenz zwischen dialektischen Polen, die sich in einer produktiven Spannung befinden. Der destruktive Charakter steht am Kreuzweg, an einem Ort, der auf eine mögliche Veränderung hindeutet. Nach dieser Perspektive wird Benjamins Denken in eine philosophische Tradition gestellt, die von Aristoteles bis hin zu Derrida die Kategorien der Potenz, der Möglichkeit und der Virtualität privilegiert.
In den zahllosen Untersuchungen zu Benjamins Gedächtnis und Geschichtskonzeption spielt das 'Nachleben' nur eine untergeordnete Rolle; wo es eigens in den Blick genommen wird, wird es durch andere Konzepte wie 'Zitat' oder 'Erbe' perspektiviert; insbesondere wird das naheliegende Verhältnis des 'Nachlebens' zum 'Leben' nur am Rande berührt, obwohl die Rede vom "Leben und Fortleben der Kunstwerke" gerade diesen Zusammenhang zu betonen scheint. Wenn man aber diese Beziehung außer Acht lässt, erscheint 'Nachleben' fast notwendig als relativ beliebige Metapher, die man dann selbst wiederum schmückend zitieren kann, ohne die sie eigentlich fundierende Problematik nachzuvollziehen. Dabei lässt sich gerade am Schritt vom 'Leben' zum 'Nachleben' nicht nur zeigen, auf welche zeitgenössischen Diskurse Benjamin Bezug nimmt und wie er mit ihnen umgeht; dieser Schritt macht auch zuallererst erkennbar, worin die eigentliche Prägnanz der Benjamin'schen Rede vom 'Nachleben' besteht und welchen Status sie hat: Es handelt sich weder um einen Terminus noch um einen beliebigen Ausdruck, sondern um eine 'Denkfigur', die auf rhetorischen Operationen wie der erwähnten Verschiebung und deren präzisem Vollzug in Benjamins Texten beruht. Im Folgenden soll daher zunächst (1) an einem konkreten Einzelfall die zeitgenössische Bedeutung von 'Nachleben' und (2) der diskursive Hintergrund der 'Lebensphilosophie' umrissen werden, dann (3) die Bedeutung des 'Lebens' im Übersetzeraufsatz untersucht werden, um darauf aufbauend (4) die argumentative Verschiebung vom 'Leben' zum 'Überleben' nachzuzeichnen sowie (5) die religiöse Dimension des 'Nachlebens' und (6) die von ihm implizierte zugrundliegende Zeitlichkeit zu erörtern.