BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Von den Schreiben, die Erich Rothacker und der Romanist Erich Auerbach (1892–1957) gewechselt haben, sind insgesamt siebenundzwanzig - achtzehn Briefe und neun Postkarten - erhalten. Sie stammen allesamt aus dem Zeitraum vom 1925 bis 1933 und von der Hand Auerbachs. Die Schreiben befinden sich im literarischen Nachlass von Rothacker an der Universitätsbibliothek Bonn und sind zu wissenschaftlichen Zwecken ohne Umstände einsehbar.
Im Geleitwort zu Ralph Stöwers Bonner Dissertation von 2009 ‚Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen‘ erklärt der Psychologie-Historiker Georg Rudinger über den Stand der Rothacker-Forschung: "Was in Sachen Rothacker vor allem zu tun bleibt, ist eine intensivere Geschichte seiner Rezeption"; und er fügt folgende These hinzu: "Die Geschichte der Nichtrezeption ist hier ähnlich interessant wie die der Rezeption." Mein Beitrag greift diese zweite Aussage auf und zeigt erstens, inwiefern tatsächlich von einer Nichtrezeption Rothackers gesprochen werden kann, und zweitens, was diese Nichtrezeption über das deutsche theoretische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit und über die Position Rothackers innerhalb desselben offenbart.
Als Hans-Ulrich Gumbrecht vor einigen Jahren die Bemühungen um ein begriffsgeschichtliches Wörterbuchauf Rothackers Pläne in den 20er Jahren zurückführte, stellte er richtig fest, dass es Rothackers Ansehen zu verdanken war, dass ein solcher Plan "über die Schwelle des Zweiten Weltkriegs bewahrt wurde und dann entschlossene institutionell-finanzielle Unterstützung in der Wissenschaftsszene der jungen Bundesrepublik fand". Für Gumbrecht bestätigt dieser Einzelfall die allgemeine Charakterisierungder Geisteswissenschaften an den deutschen Universitäten während der fünfziger Jahre, die Jürgen Habermas gegeben hat: "Auf den Universitäten herrschte eine geistige Kontinuität, die durch die 30er Jahre hindurch bis weit in die Adenauerzeit hineinreichte". Gumbrecht urteilte in Bezug auf das Wörterbuchprojekt auf einer dünnen Basis: Von Rothackers Projekt war kaum mehr bekannt als seine Eisler Rezension von 1927 und seine Andeutungen im Geleitwort zum 1955 neu gegründeten Archiv für Begriffsgeschichte, das den Untertitel "Bausteine zu einem Historischen Wörterbuch der Philosophie" trägt. Gumbrecht und viele mit ihm nehmen das Historische Wörterbuch der Philosophie von Joachim Ritter, das sich ausdrücklich als "völlig neubearbeitete Ausgabe" von Eislers Wörterbuch ausweist, als Umsetzung des Rothackerschen Plans, und es gab kaum Veranlassungen, beides zu unterscheiden. Mittlerweile ist durch Archiverschließungen im Zusammenhang der Aufarbeitung der Begriffsgeschichte der 50er Jahre völlig klar, dass beide Projekte zunächst nichts miteinander zu tun haben: Es ist ein historischer Zufall, eine reine Koinzidenz, dass Ritter Ende der 50er Jahre, ohne Rothackers Wissen oder gar Mitwirkung, von einem Verlag zur Überarbeitung des Eisler gebeten wurde; Ritter wiederum war vorher von Rothacker überhaupt nicht in die Wiederaufnahme des Wörterbuchprojektes einbezogen worden. Will man also eine Kontinuität im begriffsgeschichtlichen Wörterbuchprojekt Rothackers herausstellen, muss man auf der einen Seite das HWPh Ritters ganz beiseitelassen. (Es wäre vielleicht wert, anhand der Rothackerschen frühen Pläne genauer herauszuarbeiten, worin sich ein realisiertes "ideales begriffsgeschichtliches Wörterbuch" von dem realen Ritters unterschieden hätte.) Auf der anderen Seite steht aber jetzt eine breitere, um nicht zu sagen erstmals fundierte Textbasis zur Verfügung, um Rothackers Projekt aus den 20er Jahren in seiner Intention genauer zu erfassen: Aus dem Rothacker-Archiv der ULB Bonn sind seine ausführlichen Darstellungen zum Plan eines begriffsgeschichtlichen Wörterbuchs publiziert, darunter auch sein Vortragsmanuskript zur Vorstellung des Projektes am Warburg-Institut und ein ausführlicher Brief dazu an Aby Warburg. Die neue Lage verschiebt das Gewicht: die reichhaltigen Skizzen und Ausführungen von 1927 zeigen ein weitaus ambitionierteres Projekt Rothackers als eine Bearbeitung des Eislerschen Wörterbuchs oder als der spätere pragmatische Rückzug auf die Bausteine des Archivs für Begriffsgeschichte vermuten lassen: Das begriffsgeschichtliche Wörterbuch zeigt sich als Kind der philosophischen Strömungen der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Das Nachkriegsprojekt Rothackers bleibt jedoch auf kurze Ankündigungen beschränkt und ist – außer in der Vorform der Materialsammlung – nie verwirklicht worden. Wenn wir nach der Kontinuität des Rothackerschen Projektes über den Bruch von Nationalsozialismus und Krieg hinweg fragen, dann bewegen wir uns ausschließlich auf der Ebene von Ideen, Plänen und Ankündigungen, die die Zeit der dreißiger und vierziger Jahre aussparen. Kontinuität ist hier also nicht die zwischen Nazi-Zeit und Adenauerzeit, wie im Habermas-Zitat gemeint, sondern ein scheinbar bruchloser Anschluss an die Weimarer Zeit mit der 'Lücke' zwischen 1929 und 1949. Diese 'Lücke' war in Bezug auf das begriffsgeschichtliche Projekt kontingent.
Ich werde im Folgenden zunächst (1.) die Konstellation des Zukunftswissens der späten 1790er Jahre an den miteinander sowohl korrespondierenden als auch kontrastierenden Positionsbestimmungen Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders zur Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Zukunft erläutern. Diese Problematik werde ich dann (2.) anhand von Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie (1798/99) diskutieren. Hier spielt Zukünftigkeit auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – als strategisches Planungswissen, als divinatorische Zeichendeutung, aber auch im Einsatz von Vorausdeutungen als dramaturgisches Mittel –, so dass sich Schillers Drama auf exemplarische Weise futurologisch lesen lässt.
Der moderne Roman ist [...] eine Form vergegenwärtigter Zukunft in dem erläuterten Sinne und stellt sich darin dem traditionalen Erzählen entgegen, das ein Vergegenwärtigen des Vergangenen war. An dieser innerliterarischen Kehrtwende im Narrativen lässt sich ablesen, was bei der Heraufkunft des prognostischen Präsens auf dem Spiel steht. Mit der Entsprechung und der Gegenüberstellung von historischem und prognostischem Präsens hat es darum die zweite Überlegung zu tun. Sie macht in der vergegenwärtigten Zukunft den inneren Zeitstil des modernen Romans aus. Einerseits hat sie es mit einem literarischen Sonderfall des prognostischen Präsens zu tun. Andererseits zeigt sich an diesem besonderen Fall aber auch erst die Bedeutung des prognostischen Präsens für unsere Kultur insgesamt.
Dieser Zusammenhang soll im Folgenden genauer erörtert werden. Den Anfang bildet ein Hinweis auf die Gegenüberstellung von Erzählen und Roman in dem Essay, den Walter Benjamin Nikolaj Leskow gewidmet hat (1). Danach folgt in zwei Schritten eine kurze terminologiegeschichtliche Charakteristik dessen, was hier analog zum 'historischen Präsens' das 'prognostische Präsens' genannt wird (anhand der augustinischen Zeittheorie [2] und im Hinblick auf die probabilistische Philosophie des 19. Jahrhunderts [3]). Am Ende wird die Erörterung noch einmal zur Frage des romanartigen Erzählens und seiner inneren Zeitform der vergegenwärtigten Zukunft zurückkehren (4).
Wenige Phasen in der Kulturgeschichte Deutschlands sind so sehr durch die Präsenz eines prophetischen Diskurses gekennzeichnet gewesen wie das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. In der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in den Jahren der Weimarer Republik, die einmal die "Krisenjahre der Klassischen Moderne" genannt wurden, taucht eine Vielzahl von selbsternannten Geistersehern, Wunderwirkern und Heilsbringern auf, die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens Abhilfe und Erlösung versprechen. Die Allgegenwärtigkeit dieses Versprechens lässt daran zweifeln, dass der von Heilssuche getragene prophetische Diskurs im Rücken einer sich fortentwickelnden Wissenschaftskultur stattgefunden hat. Vielmehr gehört sein Erlösungsversprechen zu den "beherrschenden Gedanken" der damaligen Zeit und bezeugt die prekäre Koexistenz von Wissenschaft einerseits und Prophetie andererseits. "Es sei", schreibt der Philosoph Max Scheler am Ende der Weimarer Republik, "eine beispiellose Sehnsucht nach Führerschaft allüberall lebendig", die eine entsprechende Anzahl von Propheten, Heilanden und Weltverbesserern mit sich bringt. Angesichts dieser geistesgeschichtlichen Lage konnte eine Erinnerungsfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, um ein Beispiel aus dem Jahr 1922 anzuführen, leicht in die Frage münden: "Wann kommt der Retter Deutschlands?" Der Historiker Klaus Schreiner hat diese Frage, die Honoratioren aus einem kleinen Kurort in der Lüneburger Heide aufgeworfen haben, zum Titel einer umfangreichen Studie über den politischen Messianismus in der Weimarer Republik gemacht. [...]
Vom "Messias der Dichtung" soll im Folgenden die Rede sein. Wie sich zeigen wird, ist mit dieser Figur, über deren Besonderheiten und Begrenztheiten hinaus, zugleich das "Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze" verbunden.
Von außen betrachtet erscheint [...] das Thema Shelley und die Prophetie wenig vielversprechend, zumindest was die hebräische und christliche Bibel angeht. Aber gibt es vielleicht so etwas wie einen prophetischen Atheismus, oder eine atheistische Prophetie? Shelley besteht jedenfalls in gänzlich positiven Begriff en auf dem prophetischen Charakter der Dichtung, und es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, was er damit gemeint haben könnte. Und auch wenn seine Gedanken über Poesie und Prophetie in vielerlei Hinsicht charakteristisch für seine Zeit sind, sind sie doch vorbereitet worden durch eine Tradition bibelkritischen Denkens, die wir ebenfalls betrachten müssen. Im Folgenden werde ich daher Shelleys Gedanken über Prophetie zwischen Spinoza und Benjamin situieren, auch wenn ich letzteren nur kurz, in einer Art Ausblick, berühren kann.
Am 4. August 2009 hat Ľudovít Petraško sein bedeutendes Lebensjubiläum gefeiert. Das Lebensjubiläum ist immer ein Anlass, wenigstens eine Weile stehen zu bleiben, um auf wichtige Momente aus dem Leben und Schaffen des Jubilars aufmerksam zu machen. Bei Ľudovít Petraško ist es auch so, aber diese Aufgabe ist in seinem Fall besonders schwierig.
Mit tiefer Trauer und großer Betroffenheit vernahmen wir die Nachricht über den Tod des Mitglieds der Redaktion unserer Zeitschrift Professor Ilpo Tapani Piirainen. Er ist am 26. August 2012 in Münster verstorben.
Ilpo Tapani Piirainen stammte aus Finnland, lebte und wirkte als Professor in Deutschland, seine dritte Heimat jedoch war ganz sicher die Slowakei, wo er den Forschungsschwerpunkt für sein ganzes Leben fand.
Ende der 1990er Jahre hat Juri Elperin für seine Verdienste um die deutsch-russischen Literaturbeziehungen, für seine verschlungene und auch von deutscher Seite aus geschlagene Biografie, zusätzlich zu seiner russischen die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen – und er erhielt eine Ehrenpension des Bundespräsidenten; seit 2000 lebt er wieder, nach der Übersiedlung aus Moskau, in Berlin – in der Stadt, in der er groß geworden ist, und mit der ihn so viele Erinnerungen aus der Kinder- und Jugendzeit verbinden.
Wittgenstein hat die Metapher des Gesichts in verschiedenen thematischen Kontexten verwendet. Er hat Gesichter gezeichnet wie das typische Bildgesicht, das gestern noch mit dem Begleitspruch "Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht" durch die Kinderstuben geisterte. Mehrfach hat er den "Hasen-Entenkopf" nachgezeichnet, den Joseph Jastrow, Schüler von Charles Sanders Peirce und Professor für Psychologie in Wisconsin, um die Jahrhundertwende zu Demonstrationszwecken entworfen hatte; diese simple Illustration einer "optical illusion" ist übrigens bedauerlicherweise fast die einzige Spur, die heute noch auf den Autor von Fact and Fable in Psychology (erschienen 1900 in Boston) verweist. Wittgenstein gebrauchte die Metapher des Gesichts häufig, doch nur selten mit jener Beliebigkeit, die charakteristisch ist für gegenwärtige Alltagsrhetorik; meist setzte er sie ein, um die Ambiguität eines Problems – die Spannung zwischen hautnaher, körperlicher Konkretion und begrifflicher Abstraktion – zu konnotieren. Denn Gesichter sind Zeichen am Leib, nah und fern zugleich; sie gelten geradezu als Signaturen einer unverwechselbar individuellen Persönlichkeit – und sind doch zugleich Resultate eines semiotischen Verfahrens, das in der Moderne – von der Physiognomik bis zu den neuesten Technologien der Identifikation – stets systematisch verfeinert wurde.
Gilles Deleuze und Félix Guattari haben ein polemisches Buch geschrieben, das seinen Gegner im Titel benennt: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Man fände kein Ende, wenn man allen seinen Bezügen zur Psychoanalyse nachgehen wollte. Als es 1972 herauskommt, wird es als Rück fall hinter deren Errungenschaften kritisiert. André Green zieht einen Vergleich mit Sigmunds Freuds voranalytischen Schriften: [...] Worauf der Vergleich aus ist, ist ein Tertium comparationis, das in der Rolle der Naturwissenschaften für die Theorie des Unbewussten liegt. Obwohl der Anti-Ödipus keinen unmittelbaren Verweis auf die voranalytischen Schriften enthält, scheint der Vergleich gerechtfertigt, weil Deleuze und Guattari in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Biochemie und Molekularbiologie eine neuartige Konzeption des Unbewussten vorschlagen. Green sieht in der Attacke gegen den Ödipus-Komplex einen Angriff auf das Kernstück der Psychoanalyse: Ohne Ödipus gibt es nur mehr einen diffusen Nexus zwischen biologischem und psychischem Geschehen. Während Green oder Leopold Szondi versuchen, neuere biologische Forschungen in die Psychoanalyse zu integrieren, aber hierbei am Ödipus-Komplex festhalten, verfolgen Deleuze und Guattari einen »vagen Monismus«, indem an die Stelle eines durch den ödipalen Konflikt gebildeten Unbewussten ein molekulares Unbewusstes tritt.
Die Zukunft der Psychoanalyse scheint [...] von ihrer naturwissenschaftlichen Begründung abhängig zu sein. Ist dies das, was Freud sich für die Psychoanalyse erhofft hatte? Oder sollte man angesichts dieses Unterfangens nicht vielmehr erneut die Frage nach dem stellen, was weggelassen wurde?
Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich zuerst exemplarisch zwei Passagen aus Freuds Werk, die als Beleg dafür dienen, dass Freud seine Hoffnung darin setzte, dass die Psychoanalyse einmal neurowissenschaftlich begründet werden könnte, einer genauen Lektüre unterziehen. In einem zweiten Schritt werde ich untersuchen, inwiefern die Psychoanalyse Freuds ein anderes Verhältnis zur Hoffnung auf Erfüllung von Wünschen unterhält, als die oben vorgestellte Argumentationsfigur impliziert. Dabei gehe ich auf die Funktion des Aufschubs in den Anfängen des Psychischen ein, sowie auf das Konzept der Kastration und auf die Figur der Reihenbildung. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend erneut nach der Bedeutung der Neurowissenschaften für Freud und für die Psychoanalyse fragen.
The nascent field of neuropsychoanalysis positions itself as a putative bridge between two »historically divided disciplines«. In this chapter, we address this attempt to bridge these two disciplines, through considering a particular scientific and conceptual debate that is taking place within this new field. Neuropsychoanalysis is a diverse and loosely defined interdisciplinary field that comprises the efforts of researchers and clinicians within several branches of both psychoanalysis and the neurosciences to construct a shared space of inquiry in which clinical concepts and findings can be correlated with neuronal data and models. While researchers differ in how they conceptualize the specific contours of this shared space, they tend to converge in their desire to figure out how Freudian concepts might be anchored through neurobiological and anatomico-functional investigations.
Frage und Untertitel dieses Aufsatzes gehen auf eine Warnung zurück, die Sigmund Freud in der Schrift Zur Einführung des Narzissmus (1914) formuliert hat. Dort heißt es: "Die Ichidealbildung wird oft zum Schaden des Verständnisses mit der Triebsublimierung verwechselt." [...] Es liegt nahe, von hier aus Idealisierung fälschlich als eine Art Sublimierung aufzufassen, denn was ist erhabener, sublimer, als ein hohes Ideal? Bei Freud bezeichnet Sublimierung im Unterschied zur Idealisierung aber durchweg ein Verfahren, mit dem Trieb umzugehen, ihn umzulenken. Der Einsicht Freuds zufolge ist das Objekt "das variabelste am Triebe", und Sublimierung ist daher nicht der Versuch, den Trieb selbst zu 'veredeln' oder zu 'vergeistigen', sondern sie ist das Unternehmen, den Trieb auf andere, zunehmend nicht-sexuelle, 'höhere' Objekte zu richten. Dem hydraulischen Modell der Triebe zufolge gibt es 'Vergeistigung' oder eben: 'Idealisierung' der Triebe selbst nicht, die nach Freud allenfalls abflauen mit dem Verlust "feuriger Jugendkraft". So ist indirekt eine weitere Klärung erbracht: Da Freud Idealisierung und Sublimierung scharf voneinander sondert, wird auch aus dieser Perspektive klar, dass mit der Sublimierung nicht der Trieb verfeinert bzw. idealisiert wird, sondern Objekte ersetzt werden.
In dem vorliegenden Artikel untersuche ich [den] besonderen Fall von Wechselseitigkeit zwischen dem Körperlichen und dem Sprachlichen in Freuds "Zur Auffassung der Aphasien"; ich unternehme den Versuch zu zeigen, dass gerade in diesem frühen Text einerseits Freuds am äußersten Anfang stehendes und zuweilen noch unausgefeiltes Verhältnis zu Sprache, andererseits seine grundlegende Darstellung des Körpers und dessen Beziehung zum Sprachlichen zu finden sind.
"Zur Auffassung der Aphasien" dient dabei als mein Ausgangspunkt, von dem aus ich für eine entscheidende Verknüpfung zwischen diesem frühen Text und Freuds späterer psychoanalytischer Theorie, insbesondere seinen Arbeiten zum Gegenstand Trauma, argumentiere. Ich glaube, dass die Motivation für Freuds Übergang von seiner frühen neurologisch-physiologischen Phase zur späteren psychoanalytischen Arbeit an eben dieser besonderen Schnittstelle zwischen dem Sprachlichen und dem Körperlichen gefunden werden kann, so wie es sich in seiner Arbeit zur Aphasie niederschlägt.
In der entscheidenden Phase der Schöpfungsgeschichte der Psychoanalyse machte Sigmund Freud seine eigenen Krankheitssymptome, Träume und Fehlleistungen zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit. Diese »Selbstanalyse«, wie er sie nannte, erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren vor der Jahrhundertwende und gipfelte in der Publikation der »Traumdeutung«. Sie ist bis heute ein irritierender, neuralgischer und faszinierender Punkt in der Geschichte der Psychoanalyse, gewissermaßen das aktuelle Rätsel einer modernen Sphinx, die den Zugang zum Freudschen Königreich bewacht. Doch anders als im Altertum, wo nur Ödipus das Rätsel lösen konnte, werden heute in Bezug auf die Selbstanalyse Freuds verschiedene Lösungen für richtig gehalten. Für den Interpreten, den professionellen Freud-Deuter, verspricht auch kaum etwas einen größeren Lustgewinn, als ausgerechnet ihn, den Schöpfer der Psychoanalyse, nachträglich auf die eigene Couch zu legen und zu analysieren, ja, womöglich in noch tiefere Tiefen vorzustoßen, als es dem Meister selber beschieden war, der bekanntlich die Couch der Kollegen mied und vermutlich das Sitzen am Schreibtisch der horizontalen Lage vorzog.
Der "Ödipuskomplex", eine Wortprägung Freuds, ist eine seelische Dynamik, die in kindlicher Liebe zu den Eltern und in Hass auf die Eltern wurzelt und Einfluss auf die mentale Verfassung des Erwachsenen hat. Ödipus ist eine prominente Figur der griechischen Mythologie und Tragödiendichtung. Freud nimmt in seinem Gesamtwerk weit über zwanzig Mal, besonders ausführlich in der "Traumdeutung", einerseits auf die Sage vom König Ödipus, andererseits auf die Tragödie des Sophokles Bezug. Die Figur des König Ödipus, der mythologische Stoff und die Handlung des Dramas fanden Freuds Interesse, weil die dargestellte Konfliktdynamik ausgeprägte emotionale Beteiligung beim Betrachter mobilisiere. Freud nimmt eine rezeptionstheoretische Perspektive ein. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Freud seit der ersten Erwähnung der griechischen Sage am 15.10.1897 in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess die emotionale Antwort des Publikums. Das literarische Muster der Ödipus-Geschichte schaffe ein Modell psychischer Organisation, das den Höhepunkt und die entscheidende psychosoziale Herausforderung frühkindlicher Entwicklung bildet. Da es ihm um dieses modellschaffende literarische Muster geht, nicht aber in erster Linie um das individuelle Werk des Sophokles, behandelt er die griechischen Vorbilder in eher lockerer Weise.
Der [...] Beitrag besteht aus drei Teilen, die nur locker miteinander verbunden sind. Der Eindruck des Unzusammenhängenden, der zunächst entstehen mag, wird dadurch gefördert, dass die Abschnitte nicht explizit Bezug aufeinander nehmen und sich in sehr unterschiedlichen Perspektiven der Fragestellung nähern. Sie gehen von der Nahsicht (auf einen Traum) zum Blick auf größere historische Zusammenhänge über. Die Fragestellung jedoch ist allen drei Teilen gemeinsam: Wie steht es um die Natur des Freudschen psychischen Apparates?
Zeitmaschinen regulierten den Verkehr zwischen Gegenwarten und Vergangenheiten – und nichts anderes als eine Zeitmaschine war es auch, was Freud im Angesicht der Ruinen unter dem Titel Psychoanalyse entwickelte. Unter dem Eindruck wissenschaftlich vertiefter Ruinenfreuden wird der freie Verkehr zwischen beiden Domänen wissens- und sichtbestimmend: Die phantastische Topographie Roms hing in Gestalt einiger Piranesis in Freuds Arbeitszimmer; ein Gipsabdruck der Gradiva hing zwischen Couch und Kachelofen. Weil Freuds Blicke beständig an der Antike hingen, musste er eine Theorie entwickeln, in der sich Vergangenheit und Gegenwart ebenso wechselseitig durch drangen wie in seiner Lieblingsstadt. Ebenso wie er auf seinen Reisen Orte sah, an denen sich Vergangenheit und Gegenwart, Häuser und Ruinen "nicht deutlich unterscheiden lassen", wird die Überlagerung, Überblendung und Verkeilung von Gegenwart und Vergangenheit zum Merkmal einer avantgardistisch en Wissenschaft namens Psychoanalyse. Angesichts der Piranesis war es nur noch ein kleiner Schritt zu der "phantastischen Annahme", die nicht nur dem Unbehagen in der Kultur von 1930, sondern der gesamten Psychoanalyse zugrunde lag: nämlich der, "Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisch es Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen."