BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Von den Schreiben, die Erich Rothacker und der Romanist Erich Auerbach (1892–1957) gewechselt haben, sind insgesamt siebenundzwanzig - achtzehn Briefe und neun Postkarten - erhalten. Sie stammen allesamt aus dem Zeitraum vom 1925 bis 1933 und von der Hand Auerbachs. Die Schreiben befinden sich im literarischen Nachlass von Rothacker an der Universitätsbibliothek Bonn und sind zu wissenschaftlichen Zwecken ohne Umstände einsehbar.
Im Geleitwort zu Ralph Stöwers Bonner Dissertation von 2009 ‚Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen‘ erklärt der Psychologie-Historiker Georg Rudinger über den Stand der Rothacker-Forschung: "Was in Sachen Rothacker vor allem zu tun bleibt, ist eine intensivere Geschichte seiner Rezeption"; und er fügt folgende These hinzu: "Die Geschichte der Nichtrezeption ist hier ähnlich interessant wie die der Rezeption." Mein Beitrag greift diese zweite Aussage auf und zeigt erstens, inwiefern tatsächlich von einer Nichtrezeption Rothackers gesprochen werden kann, und zweitens, was diese Nichtrezeption über das deutsche theoretische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit und über die Position Rothackers innerhalb desselben offenbart.
Als Hans-Ulrich Gumbrecht vor einigen Jahren die Bemühungen um ein begriffsgeschichtliches Wörterbuchauf Rothackers Pläne in den 20er Jahren zurückführte, stellte er richtig fest, dass es Rothackers Ansehen zu verdanken war, dass ein solcher Plan "über die Schwelle des Zweiten Weltkriegs bewahrt wurde und dann entschlossene institutionell-finanzielle Unterstützung in der Wissenschaftsszene der jungen Bundesrepublik fand". Für Gumbrecht bestätigt dieser Einzelfall die allgemeine Charakterisierungder Geisteswissenschaften an den deutschen Universitäten während der fünfziger Jahre, die Jürgen Habermas gegeben hat: "Auf den Universitäten herrschte eine geistige Kontinuität, die durch die 30er Jahre hindurch bis weit in die Adenauerzeit hineinreichte". Gumbrecht urteilte in Bezug auf das Wörterbuchprojekt auf einer dünnen Basis: Von Rothackers Projekt war kaum mehr bekannt als seine Eisler Rezension von 1927 und seine Andeutungen im Geleitwort zum 1955 neu gegründeten Archiv für Begriffsgeschichte, das den Untertitel "Bausteine zu einem Historischen Wörterbuch der Philosophie" trägt. Gumbrecht und viele mit ihm nehmen das Historische Wörterbuch der Philosophie von Joachim Ritter, das sich ausdrücklich als "völlig neubearbeitete Ausgabe" von Eislers Wörterbuch ausweist, als Umsetzung des Rothackerschen Plans, und es gab kaum Veranlassungen, beides zu unterscheiden. Mittlerweile ist durch Archiverschließungen im Zusammenhang der Aufarbeitung der Begriffsgeschichte der 50er Jahre völlig klar, dass beide Projekte zunächst nichts miteinander zu tun haben: Es ist ein historischer Zufall, eine reine Koinzidenz, dass Ritter Ende der 50er Jahre, ohne Rothackers Wissen oder gar Mitwirkung, von einem Verlag zur Überarbeitung des Eisler gebeten wurde; Ritter wiederum war vorher von Rothacker überhaupt nicht in die Wiederaufnahme des Wörterbuchprojektes einbezogen worden. Will man also eine Kontinuität im begriffsgeschichtlichen Wörterbuchprojekt Rothackers herausstellen, muss man auf der einen Seite das HWPh Ritters ganz beiseitelassen. (Es wäre vielleicht wert, anhand der Rothackerschen frühen Pläne genauer herauszuarbeiten, worin sich ein realisiertes "ideales begriffsgeschichtliches Wörterbuch" von dem realen Ritters unterschieden hätte.) Auf der anderen Seite steht aber jetzt eine breitere, um nicht zu sagen erstmals fundierte Textbasis zur Verfügung, um Rothackers Projekt aus den 20er Jahren in seiner Intention genauer zu erfassen: Aus dem Rothacker-Archiv der ULB Bonn sind seine ausführlichen Darstellungen zum Plan eines begriffsgeschichtlichen Wörterbuchs publiziert, darunter auch sein Vortragsmanuskript zur Vorstellung des Projektes am Warburg-Institut und ein ausführlicher Brief dazu an Aby Warburg. Die neue Lage verschiebt das Gewicht: die reichhaltigen Skizzen und Ausführungen von 1927 zeigen ein weitaus ambitionierteres Projekt Rothackers als eine Bearbeitung des Eislerschen Wörterbuchs oder als der spätere pragmatische Rückzug auf die Bausteine des Archivs für Begriffsgeschichte vermuten lassen: Das begriffsgeschichtliche Wörterbuch zeigt sich als Kind der philosophischen Strömungen der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Das Nachkriegsprojekt Rothackers bleibt jedoch auf kurze Ankündigungen beschränkt und ist – außer in der Vorform der Materialsammlung – nie verwirklicht worden. Wenn wir nach der Kontinuität des Rothackerschen Projektes über den Bruch von Nationalsozialismus und Krieg hinweg fragen, dann bewegen wir uns ausschließlich auf der Ebene von Ideen, Plänen und Ankündigungen, die die Zeit der dreißiger und vierziger Jahre aussparen. Kontinuität ist hier also nicht die zwischen Nazi-Zeit und Adenauerzeit, wie im Habermas-Zitat gemeint, sondern ein scheinbar bruchloser Anschluss an die Weimarer Zeit mit der 'Lücke' zwischen 1929 und 1949. Diese 'Lücke' war in Bezug auf das begriffsgeschichtliche Projekt kontingent.
Ich werde im Folgenden zunächst (1.) die Konstellation des Zukunftswissens der späten 1790er Jahre an den miteinander sowohl korrespondierenden als auch kontrastierenden Positionsbestimmungen Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders zur Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Zukunft erläutern. Diese Problematik werde ich dann (2.) anhand von Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie (1798/99) diskutieren. Hier spielt Zukünftigkeit auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – als strategisches Planungswissen, als divinatorische Zeichendeutung, aber auch im Einsatz von Vorausdeutungen als dramaturgisches Mittel –, so dass sich Schillers Drama auf exemplarische Weise futurologisch lesen lässt.
Der moderne Roman ist [...] eine Form vergegenwärtigter Zukunft in dem erläuterten Sinne und stellt sich darin dem traditionalen Erzählen entgegen, das ein Vergegenwärtigen des Vergangenen war. An dieser innerliterarischen Kehrtwende im Narrativen lässt sich ablesen, was bei der Heraufkunft des prognostischen Präsens auf dem Spiel steht. Mit der Entsprechung und der Gegenüberstellung von historischem und prognostischem Präsens hat es darum die zweite Überlegung zu tun. Sie macht in der vergegenwärtigten Zukunft den inneren Zeitstil des modernen Romans aus. Einerseits hat sie es mit einem literarischen Sonderfall des prognostischen Präsens zu tun. Andererseits zeigt sich an diesem besonderen Fall aber auch erst die Bedeutung des prognostischen Präsens für unsere Kultur insgesamt.
Dieser Zusammenhang soll im Folgenden genauer erörtert werden. Den Anfang bildet ein Hinweis auf die Gegenüberstellung von Erzählen und Roman in dem Essay, den Walter Benjamin Nikolaj Leskow gewidmet hat (1). Danach folgt in zwei Schritten eine kurze terminologiegeschichtliche Charakteristik dessen, was hier analog zum 'historischen Präsens' das 'prognostische Präsens' genannt wird (anhand der augustinischen Zeittheorie [2] und im Hinblick auf die probabilistische Philosophie des 19. Jahrhunderts [3]). Am Ende wird die Erörterung noch einmal zur Frage des romanartigen Erzählens und seiner inneren Zeitform der vergegenwärtigten Zukunft zurückkehren (4).
Wenige Phasen in der Kulturgeschichte Deutschlands sind so sehr durch die Präsenz eines prophetischen Diskurses gekennzeichnet gewesen wie das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. In der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in den Jahren der Weimarer Republik, die einmal die "Krisenjahre der Klassischen Moderne" genannt wurden, taucht eine Vielzahl von selbsternannten Geistersehern, Wunderwirkern und Heilsbringern auf, die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens Abhilfe und Erlösung versprechen. Die Allgegenwärtigkeit dieses Versprechens lässt daran zweifeln, dass der von Heilssuche getragene prophetische Diskurs im Rücken einer sich fortentwickelnden Wissenschaftskultur stattgefunden hat. Vielmehr gehört sein Erlösungsversprechen zu den "beherrschenden Gedanken" der damaligen Zeit und bezeugt die prekäre Koexistenz von Wissenschaft einerseits und Prophetie andererseits. "Es sei", schreibt der Philosoph Max Scheler am Ende der Weimarer Republik, "eine beispiellose Sehnsucht nach Führerschaft allüberall lebendig", die eine entsprechende Anzahl von Propheten, Heilanden und Weltverbesserern mit sich bringt. Angesichts dieser geistesgeschichtlichen Lage konnte eine Erinnerungsfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, um ein Beispiel aus dem Jahr 1922 anzuführen, leicht in die Frage münden: "Wann kommt der Retter Deutschlands?" Der Historiker Klaus Schreiner hat diese Frage, die Honoratioren aus einem kleinen Kurort in der Lüneburger Heide aufgeworfen haben, zum Titel einer umfangreichen Studie über den politischen Messianismus in der Weimarer Republik gemacht. [...]
Vom "Messias der Dichtung" soll im Folgenden die Rede sein. Wie sich zeigen wird, ist mit dieser Figur, über deren Besonderheiten und Begrenztheiten hinaus, zugleich das "Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze" verbunden.
Von außen betrachtet erscheint [...] das Thema Shelley und die Prophetie wenig vielversprechend, zumindest was die hebräische und christliche Bibel angeht. Aber gibt es vielleicht so etwas wie einen prophetischen Atheismus, oder eine atheistische Prophetie? Shelley besteht jedenfalls in gänzlich positiven Begriff en auf dem prophetischen Charakter der Dichtung, und es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, was er damit gemeint haben könnte. Und auch wenn seine Gedanken über Poesie und Prophetie in vielerlei Hinsicht charakteristisch für seine Zeit sind, sind sie doch vorbereitet worden durch eine Tradition bibelkritischen Denkens, die wir ebenfalls betrachten müssen. Im Folgenden werde ich daher Shelleys Gedanken über Prophetie zwischen Spinoza und Benjamin situieren, auch wenn ich letzteren nur kurz, in einer Art Ausblick, berühren kann.
Am 4. August 2009 hat Ľudovít Petraško sein bedeutendes Lebensjubiläum gefeiert. Das Lebensjubiläum ist immer ein Anlass, wenigstens eine Weile stehen zu bleiben, um auf wichtige Momente aus dem Leben und Schaffen des Jubilars aufmerksam zu machen. Bei Ľudovít Petraško ist es auch so, aber diese Aufgabe ist in seinem Fall besonders schwierig.
Mit tiefer Trauer und großer Betroffenheit vernahmen wir die Nachricht über den Tod des Mitglieds der Redaktion unserer Zeitschrift Professor Ilpo Tapani Piirainen. Er ist am 26. August 2012 in Münster verstorben.
Ilpo Tapani Piirainen stammte aus Finnland, lebte und wirkte als Professor in Deutschland, seine dritte Heimat jedoch war ganz sicher die Slowakei, wo er den Forschungsschwerpunkt für sein ganzes Leben fand.
Ende der 1990er Jahre hat Juri Elperin für seine Verdienste um die deutsch-russischen Literaturbeziehungen, für seine verschlungene und auch von deutscher Seite aus geschlagene Biografie, zusätzlich zu seiner russischen die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen – und er erhielt eine Ehrenpension des Bundespräsidenten; seit 2000 lebt er wieder, nach der Übersiedlung aus Moskau, in Berlin – in der Stadt, in der er groß geworden ist, und mit der ihn so viele Erinnerungen aus der Kinder- und Jugendzeit verbinden.
Wittgenstein hat die Metapher des Gesichts in verschiedenen thematischen Kontexten verwendet. Er hat Gesichter gezeichnet wie das typische Bildgesicht, das gestern noch mit dem Begleitspruch "Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht" durch die Kinderstuben geisterte. Mehrfach hat er den "Hasen-Entenkopf" nachgezeichnet, den Joseph Jastrow, Schüler von Charles Sanders Peirce und Professor für Psychologie in Wisconsin, um die Jahrhundertwende zu Demonstrationszwecken entworfen hatte; diese simple Illustration einer "optical illusion" ist übrigens bedauerlicherweise fast die einzige Spur, die heute noch auf den Autor von Fact and Fable in Psychology (erschienen 1900 in Boston) verweist. Wittgenstein gebrauchte die Metapher des Gesichts häufig, doch nur selten mit jener Beliebigkeit, die charakteristisch ist für gegenwärtige Alltagsrhetorik; meist setzte er sie ein, um die Ambiguität eines Problems – die Spannung zwischen hautnaher, körperlicher Konkretion und begrifflicher Abstraktion – zu konnotieren. Denn Gesichter sind Zeichen am Leib, nah und fern zugleich; sie gelten geradezu als Signaturen einer unverwechselbar individuellen Persönlichkeit – und sind doch zugleich Resultate eines semiotischen Verfahrens, das in der Moderne – von der Physiognomik bis zu den neuesten Technologien der Identifikation – stets systematisch verfeinert wurde.
Gilles Deleuze und Félix Guattari haben ein polemisches Buch geschrieben, das seinen Gegner im Titel benennt: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Man fände kein Ende, wenn man allen seinen Bezügen zur Psychoanalyse nachgehen wollte. Als es 1972 herauskommt, wird es als Rück fall hinter deren Errungenschaften kritisiert. André Green zieht einen Vergleich mit Sigmunds Freuds voranalytischen Schriften: [...] Worauf der Vergleich aus ist, ist ein Tertium comparationis, das in der Rolle der Naturwissenschaften für die Theorie des Unbewussten liegt. Obwohl der Anti-Ödipus keinen unmittelbaren Verweis auf die voranalytischen Schriften enthält, scheint der Vergleich gerechtfertigt, weil Deleuze und Guattari in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Biochemie und Molekularbiologie eine neuartige Konzeption des Unbewussten vorschlagen. Green sieht in der Attacke gegen den Ödipus-Komplex einen Angriff auf das Kernstück der Psychoanalyse: Ohne Ödipus gibt es nur mehr einen diffusen Nexus zwischen biologischem und psychischem Geschehen. Während Green oder Leopold Szondi versuchen, neuere biologische Forschungen in die Psychoanalyse zu integrieren, aber hierbei am Ödipus-Komplex festhalten, verfolgen Deleuze und Guattari einen »vagen Monismus«, indem an die Stelle eines durch den ödipalen Konflikt gebildeten Unbewussten ein molekulares Unbewusstes tritt.
Die Zukunft der Psychoanalyse scheint [...] von ihrer naturwissenschaftlichen Begründung abhängig zu sein. Ist dies das, was Freud sich für die Psychoanalyse erhofft hatte? Oder sollte man angesichts dieses Unterfangens nicht vielmehr erneut die Frage nach dem stellen, was weggelassen wurde?
Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich zuerst exemplarisch zwei Passagen aus Freuds Werk, die als Beleg dafür dienen, dass Freud seine Hoffnung darin setzte, dass die Psychoanalyse einmal neurowissenschaftlich begründet werden könnte, einer genauen Lektüre unterziehen. In einem zweiten Schritt werde ich untersuchen, inwiefern die Psychoanalyse Freuds ein anderes Verhältnis zur Hoffnung auf Erfüllung von Wünschen unterhält, als die oben vorgestellte Argumentationsfigur impliziert. Dabei gehe ich auf die Funktion des Aufschubs in den Anfängen des Psychischen ein, sowie auf das Konzept der Kastration und auf die Figur der Reihenbildung. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend erneut nach der Bedeutung der Neurowissenschaften für Freud und für die Psychoanalyse fragen.
The nascent field of neuropsychoanalysis positions itself as a putative bridge between two »historically divided disciplines«. In this chapter, we address this attempt to bridge these two disciplines, through considering a particular scientific and conceptual debate that is taking place within this new field. Neuropsychoanalysis is a diverse and loosely defined interdisciplinary field that comprises the efforts of researchers and clinicians within several branches of both psychoanalysis and the neurosciences to construct a shared space of inquiry in which clinical concepts and findings can be correlated with neuronal data and models. While researchers differ in how they conceptualize the specific contours of this shared space, they tend to converge in their desire to figure out how Freudian concepts might be anchored through neurobiological and anatomico-functional investigations.
Frage und Untertitel dieses Aufsatzes gehen auf eine Warnung zurück, die Sigmund Freud in der Schrift Zur Einführung des Narzissmus (1914) formuliert hat. Dort heißt es: "Die Ichidealbildung wird oft zum Schaden des Verständnisses mit der Triebsublimierung verwechselt." [...] Es liegt nahe, von hier aus Idealisierung fälschlich als eine Art Sublimierung aufzufassen, denn was ist erhabener, sublimer, als ein hohes Ideal? Bei Freud bezeichnet Sublimierung im Unterschied zur Idealisierung aber durchweg ein Verfahren, mit dem Trieb umzugehen, ihn umzulenken. Der Einsicht Freuds zufolge ist das Objekt "das variabelste am Triebe", und Sublimierung ist daher nicht der Versuch, den Trieb selbst zu 'veredeln' oder zu 'vergeistigen', sondern sie ist das Unternehmen, den Trieb auf andere, zunehmend nicht-sexuelle, 'höhere' Objekte zu richten. Dem hydraulischen Modell der Triebe zufolge gibt es 'Vergeistigung' oder eben: 'Idealisierung' der Triebe selbst nicht, die nach Freud allenfalls abflauen mit dem Verlust "feuriger Jugendkraft". So ist indirekt eine weitere Klärung erbracht: Da Freud Idealisierung und Sublimierung scharf voneinander sondert, wird auch aus dieser Perspektive klar, dass mit der Sublimierung nicht der Trieb verfeinert bzw. idealisiert wird, sondern Objekte ersetzt werden.
In dem vorliegenden Artikel untersuche ich [den] besonderen Fall von Wechselseitigkeit zwischen dem Körperlichen und dem Sprachlichen in Freuds "Zur Auffassung der Aphasien"; ich unternehme den Versuch zu zeigen, dass gerade in diesem frühen Text einerseits Freuds am äußersten Anfang stehendes und zuweilen noch unausgefeiltes Verhältnis zu Sprache, andererseits seine grundlegende Darstellung des Körpers und dessen Beziehung zum Sprachlichen zu finden sind.
"Zur Auffassung der Aphasien" dient dabei als mein Ausgangspunkt, von dem aus ich für eine entscheidende Verknüpfung zwischen diesem frühen Text und Freuds späterer psychoanalytischer Theorie, insbesondere seinen Arbeiten zum Gegenstand Trauma, argumentiere. Ich glaube, dass die Motivation für Freuds Übergang von seiner frühen neurologisch-physiologischen Phase zur späteren psychoanalytischen Arbeit an eben dieser besonderen Schnittstelle zwischen dem Sprachlichen und dem Körperlichen gefunden werden kann, so wie es sich in seiner Arbeit zur Aphasie niederschlägt.
In der entscheidenden Phase der Schöpfungsgeschichte der Psychoanalyse machte Sigmund Freud seine eigenen Krankheitssymptome, Träume und Fehlleistungen zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit. Diese »Selbstanalyse«, wie er sie nannte, erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren vor der Jahrhundertwende und gipfelte in der Publikation der »Traumdeutung«. Sie ist bis heute ein irritierender, neuralgischer und faszinierender Punkt in der Geschichte der Psychoanalyse, gewissermaßen das aktuelle Rätsel einer modernen Sphinx, die den Zugang zum Freudschen Königreich bewacht. Doch anders als im Altertum, wo nur Ödipus das Rätsel lösen konnte, werden heute in Bezug auf die Selbstanalyse Freuds verschiedene Lösungen für richtig gehalten. Für den Interpreten, den professionellen Freud-Deuter, verspricht auch kaum etwas einen größeren Lustgewinn, als ausgerechnet ihn, den Schöpfer der Psychoanalyse, nachträglich auf die eigene Couch zu legen und zu analysieren, ja, womöglich in noch tiefere Tiefen vorzustoßen, als es dem Meister selber beschieden war, der bekanntlich die Couch der Kollegen mied und vermutlich das Sitzen am Schreibtisch der horizontalen Lage vorzog.
Der "Ödipuskomplex", eine Wortprägung Freuds, ist eine seelische Dynamik, die in kindlicher Liebe zu den Eltern und in Hass auf die Eltern wurzelt und Einfluss auf die mentale Verfassung des Erwachsenen hat. Ödipus ist eine prominente Figur der griechischen Mythologie und Tragödiendichtung. Freud nimmt in seinem Gesamtwerk weit über zwanzig Mal, besonders ausführlich in der "Traumdeutung", einerseits auf die Sage vom König Ödipus, andererseits auf die Tragödie des Sophokles Bezug. Die Figur des König Ödipus, der mythologische Stoff und die Handlung des Dramas fanden Freuds Interesse, weil die dargestellte Konfliktdynamik ausgeprägte emotionale Beteiligung beim Betrachter mobilisiere. Freud nimmt eine rezeptionstheoretische Perspektive ein. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Freud seit der ersten Erwähnung der griechischen Sage am 15.10.1897 in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess die emotionale Antwort des Publikums. Das literarische Muster der Ödipus-Geschichte schaffe ein Modell psychischer Organisation, das den Höhepunkt und die entscheidende psychosoziale Herausforderung frühkindlicher Entwicklung bildet. Da es ihm um dieses modellschaffende literarische Muster geht, nicht aber in erster Linie um das individuelle Werk des Sophokles, behandelt er die griechischen Vorbilder in eher lockerer Weise.
Der [...] Beitrag besteht aus drei Teilen, die nur locker miteinander verbunden sind. Der Eindruck des Unzusammenhängenden, der zunächst entstehen mag, wird dadurch gefördert, dass die Abschnitte nicht explizit Bezug aufeinander nehmen und sich in sehr unterschiedlichen Perspektiven der Fragestellung nähern. Sie gehen von der Nahsicht (auf einen Traum) zum Blick auf größere historische Zusammenhänge über. Die Fragestellung jedoch ist allen drei Teilen gemeinsam: Wie steht es um die Natur des Freudschen psychischen Apparates?
Zeitmaschinen regulierten den Verkehr zwischen Gegenwarten und Vergangenheiten – und nichts anderes als eine Zeitmaschine war es auch, was Freud im Angesicht der Ruinen unter dem Titel Psychoanalyse entwickelte. Unter dem Eindruck wissenschaftlich vertiefter Ruinenfreuden wird der freie Verkehr zwischen beiden Domänen wissens- und sichtbestimmend: Die phantastische Topographie Roms hing in Gestalt einiger Piranesis in Freuds Arbeitszimmer; ein Gipsabdruck der Gradiva hing zwischen Couch und Kachelofen. Weil Freuds Blicke beständig an der Antike hingen, musste er eine Theorie entwickeln, in der sich Vergangenheit und Gegenwart ebenso wechselseitig durch drangen wie in seiner Lieblingsstadt. Ebenso wie er auf seinen Reisen Orte sah, an denen sich Vergangenheit und Gegenwart, Häuser und Ruinen "nicht deutlich unterscheiden lassen", wird die Überlagerung, Überblendung und Verkeilung von Gegenwart und Vergangenheit zum Merkmal einer avantgardistisch en Wissenschaft namens Psychoanalyse. Angesichts der Piranesis war es nur noch ein kleiner Schritt zu der "phantastischen Annahme", die nicht nur dem Unbehagen in der Kultur von 1930, sondern der gesamten Psychoanalyse zugrunde lag: nämlich der, "Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisch es Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen."
Im Jahre 1548 erschien in Frankfurt am Main eine Schrift, die den merkwürdig modern anmutenden Titel „Psychopharmakon hoc est: medicina animae“ trug. Doch dieses, von einem Hadamarer Geistlichen herausgegebene, Werkchen illustriert[…] lediglich im Nach hinein einen Einbruch des Realen in die reinen Ordnungen des Wortes. Natürlich enthält es noch »nur« eine Sammlung von Gebeten und Trostsprüchen und keine chemischen Rezepte, doch sein Titel schlägt historisch eine Brücke von der vormaligen Macht der Geistlichkeit zu der Mach t, die in eben diesem Namen Psychopharmakon der Psychiatrie einmal zugekommen sein wird. Die heilsame institutionelle Macht, die Wörter über Seelen haben können und sollen, verwandelt sich mit der Geschichte eines griechischen Wortes in eine Macht, die auch eben jene organischen Zentren und Werkzeuge biochemisch affiziert, die Wörter allererst ausdenken und -sprechen; dass dies historisch in Gang gesetzt wird durch ein Psycholytikum, eine Droge, die dem Medikamentierten seine Seele lösen soll wie die Segensformel des Beichtigers einst die Zunge des reuigen Sünders, dies ist in der Tat eine Verschiebung im Feld eines Wissens vom Mensch en, die Macht und Mächte in diesem umstrittenen Geviert zwischen Geist und Seele, Physis und Logos historisch präzise umreißt.
In diesem Zusammenhang scheint vielleicht eine kurze Geschichte der Auffassungen von Sprache als Gegenstand von Psychiatrie und Neurologie von Philippe Pinel bis zu Sigmund Freud zunächst einen Seitenweg beschreiten zu wollen; doch wird sich im Verlauf meiner Ausführungen zeigen, dass weder die Entstehung der modernen Sprachwissenschaft oder Linguistik, noch die Abenteuer einer modernen Ästhetik sich davon unbeeinflusst darstellen lassen.
Wie ein Voyeur habe, so Lynn Margulis, der Harvard-Biologe Lemuel Roscoe Cleveland seit den 30er Jahren die Einzeller und ihr Sexualleben mikroskopiert und auch gefilmt. [...] Da sah er das Sensationelle: Diese Einzeller fressen sich gegenseitig auf. Aber nicht nur das: "Die verschluckte Hypermastigiden-Zelle wurde [...] nicht bis zu Ende verdaut. Vom Hunger ganz benommen, hielt der gierig schluckende Protist die noch halb lebendige Nahrung in seinem Innern offenbar für einen Teil seiner selbst. Nach kurzer Zeit nämlich verschmolzen die beiden kämpfenden Protisten: ihre Zellkerne fusionierten." Der Vorfall habe Cleveland zeitlebens nicht mehr losgelassen. Denn er vermutete, dass, was er soeben das gesehen habe, genau das sei, was "vor einer Milliarde Jahren zur ersten Befruchtung geführt hatte". Der schlichte Grund: Nahrungsmangel und vor allem Mangel an Feuchtigkeit, Austrocknung treibt die Einzeller, sich gegenseitig aufzufressen.
Clevelands Szenerie aus, so Margulis, "Komödie und Terror" spricht also nur von einem: Es gab eine Zeit, in der "Fressen und Paaren" das gleiche waren. "Unterlassene mikrobielle Verdauung als Quelle menschlichen Sexualtriebs: Das ist wohl ziemlich unromantisch."
Was nicht hindert, dass auch die große Bakterienforscherin ihre Frage nach Sex und Ritual, nach täusch enden Körpern und tanzenden Chromosomen meist genau vor diesem Hintergrund inszeniert: der sogenannten "Verschmelzung" von Einzellern, sei es als Auffressen, sei es dann als Symbiose.
Sie ist nicht die einzige. (Nur ist sie vielleicht besonders interessant, weil wohl kaum eine andere amerikanische Biologin mit Wissen und ohne Scheu auch aus Lacan, Derrida, Bataille heraus argumentiert.) Die Verschmelzung der Einzeller ist der biologische Diskurs schlechthin über die Sexualität und nicht nur über sie. Der Tag könnte kommen, an dem wir unsere Stellung in der Evolution, unsere Stellung im Wissen von der Evolution in den Augen der Biologie nicht mehr über Zellen bestimmen werden, sondern über Einzeller: die ohne Kern, alias Bakterien, und die mit Zellkern alias "Protoctisten" (von griech isch ktísis: Schöpfung oder Stadt-Gründung). Haeckel sprach sie als "Protisten" an und manche noch heute als "Protozoa".
Das Folgende stellt eben darum der Szene aus Harvard zwei andere, alteuropäische gegenüber.
Der vorliegende Band trägt den Titel "Freuds Referenzen", da wir das Spannungsfeld, das die Bedeutung von Referenz ausmacht, geeignet fanden, um Freuds Bezüge, wie die Bezüge auf Freud zu thematisieren: Referenz lässt sich mit "Bericht" oder "Auskunft "übersetzen. Der Bedeutungsumfang des lateinischen Verbs "referre", von dem Referenz abgeleitet ist, ist hingegen breiter: von "berichten" über "sich auf etwas beziehen", "auf etwas zurück führen" bis "etwas zurück tragen" reicht das Spektrum der Bedeutung. Damit scheint mit dem Sprechen von der Referenz und mit dem damit aufgerufenen Bedeutungsfeld die Dynamik der Bezüge Freuds und der Bezüge auf die Psychoanalyse auf.
Mutter- und vaterlos, so schreibt der amerikanische Literaturtheoretiker Harold Bloom über das Verhältnis Gottes zur Bibel, scheine Jahwe aus den Seiten eines Buches zu purzeln, das er selbst geschrieben haben könnte und mit dem er zu identifizieren sei – und unterscheide sich dadurch im Grunde lediglich graduell von jedem anderen Autor. Tatsächlich thematisiert die Bibel wie kein anderes Buch das Problem von Autorität und Autorschaft und ist immer wieder daraufhin gelesen worden. Gott selbst tritt als Autor der mit göttlichem Finger verfassten Gesetzestafeln auf, Moses als inspiriertes Sprachrohr und als Schreiber, der nach Gottes Diktat die zweiten Tafeln anfertigt, nachdem er aus Zorn über die Anbetung des Goldenen Kalbes durch die Israeliten die ersten zerbrach, und die christliche Bibel etabliert Jesus in Fortsetzung dieser Tradition als Überwinder des Mosaischen Gesetzes, als Autor seines eigenen Gesetzestextes. Die Frage nach der Autorschaft der biblischen Texte selbst wurde und wird kontrovers diskutiert, und das Thema der Bewertung der unterschiedlichen Autoren dieses Textkorpus wird auch im Kontext der 'Bibel als Literatur'-Debatten aufgegriffen. So fragt bereits Erich Auerbachs Vergleich von homerischem und biblischem Erzählstil nicht nur nach der jeweiligen ästhetischen Wirkung, sondern auch nach der Autorenperspektive eines einzelnen biblischen Erzählers, des Elohisten, und stellt somit einen biblischen als literarischen Autor ins Zentrum der Betrachtung. Dass die Entscheidung darüber, welche der Autorfiguren der Bibel betrachtet und wie Autorschaft dabei verstanden wird, nicht nur in theologischen oder religionswissenschaftlichen, sondern auch in literaturwissenschaftlichen Diskursen eng mit der jeweiligen Definition der Bibel verknüpft sein könnte, ist eine These, die sich an Harold Blooms Umgang mit der Bibel als einem Werk von literarischer Erhabenheit – und somit als literarischem Text – abzeichnet. An Autoren des 'Bibel als Literatur'-Diskurses wie Erich Auerbach, Robert Alter und Frank Kernmode anschließend und sich zugleich von ihnen abgrenzend, wendet sich Harold Bloom schon in früheren Veröffentlichungen einer eher vernachlässigten Autorfigur zu: nicht dem aus den biblischen Seiten purzelnden Jahwe, sondern dessen 'Erfinder', dem Verfasser des Book of J, dem sogenannten Jahwisten.
In einem berühmten Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. Februar 1909 hat Max Weber von sich gesagt, er sei "religiös unmusikalisch", eine Wendung, die auf dezente Weise den modernen Agnostizimus zu einer Sache der Veranlagung macht, einer fehlenden Disposition, die nicht zu besitzen, kaum jemanden mit Genugtuung erfüllen dürfte. Unschwer erinnert sich der Leser Webers des unverhohlenen Pathos, mit dem der Soziologe in einigen der viel zitierten Passagen seines Werks, am eindringlichsten vielleicht am Ende der beiden Vorträge über Wissenschaft und Politik als Beruf (1917/1919), die erhabene Größe jener religiösen Erfahrung in Erinnerung ruft, die ihm selbst – und den meisten von uns – abgeht. Die folgenden Überlegungen wenden sich einem anderen Theoretiker oder vielmehr Kritiker der Säkularisierung zu, Hans Blumenberg, und dem, was man seine unerwartete religiöse Musikalität nennen könnte. Sie kommt zum Ausdruck in einem Buch, das den Titel "Matthäuspassion" trägt und in dem es sowohl um das gleichnamige Evangelium geht als auch um seine Aufnahme und Transformation in Johann Sebastian Bachs Passionsoratorium. Ich möchte mit einer kurzen Charakterisierung der augenscheinlichen Widersprüche dieses Buchs beginnen, um dann zu umreißen, was Blumenberg den "Tenor" seiner Theologie nennt. Den Sinn dieses Tenors versuche ich im Anschluss zu erläutern, indem ich Blumenbergs eigenwillige Relektüre der Matthäuspassion weniger als Provokation jener theologischen Ansätze auffasse, gegen die er in dem Buch fortlaufend polemisiert, sondern vielmehr indem ich seine Geschichte von der "Weltverstrickung Gottes" in Bezug setze zum theologischen Absolutismus des spätmittelalterlichen Nominalismus, der so entscheidend für Blumenbergs Interpretation der Legitimität der Neuzeit sein sollte. Abschließend soll ein Blick geworfen werden auf die Besonderheiten von Bachs Matthäuspassion, die Blumenberg meines Erachtens übersieht und die seiner eigenen Betrachtungsweise teils widersprechen, diese aber auch teils erklären.
Benjamins Theorie ist als Bilddenken bekannt; vermutlich ist das der Grund, warum seine musiktheoretischen Ausführungen bislang wenig Beachtung gefunden haben: die Überlegungen des jungen Benjamin zur Musik, die ein Seitenstück zur sprachtheoretischen Grundlegung seines Denkens überhaupt darstellen, ebenso wenig wie die Auseinandersetzung mit der Oper. Das Thema der Oper klingt bei ihm an verschiedenen Stellen an, so etwa in "Goethes Wahlverwandtschaften", am explizitesten aber im Trauerspielbuch, in jenem Abschnitt des zweiten Teils des Kapitels "Allegorie und Trauerspiel", der der vielzitierten Diskussion zum Zusammenhang von Klangfigur und Schrift anhand von Johann Wilhelm Ritters Buch Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers (1810) vorausgeht. Da es sich hierbei um Überlegungen zum Thema der Musik handelt, insbesondere über die Oper, sollen diese am Anfang stehen.
Safa Brura
(2013)
Im Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" von 1921 entwickelt Walter Benjamin den Gedanken einer 'reinen Sprache' (GS IV, 9–21), angeregt von der antiken jüdischen Idee einer 'klaren Sprache' – hebr. שׂפה ברורה (Safa Brura) –, die in der Bibel im Buch Zefanja (3,9) erwähnt wird. Gemäß den Schriften ist diese Sprache eine menschheitsumgreifende 'Muttersprache', die von allen Völkern am Ende der Zeit benutzt werden wird. Als Musiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfahre ich die Realität als das exakte Gegenteil dieser Prophetie. Der Turm von Babel wäre das viel geeignetere biblische Bild, um die zeitgenössische musikalische Wirklichkeit zu reflektieren (freilich ohne die katastrophalen Konsequenzen). Während der Pluralismus der Stile und Ideen ethisch gesehen zu begrüßen ist, stellt er auch eine Herausforderung für das Schaffen dar.
Das Wachsen im Nachhall
(2013)
Nach Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" von 1916 gibt es Verständigung nicht nur in der Wortsprache, sondern auch in allen anderen Kommunikationsmedien, zu denen Benjamin auch die Musik zählt. Diese vielfältigen Mitteilungsformen der Dinge, Tiere und Menschen lassen sich ineinander übersetzen, wenn man Übersetzung als Leistung des Vermögens versteht, mimetisch nicht nur sinnliche, sondern auch unsinnliche Ähnlichkeiten zu erzeugen, wie z. B. Kinder Gegenstände zu imitieren vermögen, ohne ihrer Entscheidung ähnlich zu werden. Die drei Teile des Stücks versuchen, dieses von Benjamin mehrfach erörterte mimetische Vermögen musikalisch in Anspruch zu nehmen und dabei klangliche Korrespondenzen für Erinnerungsvorgänge aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu finden.
Die Mummerehlen
(2013)
Der Name der "Mummerehlen" aus Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert beruht auf einem Hörfehler des Kindes, von dem das Wort 'Muhme' als Synonym für 'Tante' nicht verstanden wird und das so die eigentliche Bedeutung der Worte 'Muhme' und 'Rehlen' aus dem gleichnamigen Volkslied entstellt. 1932 hat Benjamin "Die Mummerehlen" geschrieben – in jenem Jahr, aus dem eine der letzten Eintragungen über seinen Sohn Stefan (1918–1972) stammt. (GS IV, 260–263) Seit dessen Geburt hatte Benjamin ein Büchlein geführt, in dem er "einige Dutzende seltsamer Wörter und Redensarten" seines Sohnes notierte. Beispiele sind etwa: "schringen (springen)"; "Pamsrete (Trompete)"; "Koklade (Schokolade)" oder "Tante Licht (selbständig)".
Radau um K.
(2013)
Radau um K. basiert auf der einzigen der zahlreichen Radioarbeiten Walter Benjamins, die als Tondokument zumindest fragmentarisch erhalten ist: dem Hörspiel für Kinder "Radau um Kasperl" in der 1932 vom Westdeutschen Rundfunk Köln produzierten Version unter der Regie von Ernst Schoen. Durch Zufall auf das Hörspiel aufmerksam geworden, faszinierte mich beim ersten Hören gleich seine klangliche Reichhaltigkeit, die die exaltierte Schauspielsprechweise Kasperls ebenso umfasst wie Umgebungsgeräusche und zahlreiche akustische Äußerungen sowohl menschlicher (Lachen, Pfeifen) als auch tierischer Art (verschiedene Tierlaute und -rufe). Letztere sind auf den Inhalt des Hörspielausschnitts zurückzuführen; er handelt nämlich davon, wie Kasperl im Zoologischen Garten vor zwei Kindern damit prahlt, sich mit den Tieren in deren Sprache unterhalten zu können, und das auch – allerdings zunehmend unglaubwürdig – zu demonstrieren versucht. Auf spielerisch-humoristische Weise umkreist Benjamin im Medium des Rundfunks anschaulich, was ein Jahr später in seinem sprachphilosophischen Text "Über das mimetische Vermögen" zum titelgebenden Konzept und zur theoretischen Basis seiner sprachmystisch beeinflussten Auffassung wird, die Sprache als die "höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit" (GS II, 213) begreift.
Fieber
(2013)
In diesem Stück habe ich mich mit dem Fragment "Das Fieber" aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert befasst, in dem Benjamin literarisch u. a. die Entfremdung des Ichs vom eigenen kranken Körper zu vermitteln versucht. Mich hat gereizt, Begriffe wie Dissoziation und Mimesis, die beide, ohne genannt zu werden, eine zentrale Rolle in diesem Text spielen, auf eine musikalische Ebene zu übertragen. Anstelle des menschlichen Körpers arbeite ich mit der Anatomie des Ensembles, dessen Identität sich im Fluss befindet.
Trällernde Erinnerung
(2013)
In Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert findet sich vor dem Hintergrund des traumatischen, durch die Nationalsozialisten erzwungenen Exils des Autors eine doppelte Entwurzelungserfahrung: die der zeitlichen Distanz des Erwachsenen zu seiner Kindheit und die der räumlichen Entfernung des Exilanten zu seiner Heimat.
Walter Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" dient als Ausgangspunkt für mein Stück. Benjamin verbindet die Schöpfungsgeschichte der Genesis und die Geschichte des Turms von Babel, wobei er die einheitliche, reine Sprache, die vor Babel gesprochen wurde, auf den idealen Zustand im Garten Eden bezieht. Zefanjas Prophetie für das Ende aller Tage führt kreisförmig auf diesen Anfang zurück: "Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, dass sie alle des HERRN Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen." (Zef 3,9).
Verlassene Orte
(2013)
Das von Klangnetz e.V. organisierte Projekt "DenkKlänge für Walter Benjamin" bot für mich den Anlass, mich überhaupt tiefer mit Walter Benjamins Schriften und seiner Philosophie zu beschäftigen, was sehr bereichernd und inspirierend war, zum Teil gar verstörend (im besten Sinne). Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert – so reich und vielfältig – bleibt dabei nach wie vor ein Rätsel, ein Paradoxon steckt darin, was sicher einen Teil ihres Zaubers ausmacht.
Der kulturelle und wissenschaftliche Austausch zwischen Israel und Deutschland ist in seiner Lebendigkeit beeindruckend. [...] Wenig allerdings weiß man in Israel und Deutschland noch von der zeitgenössischen Musik aus dem jeweils anderen Land. Daher setzte sich die Berliner Komponistenvereinigung Klangnetz e. V. das Ziel, die gegenseitige Neugier mit einem Austauschprojekt zwischen jungen israelischen und deutschen Komponisten zu wecken und dabei möglichst dauerhafte Verbindungen zwischen Musikern, Komponisten, Wissenschaftlern und einem interessierten Publikum herzustellen. Im Juni 2010 fanden Konzerte und Workshops in Tel Aviv und Jerusalem statt, auf die Konzerte und Workshops in Frankfurt am Main und Berlin folgten. Den Abschluss bildete das internationale Symposium »Klang und Musik im Werk Walter Benjamins – Benjamin in der Musik«, das vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und von Klangnetz e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin, veranstaltet wurde.
"Idiom", "Trauerspiel" und "Dialektik des Hörens" sind die Überschriften der drei Teile dieses Beitrages, der Benjamins Rezeption im Werk Luigi Nonos behandelt. Genauer gesagt: Es handelt sich eher um die verblüffende Konvergenz von Nonos Denken mit Benjamins Philosophie, unabhängig davon, ob, wie, wann und in welcher Breite Nono sie sich bewusst angeeignet hat. Zwischen ihnen steht ein Exkurs über die Idee des opus perfectum et absolutum und dessen Entfaltung vom 'organischen' zum 'autopoietischen' Werkbegriff, dem Nono sich widersetzt.
Adornos Kritik an Benjamin gilt heute als geläufig und weitgehend abgearbeitet; was Benjamin zu Adorno notiert hat, ist dagegen weitgehend unbekannt, jedenfalls unbeachtet. Im einen Fall mag das Objekt, die Skizzen zum Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe, zu weit ab vom Schuss liegen, um unter mehr als rein historischen Gesichtspunkten in actu noch ergiebig zu sein. Im Falle des Kommentars zur Wagnerschrift liegen die Dinge deutlich anders. Liefert er doch beinahe eine konzeptionelle Alternative zu dem, wie Adorno mit Wagner umgeht, überdies avant la lettre Einwände gegen jenen Theoriegestus, den Adorno kurz darauf gegenüber Benjamins erstem Essay über Baudelaire an den Tag legen zu müssen meint.
Es ist keine sehr originelle Einsicht, dass die grundlegend neuen Perspektiven auf die Kunst des 20. Jahrhunderts, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" skizziert hat, am Paradigma der visuellen Künste gewonnen wurden. Das lässt sich exemplarisch am Begriff der Aura demonstrieren, der für Benjamins Theorie des traditionellen Kunstwerks von zentraler Bedeutung ist. Allein das Bild, das als Unikat durch die Räume und Zeiten wandert und sich dabei mit historischer Substanz sättigt, ist Träger der Aura. [...]
Es liegt auf der Hand, dass es die Aura [...] bei akustischen Kunstwerken nicht geben kann. Musik und Theater bieten kein Identisches, das sich materiell in der Geschichte durchhält wie ein Bild und in diesem spezifischen Sinne traditionsstiftend wirkte. Wir haben bloß den Text als ein unvollständiges Gerüst, das von Aufführung zu Aufführung neu aktualisiert wird. Zwar gibt es zweifellos und gerade in der akustischen Kunst eine besondere Emphase auf dem "Hier und Jetzt" (475), von dem Benjamin im Zusammenhang des traditionellen Kunstwerks redet, aber dieses Hier und Jetzt ist grundlegend anders zur Geschichte vermittelt als das beim bildenden Kunstwerk der Fall ist. Der Begriff des Unikats, den Benjamin letztlich aus dem Kultbild herleitet (480 f.), ergibt bei der Musik (und in gewissem Sinne auch in der Literatur) von vornherein keinen Sinn. Was bedeuten 'Nähe' und 'Ferne' im Falle der Musik und der musikalischen Reproduktion? Wenn der Begriff der Aura hier überhaupt eine systematische Stelle hat, dann muss er anders gefasst und positioniert werden als in der bildenden Kunst.
In der Benjaminforschung hat der Name Ernst Schoen einen guten, wenn auch nur einen marginalen Klang. Schoen, der zwei Jahre jüngere Schulfreund Walter Benjamins, der distanzierte Beobachter in jugendbewegter Zeit, Mitspieler in der erotisch aufgeladenen Atmosphäre wechselnder Freundschaften und später der wichtige Mann beim Rundfunk – damit ist auch schon die Rolle, die er in diesem Forschungszusammenhang bisher spielte, umrissen. Dass er Komponist und Schriftsteller war, wird seinem Namen zwar gern erklärend hinzugefügt, aber selten hat jemand etwas von ihm gelesen, geschweige denn eine Komposition gehört. Noch weniger bekannt ist, dass er am Ende verletzt und resigniert zu jenen Heimgekehrten gehörte, deren Remigration als gescheiter t angesehen werden muss.
In einer fast beiläufig formulierten Bemerkung zur Methode seiner Passagenarbeit spricht Benjamin von der "Notwendigkeit, während vieler Jahre scharf auf jedes zufällige Zitat, jede flüchtige Erwähnung eines Buches hinzuhören" (GS V, 587). Dass – wie in nicht wenigen Prosaminiaturen der Berliner Kindheit – auch für die aufwendige Zusammenstellung der Exzerpte eine ohrenfällige Metapher zur Anwendung gelangt, unterstreicht die Notwendigkeit, sich mit der Bedeutung musikalisch-akustischer Impressionen für seine Vermittlung von Traum, Mythos, Bild und Warenwelt zu befassen. Das bisherige Desinteresse an einem solchen Versuch teilt die kaum mehr überschaubare Benjamin-Exegese mit der musikologischen Literatur, deren Zurückhaltung indessen recht einfach zu erklären ist: Die aus ihrer Sicht für eine musikgeschichtliche Kontextualisierung des Dioramas oder die ästhetischen Konsequenzen des 'Chocks' in Frage kommenden Komponisten werden in der Passagenarbeit fast sämtlich übergangen. Als die intellektuellen Residuen der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts kompilierender Flaneur und Chiffonnier ist Benjamin nur bis in die vom Boulevard Haussmann verdrängte Passage de l'Opéra gelangt, deren vom allmählichen Verfall geprägte Atmosphäre schon Aragon zu den subjektiv-surrealistischen Visionen seines Paysan de Paris inspirierte. Was sich innerhalb der Pariser Musiktheater ereignete, findet mit einer Ausnahme sein Interesse hingegen ebenso wenig, wie die Musikforschung die sich in den Bühnenwerken Aubers, Meyerbeers oder Halevys manifestierende "Verstädterung der Oper" ohne eine nennenswerte Auseinandersetzung mit dem Passagenprojekt untersuchte. Und während dessen 1935 verfasstes Exposé die Namen Offenbach und Wagner immerhin im Kontext der ironischen Utopie des Weltausstellungstaumels oder Baudelaires mit dem Gesamtkunstwerk assoziierter Flucht vor dem gesellschaftlichen Dasein der Künste8 erwähnt, fehlt der gerade für die musikalische Umsetzung der von Benjamin als zentrale Erkenntnisquelle erachteten Dialektik von "Traum" und "Erwachen" (vgl. z. B. 490–510, 579–580) unverzichtbare Hector Berlioz. Hier verbirgt sich – denkt man an Werke wie die Symphonie Fantastique, Lelio oder Harold en Italie – eine auch von der Berlioz-Literatur noch gänzlich unbeachtete Konstellation. Benjamins Einbindung eines kompositorischen Zeitgenossen in eine divergente Gedankenstränge zusammenführende Metapher oder ein "dialektisches Bild" erfordert demgegenüber eine präzise Kontextualisierung: So erscheinen in einer der mythologisierenden Eisenbahnepisoden Orpheus, Eurydike und Hermes auf dem Bahnsteig, wo eine sich aus dem aufgetürmten Gepäck formende Kofferkrypta die zum Melodram geronnene antike Urgeschichte christlich sublimiert (512).
Warum geht Benjamins Flaneur nicht zur Oper? Wir kennen seine Routen durch das Paris Haussmanns; wir kennen die Stationen seines Weges, in den Passagen, den Panoramen, den Bordellen. Die Avenue de l'Opéra, mit ihren geraden Sichtlinien und den nahen Warenhäusern ist ihm vertraut, der Gang ins Gebäude selber aber scheint ihm fremd. Im Passagenwerk wird die Oper dreimal erwähnt, Wagner zweimal – mit Oper ist jedes Mal das Gebäude gemeint, die Wagner-Passage ist ein Zitat von Adorno. Klang, Musik, Gehör – das alles fehlt bei Benjamin, oder ist zumindest erstaunlich selten. Das lässt einerseits die Vorstellung, mit Benjamin gewappnet in die Oper zu gehen, als etwas absurd erscheinen, andererseits vermittelt es den Eindruck, als ob es zwischenzeitlich zum Klischee verkommen sei, mit Adorno in die Oper zu gehen.
Im Folgenden möchte ich aber versuchen, eine Benjamin'sche Sicht auf die Oper zu entwickeln. Dennoch glaube ich nicht, dass man bei einem solchen Unterfangen die theoretische Taubheit Benjamins, sein genuines Desinteresse an Musik und Oper, einfach forsch korrigieren kann, ganz so als wäre Benjamin selber vielleicht dazu gekommen, hätte er mehr Zeit und Welt gehabt. Das hieße also, wir müssen mit Benjamin die Oper denken, und mit Benjamin die Oper nicht denken, uns mit Benjamin der Oper verschließen, sie ignorieren. Das klingt paradox, aber glücklicherweise war Benjamin ja Dialektiker. In einer bisher ungedruckten Vorlesungsreihe zur Dialektik wandelt Theodor W. Adorno in den Spuren seines toten Freundes – er flaniert, und zwar in die Oper. Ich glaube, dass Adorno uns [...] einen ersten Wink gibt, wie Benjamin zur Oper gegangen sein könnte – nämlich gar nicht.
Walter Benjamin hörte Karl Kraus als Vorleser bei einem von dessen Berliner Gastvorträgen im Jahr 1928. Unmittelbar danach hielt Benjamin dieses Erlebnis in dem knappen Bericht "Karl Kraus liest Offenbach" fest. Der Bericht ging später in den Essay "Karl Kraus: Allmensch – Dämon – Unmensch" ein, der in drei Teilen 1931 in der Frankfurter Zeitung erstveröffentlicht wurde. [...] Mit seinem Wissen um das performative Gesamtwerk von Kraus wusste Benjamin auch um das besondere Setting der Offenbach-Lesungen, das sich von Kraus' sonstigen Lesungen [...] unterschied: Nur bei den Lesungen aus Jacques Offenbachs Operetten trat Kraus nicht alleine auf, sondern ließ sich von einem Pianisten begleiten. Das Besondere war hier außerdem, dass Kraus nicht ausschließlich Texte sprach, sondern auch abseits der gesprochenen Dialoge, in den musikalischen Nummern des Librettos, ins Singen überging – wenn auch nur zeitweilig. Von den verschiedenen Pianisten, die mit Kraus bei seinen Offenbach-Abenden in Wien und anderen Städten zusammengearbeitet haben [...], hat sich nur Georg Knepler explizit zu Kraus' musikalischem Vermögen geäußert [...].Ebenso wie bei anderen Zeugen von Kraus' Offenbach-Vorträgen befinden sich auch in Kneplers Erinnerungen Kraus' sprecherisch-performative Eigenarten des Vortrags im Mittelpunkt – darin setzt auch sein Bericht, der vielleicht am ehesten auf die musikalische Darbietung abzielte, ähnlich anderen Zeitzeugen den Akzent jenseits der Musik.
Somit steht Walter Benjamin, indem er an Kraus' Offenbach-Vortrag [...] das Un- bzw. Übermusikalische betont, unter den Rezipienten nicht allein da. Jedoch hebt wohl kein Autor so explizit wie Benjamin darauf ab, dass es sich bei diesen Offenbach-Lesungen von Kraus um eine imaginäre, ideelle Musik, vielleicht auch um eine Musik in metaphorischem Sinn handele. "Nicht etwa sieht Benjamin den Anteil der Musik [...] bloß zurückgedrängt, sondern er erblickt sie als in etwas ganz anderes transformiert, das seinen Ort nirgends als in der Stimme des Vortragenden hat und darin mit dem gesprochenen Wort untrennbar vereinigt ist."
Von den unmittelbar auf Musik und Klang bezogenen Passagen im Werk Walter Benjamins besteht die längste zu einem bemerkenswert großen Teil aus Zitaten: In dem 1924/25 geschriebenen Ursprung des deutschen Trauerspiels (GS I, 203–430; hier 387–389) bringt Benjamin auf 96 Zeilen, die dem Abschnitt über die Oper folgen und sich mit Klang und Schrift befassen, 27 Zeilen mit Zitaten aus den Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers2 v on Johann Wilhelm Ritter. Ritter, heute weitgehend in Vergessenheit geraten, war Naturwissenschaftler und philosophierender Schriftsteller, ein spekulativer, perspektivenreicher Denker der Romantik, ein universell interessierter, zugleich aber auch schwer verständlicher Autor. Er bot Benjamin mit seinen Ideen und Assoziationen eine Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten, und es waren vor allem die auf Musik, Klang, Schrift und Sprache bezogenen und an ältere akustische Experimente anknüpfenden Ideen und Assoziationen Ritters, die Benjamins Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Das Ziel dieses Essays ist es aufzuzeigen, wie das Thema der Musik im Denken Walter Benjamins an theoretischer Bedeutung gewinnt. Von der Metaphysik der Jugend über die Auseinandersetzung mit Goethes Wahlverwandtschaften bis hin zum Ursprung des Deutschen Trauerspiels ist bei Benjamin eine Argumentationskette zu verfolgen, die der Musik eine entscheidende Funktion zuweist. Im Zusammenhang mit seiner esoterischen, in These, Antithese und Synthese gegliederten Disposition ließe sich sogar eine geradezu musikologische Lesart von Benjamins den Wahlverwandtschaften gewidmeten Essay in Erwägung ziehen.
In Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert zitiert das Sich-Erinnern an Erfahrenes häufig sensorische Qualitäten herbei. In der vorliegenden Abhandlung möchte ich die Schilderung der Farben- und Klangräume in der Weise beleuchten, wie sie die Erfahrungswelt der Kindheit mitprägten. Ferner möchte ich untersuchen, wie diese in die Erinnerung überführt und dort zusammengefügt wurden. Des Weiteren habe ich die Absicht, der Frage nachzugehen, in welcher Weise diese Erfahrungsregister an der Realisierung der Vergangenheit in der Erinnerung mitwirkten. Demnach werde ich versuchen, erstens spezifische Textmomente zu interpretieren, in denen die Überführung von Farben und Klängen in die Erinnerung wesentlich ist, und zweitens zu ergründen, inwiefern für Benjamin solche Momente Allegorien der Erinnerung darstellen.
Wie alle sinnlichen Erfahrungen vollzieht sich auch die akustische Wahrnehmung unter Einbeziehung des ganzen Körpers, auch wenn sie unmittelbar den Eindruck hervorruft, von einem bestimmten Punkt im Körper oder einem einzelnen Organ auszugehen. Außerhalb des Labors – und wahrscheinlich nicht einmal dort – treten Sinneswahrnehmungen jedoch nie separat auf, denn die Umwelt, die auf die Sinne wirkt, gibt keine präzise nach den Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen sensorischen Apparates getrennten Signale ab. Auch das Hören beginnt mit einer haptischen Empfindung, nämlich der mechanischen Rezeption von Schallwellen durch das Trommelfell. So ist es auch nur schwer möglich, die akustischen Wahrnehmungen aus der Berliner Kindheit von den anderen Sinneseindrücken zu isolieren. Intersensorialität bestimmt die Texte: Die Süße der Schokolade geht beispielsweise nicht nur über die Zunge, sondern auch über das Auge und das Herz in das Kind ein, und der Abend riecht ihm nach "Lampe und Zubettgehn" – zwei Elemente des Abends, die gewöhnlicherweise nicht als olfaktorische Ereignisse wahrgenommen werden (424 u. GS IV, 268). Ebenso sind für den Kind-Erzähler die Stimmen aus dem Telefon "Nachtgeräusche", das Schneegestöber vor dem Fenster erzählt "lautlos" Geschichten, und die Schwingungen der Kirchenglocken bleiben "aufgestapelt" vor der Hauswand liegen (GS VII, 390; 396; 413).
Trotz dieser ausgeprägten Intersensorialität treten in der Berliner Kindheit natürlich akustische Phänomene auf, wenn auch eben selten unvermischt. Daher möchte ich zunächst eine Art vorsortierten Katalog dieser Wahrnehmungen geben und einige Besonderheiten bei deren Auftauchen vor dem Hintergrund der auditiven Stadtwahrnehmung charakterisieren. In einem zweiten Schritt möchte ich einige Deutungen dieser Besonderheiten vorschlagen, die sich aus der speziellen Art von Benjamins Texten und aus seiner Biographie ergeben. Die leitende These ist dabei, dass Benjamin die Klänge in der Stadt seiner Kindheit nicht, wie andere mit ihm zeitgenössische Autoren, als eine Funktion der Moderne und als ein Teil der Großstadtrhetorik einsetzt, sondern zur Konstruktion einer bestimmten Art von idealer, kindlicher Wahrnehmung.
Die abgelauschte Stadt und der Rhythmus des Glücks : über das Musikalische in Benjamins Denken
(2013)
Im Folgenden sollen die Dimensionen des Musikalischen und Akustischen bei Benjamin betrachtet werden. Zunächst wird das musiktheoretische Vokabular, das Benjamin auf nicht-musikalische Phänomene und Medien anwendet, Gegenstand der Untersuchung sein. Es handelt sich dabei um erkenntnistheoretische und medienphilosophische Überlegungen, die sich an der Form des Musikalischen, besonders am Rhythmus, orientieren. Danach wird das auditiv sensible Schreiben Benjamins am Beispiel der Berliner Kindheit um neunzehnhundert auf die Funktion akustischer und musikalischer Phänomene hin überprüft und mit Benjamins Überlegungen zum Hören verknüpft. Das Ohr zeigt sich hier als das Organ, das über akustische Reize in Klangmedien und die mit ihnen verbundenen Gefühle die Aufmerksamkeit für die in Bildern und Worten fortlebende Geschichte erzeugt. Schließlich wird nach der Funktion der Musik in Benjamins Werk gefragt. Mit Blick auf die Sprache weist er der Musik als der hörbaren Kunst eine Rolle zu, die Bilder und Sprache auf ihre Verbindung und auf die Möglichkeit der Erlösung von der durch sie bedingten Ausdruckshemmung bezieht. Es zeigt sich, dass die Musik bei Benjamin die Sphäre des semiotisch (noch) Unbestimmten bildet und in einer Spannung zwischen Übersinnlichem und Leiblichem steht, die sie mit der Transzendenz ebenso verbindet wie mit den Gefühlen und propriozeptiv wahrnehmbaren Impulsen.
Im Gegensatz zu Adorno wird Walter Benjamins Theorie […] kaum mit Musik in Verbindung gebracht, sondern vor allem für ihr Bilddenken geschätzt. Auch wenn im Ursprung des Deutschen Trauerspiels, in den Erinnerungsszenen der Berliner Kindheit, den Häuser- und Gedankenschluchten der Passagenarbeit und nicht zuletzt in seinem Briefwechsel durchaus von Musik die Rede ist, rücken Klänge seltener in den Mittelpunkt seiner Schriften und sind in der Rezeption bisher auch weniger beachtet worden. Ohnedies wird derjenige enttäuscht, der gerade von Benjamin – so reizvoll es sein mag, sich solchen Gegenständen widmende Essays zu imaginieren – die Exegese des gängigen musikalischen Kanons erwartet: Keine Abhandlung zu Schuberts Streichquintett schließt an die Interpretation der Wahlverwandschaften an und ebenso vergeblich sucht man nach die Erwägungen zum Trauerspiel auf die Affektkontrolle der opera seria oder die des Kraus-Essays auf die Musik des Fackel-Habitués Arnold Schönberg übertragenden Arbeiten. Dennoch kommt Musik, Klage und Tönen in Benjamins Reflexionen eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Selten drängen sie sich lautstark in den Vordergrund, erlauben aber – zumal in einer Zeit, in der auch die professionelle Auseinandersetzung mit Musik die ideale Beständigkeit musikalischer Werke und ihrer Texte zunehmend in Zweifel zieht – theoretische Einsichten, über die das auf andere Dinge gerichtete Ohr des Experten achtlos hinweggeht. In Ergänzung zur wohlbekannten epistemischen und poetischen Rolle seiner Sprach- und Denkbilder unternimmt dieser Band den ersten systematisch angelegten Versuch, sowohl den kultur- und medienhistorischen Zusammenhängen von Benjamins akustischen Motiven nachzugehen als auch ihre ästhetische Relevanz für die gegenwärtige Produktion und Reproduktion von Klängen zu reflektieren.
Gibt es einen epischen Modus? : Käte Hamburgers "Logik der Dichtung" evolutionspsychologisch gelesen
(2014)
Es geht mir im Folgenden nicht um die konkreten Details von Hamburgers Theorie oder eine fachgeschichtliche Rekonstruktion der sich daran anschließenden Diskussionen, sondern um das Problem, das Hamburger gesehen hat und bei dem ich aus evolutionspsychologischer Perspektive noch einmal neu ansetzen möchte. Zu heuristischen Zwecken sei mir gestattet, Hamburgers Vorgehensweise vereinfachend in drei Aspekte aufzufächern:
1. Hamburger hat die regelmäßige Intuition, dass mit bestimmten unterschiedlichen Formen von Literatur auch kategorial unterschiedliche Vorstellungskomplexe verbunden sind.
2. Sie versucht diese unterschiedlichen Vorstellungskomplexe sprachtheoretisch zu modellieren, um sie systematisch voneinander unterscheiden zu können.
3. Sie sammelt objektivierbare "Symptome" dieser unterschiedlichen Vorstellungskomplexe auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks.
Aspekt 1 bezeichnet Hamburgers eigentliche 'Entdeckung', an die ich im Folgenden anknüpfen möchte. Ihre theoretische Modellierung (Aspekt 2) ist prinzipiell gegen andere geeignete theoretische Modelle austauschbar, ich sehe dafür jedoch keine Notwendigkeit, denn Hamburgers sprachlogisch-phänomenologischer Ansatz leistet, was er ihrer Darstellungsabsicht nach leisten soll. Meine folgenden evolutionspsychologischen Überlegungen stellen in gewisser Hinsicht ebenfalls eine Form der theoretischen Modellierung dar, haben allerdings eher explanative als deskriptive Funktion und sind insofern ergänzend, nicht alternativ zu Hamburgers Modellierung gedacht.
Aspekt 3, das heißt Hamburgers Versuch, ihre Theorie an der besonderen Faktur von literarischen Er-Erzählungen (vornehmlich des Realismus) nachzuweisen, ist derjenige Aspekt ihrer Theorie, der am meisten Kritik hervorgerufen hat. Eine besondere Rolle spielte darin immer wieder Hamburgers Annahme, dass das Präteritum in seiner 'epischen' Verwendung seine grammatische Funktion der Vergangenheitsanzeige verliere und die von dem "raunende[n] Beschwörer des Imperfekts" dargestellten Sachverhalte vielmehr zeitlos 'vergegenwärtigt' würden (und deshalb auch ebenso gut z.B. im 'historischen Präsens' dargestellt werden könnten). Dagegen wurde zu Recht festgehalten, dass innerhalb der imaginären Kommunikationssituation trotzdem eine gewisse Vorzeitigkeit ausgedrückt werde, das Präteritum seine grammatische Bedeutung also keineswegs völlig verliere.
Parlare di Ernst Bloch e l'Espressionismo significa parlare del pensiero die Ernst Bloch nella sua complessità. Già per lo stile la sua prima opera, Geist der Utopie (Spirito dell'Utopie), scritta nel 1918 è spiccatamente espressionista. Ma, oltre allo stile, rientrano nalla cornice dell'Expressionismus anche alcuni temi artistici affrontati da Bloch in questa prima opera. Certo le considerazioni eposte da Bloch sull'arte espressionista in Spirito dell'utopia sono più in forma di flash, di accenno, piú pensieri estemporanei che riflessioni sistematiche.