Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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February 18th 2024 marked the centenary of the birth of Evald Ilyenkov (1924–1979) - a brilliant and influential Soviet philosopher whose most important early works remained unpublished during his lifetime. Two days before Ilyenkov's 100th birthday, Russian opposition leader Alexei Navalny was found dead in a Siberian prison colony; that news overshadowed the little attention given to Ilyenkov's anniversary in Russia. The manner in which Ilyenkov's centenary and Navalny's death were treated reflects memory culture in Putin's Russia, where the legacies of Soviet Marxism are often suppressed by ultra-nationalist propaganda. Abroad, Ilyenkov's prestige has seen a remarkable rise in recent years, accompanied by translations and new scholarship in, for example, Sweden, Ukraine, Peru, Turkey, Canada and Cuba.
Soziodizee des Kapitalismus
(2024)
Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar "Aktivismus und Wissenschaft" von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. [...] Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. [...] So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert? [...] Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt. Die Rede ist vom sogenannten "literarischen Aktivismus", auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom "Umfeld des Expressionismus" spricht, in dem der "Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste". Was hat es hiermit auf sich? Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) - deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist - diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 "Literarischer Aktivismus" als Name der von ihm gegründeten, "ethisch-politischen" Bewegung beschlossen worden sein. Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift "Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist", in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt.
This contribution gathers eight interviews with international scholars of different generations and disciplines who study Black European literatures: Elisabeth Bekers, Jeannot Moukouri Ekobe, Polo B. Moji, Deborah Nyangulu, Jeannette Oholi, Anne Potjans, Nadjib Sadikou, and Dominic Thomas. The aim is to make literary research on Black Europe more visible to scholars in comparative literature and to contribute to a discussion on research perspectives, theories, and future challenges and needs.
This article studies two African American examples of provincialising Europe "from the inside", James Baldwin's essay "Stranger in the Village" and Vincent O. Carter's "The Bern Book", both set in 1950's Switzerland. It investigates how these texts reverse the ethnographic gaze at the "other" and use the rural Swiss scenario to imagine Europe as historically backward. While the authors differ in their intentions, both acts of provincialisation leave the superiority of European high culture intact.
This article compares Chika Unigwe's novel "On Black Sisters' Street" and Sudabeh Mortezai's film "Joy", both about Nigerian women trafficked for sex work to Belgium and Austria respectively. They share a genre genealogy with slave narratives but are primarily concerned with European (neo-)colonialism. Drawing on postcolonial and intersectional theory as well as imagology, this article analyses the Black female re-imagination and strategic exoticisation of Europe in the two narratives.
The introduction informs about Black literary imaginations of Europe that reverse or complicate the (neo-)colonialist European gaze at the "African Other". It reviews the state of research and provides an overview of the aims and sources of the special issue, whose individual contributions take into account both national specificities and transnational contexts. Sandra Folie and Gianna Zocco emphasise the important role of comparative literature for the field of African European studies (and vice-versa).
Der Beitrag sucht Georg Christoph Lichtenbergs Position im Sprachdenken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bestimmen. Diese ist durch eine Kombination von anthropologischen und technisch-pragmatischen, sprachhandwerklichen Überlegungen zur "Wörterfertigung" geprägt, bei der Fragen von Lexik und Nomenklatur im Vordergrund stehen. Zu den Leitkriterien des guten Stils gehören Lichtenberg zufolge Wahrheit und Genauigkeit sowie Natürlichkeit und Individualisierung.
Der Beitrag untersucht den Gebrauch des Tonbegriffs im ästhetischen und poetologischen Diskurs des mittleren und späten 18. Jahrhunderts. Ausgangspunkt dafür ist eine Verhältnisbestimmung der Termini Schreibart, Stil und Ton, aus der die gattungspoetologische Bedeutung des Tons hervorgeht. Entgegen dem seit der romantischen Ästhetik dominanten Verständnis verbindet die Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts (Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Joachim Eschenburg, Johann Jakob Engel, Johann Christoph Adelung) mit dem Begriff nicht nur die klangliche Dimension von Literatur, sondern auch eine affektive Grundierung von Gattungsformen und ein Konzept für die Beschreibung von gattungshybriden Texten.
Am Nachdruck, wie er bei Johann Christoph Gottsched, Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger, Johann Georg Sulzer und Johann Gottfried Herder diskutiert wird, lässt sich exemplarisch beobachten, wie eine Gruppe von rhetorischen Verfahren zur Kennzeichnung von nationalen Kollektivstilen ausgebaut wird. Eine wichtige Voraussetzung für die Ausweitung des Nachdrucks von einer Stilfigur zu einem 'nachdrücklichen Stil', so die hier verfolgte These, ist der über physikalische Leitvorstellungen von Druck, Stoß und Wurf geleistete metaphorische Anschluss an ästhetische Kraftvorstellungen.
Der Begriff des 'körnigen Stils' steht in der Sprach- und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts für eine kurze und gehaltvolle, oft auch als 'nachdrücklich' beschriebene Schreibart. Im Literaturstreit zwischen Johann Christoph Gottsched und den 'Schweizern' erlangte er zugleich programmatische und polemische Bedeutung. Im Zentrum des Aufsatzes steht die für das 'Körnige' konstitutive Konstellation von Kürze, Kraft und Konkretion. Ausgehend von Theodor W. Adornos stilsoziologischer Beobachtung, dass der lakonische Stil in Briefen des 18. Jahrhunderts Ausdruck bürgerlicher Notdurft sei, zeige ich an Texten von Johann Christoph Adelung, Johann Jacob Breitinger, Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Gottfried Herder, dass das Stilideal des Körnigen im 18. Jahrhundert mit dem Streben nach einer Erneuerung und Bereicherung der deutschen Schriftsprache einherging. Zum Kapital, aus dem diese neue Sprache sich speisen sollte, gehörte das ausdifferenzierte Vokabular des Handwerks und des Handels. Der zeitgenössischen Theorie zufolge stellte der körnige Stil also weniger die Notdurft als den Reichtum und die Sprachmächtigkeit des Bürgertums zur Schau.
In seinem Frühwerk "Über die neuere deutsche Literatur" arbeitet der junge Johann Gottfried Herder an der Herausbildung einer neuen Prosa. Durch kommentiertes Zitieren aus den "Briefen, die neueste Literatur betreffend" entwirft er das Ideal einer 'biegsamen' und 'behaglichen' ungebundenen Schreibweise, die sich ganz wesentlich in Stilversuchen manifestiert - in beschriebenen, kritisierten und zitierten sowie denjenigen des Verfassers selbst.
Beispiel und Regel im 18. Jahrhundert. Ein Blick in Christian Ludwigs zweisprachige Wörterbücher
(2024)
Zweisprachige Wörterbücher des 18. Jahrhunderts sind eine wichtige Quelle für die Analyse impliziter stilistischer Urteile. Sie wurden einerseits, insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte, von den präskriptiven Regeln der großen monolingualen Wörterbücher und Grammatiken beeinflusst, andererseits hatten sie die Aufgabe, Fremdsprachenlernern deskriptiv Gebrauchsmuster an Beispielen vorzuführen. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich die Autoren dieser doppelten Herausforderung stellten und wie das entstehende präskriptive Regelsystem vor dem Hintergrund der Stilpluralisierung im 18. Jahrhundert zu interpretieren ist.
In seiner "Poétique française" (1763) und seinen "Eléments de littérature" (1787) entwickelt der französische Dichter und Theoretiker Jean-François Marmontel Ansichten zum Stil, die von der traditionellen Regelpoetik geprägt sind, allmählich aber einen Übergang zur Individualstilpoetik andeuten. Während er diese verschiedenen Paradigmen durch den Geschmacksbegriff noch zu vereinen sucht, zeigt die deutsche Rezeption seiner Theorie, insbesondere Gottlob Benedikt von Schirachs Übertragung, wie sich der Kompromiss aufzulösen beginnt und wie sich neben der Durchsetzung der Individualstilpoetik auch eine Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst anbahnt.
Für die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein umfassender Wandel im Bereich des Stilverständnisses konstatiert, das ab 1750 von zwei gegensätzlichen Stilbegriffen geprägt ist: einem traditionell rhetorischen einerseits und einem sich neu etablierenden Individualstil andererseits. Der Beitrag versucht, mit einem Schlaglicht auf das Frühwerk Johann Georg Hamanns ("Sokratische Denkwürdigkeiten" und "Wolken") diesen für das Verständnis der stilgeschichtlichen Umbrüche zentralen Autor im skizzierten Diskursfeld zu verorten. Ein näherer Blick auf Hamanns sokratische Schreibart erlaubt es, die geläufige Rollenzuschreibung, die in Hamann vor allem einen Wegbereiter des Individualstils erkennt, zu problematisieren und ein Paradox herauszuarbeiten: Die Entwicklung zum Individualstil beginnt im Falle von Hamanns ironisch verstellter Maskenrede mit einer radikalen Depotenzierung der Autorinstanz.
Im vorliegenden Beitrag geht es um die Frage, wie sich Natürlichkeit als ein zentrales Stilkonzept im 18. Jahrhundert auf die syntaktische Gestaltung von Texten ausgewirkt hat. Grundlage der empirischen Untersuchung sind neunzig Musterbriefe, die aus drei Ausgaben des Schröter'schen Briefstellers (1,1743, 7,1767, 8,1785) stammen und die im Sinne der 'neuen' Stilauffassungen überarbeitet wurden. Die Briefe zeigen unter anderem einen Rückgang in der Satzkomplexität, eine Aufwertung der Selbstreferenz und eine verstärkte Einbindung mündlichkeitsnaher Strukturen.
Um 1750 zeichnet sich eine grundlegende Verschiebung in der Funktion des Stilbegriffes ab, die sowohl die Theorie als auch die Praxis literarischen Schreibens veränderte. Während sich das an der frühaufklärerischen Erkenntnistheorie orientierte Ideal der ersten Jahrhunderthälfte als analytischer Stil beschreiben lässt, zielt die Dichtungstheorie und -praxis in der zweiten Jahrhunderthälfte auf einen synthetischen Stil, der sich im poetischen Text als "übersummatives Ganzes" (Ulf Abraham) manifestiert; die poetische Absicht wird durch diesen Stil in einem korrelativen Verhältnis von Text und Einbildungskraft verwirklicht. In einer vergleichenden, den historischen Kontext einbeziehenden Analyse zweier Gedichte von Barthold Heinrich Brockes und Friedrich Gottlieb Klopstock wird nachgewiesen, dass sich das Verständnis von Stil von einer Art Verdoppelung des Erkenntnisprozesses (Brockes) zu einer kognitiven Funktion (Klopstock) hin verschiebt.
Hugh Blairs umfangreiche "Lectures on Rhetoric and Belles Lettres" sind eines der erfolgreichsten Werke der englischsprachigen Rhetoriktradition. Der Stilbegriff bildet das Zentrum von Blairs Ästhetikkonzept. Blair greift einerseits auf die rhetorische Tradition zurück, bezieht sich andererseits aber auch auf wahrnehmungstheoretische Überlegungen aus der zeitgenössischen empiristischen Psychologie. Neben den ästhetischen Qualitäten des Stils rücken dabei Fragen der Verständnissicherung durch stilistische Klarheit in den Fokus. Blairs "Lectures" greifen damit über das Feld der Ästhetik entscheidend hinaus.
Um 1750 gelangt die ethopoetische Funktion des Stils in den Fokus verschiedener Autoren, welche die Kategorie in Rhetorik, Poetik und Ästhetik neu vermessen. Johann Christoph Gottscheds Rhetorik weiß den Stil als Übung zu nutzen, um Empfinden und Denken der Schüler zu trainieren. Der Charakter der Schüler resultiert somit aus einem Ausbildungsprogramm, das vom Spracherwerb bis zum Verfassen von Reden reicht. Johann Jacob Breitinger erläutert in seiner Poetik, wie die Sprache auf einer semiotischen Ebene auf verschiedene Arten Kraft ausübt, um das Gemüt zu bewegen und damit sinnliche Erkenntnisse zu generieren. Stil als Übung und Stil als Darstellungsverfahren vereint Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, die sowohl eine Vervollkommnung des sinnlichen Erkennens anstrebt als auch die Verfahren beleuchtet, die für die Darstellung der sinnlichen Erkenntnis verantwortlich sind.
Der interdisziplinäre Sammelband eröffnet neue Perspektiven auf den Stil als bislang unterkonturierte literaturwissenschaftliche Leitkategorie unter transnationalen, wissens-, gattungs- und sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten. Im 18. Jahrhundert zeichnet sich im Nachdenken über Schreibarten eine Neujustierung der Stilkategorie ab, die den Stil zur Reflexionsgröße für ästhetische Diskurse macht. Der Band sondiert die Pluralisierung, Historisierung und Individualisierung der Stilkategorie, die ihr neue literatur- und kulturtheoretische Anwendungsbereiche eröffnet. Die Bewegungen zwischen den Sprachen, Literaturen, Medien und semantischen Feldern erschließt die Publikation, indem sie europäische Vergleichshorizonte eröffnet und literatur- ebenso wie sprachwissenschaftliche Ansätze präsentiert. Damit leistet sie einen Beitrag zum Feld der komparatistisch ausgerichteten Germanistik, insbesondere der Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts und des europäischen Kulturtransfers.
Der interdisziplinäre Sammelband eröffnet neue Perspektiven auf den Stil als bislang unterkonturierte literaturwissenschaftliche Leitkategorie unter transnationalen, wissens-, gattungs- und sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten. Im 18. Jahrhundert zeichnet sich im Nachdenken über Schreibarten eine Neujustierung der Stilkategorie ab, die den Stil zur Reflexionsgröße für ästhetische Diskurse macht. Der Band sondiert die Pluralisierung, Historisierung und Individualisierung der Stilkategorie, die ihr neue literatur- und kulturtheoretische Anwendungsbereiche eröffnet. Die Bewegungen zwischen den Sprachen, Literaturen, Medien und semantischen Feldern erschließt die Publikation, indem sie europäische Vergleichshorizonte eröffnet und literatur- ebenso wie sprachwissenschaftliche Ansätze präsentiert. Damit leistet sie einen Beitrag zum Feld der komparatistisch ausgerichteten Germanistik, insbesondere der Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts und des europäischen Kulturtransfers.
Mutoni im Un/Happyland : die Bürde weißer Retter*innen in Tete Loepers Roman "Barfuß in Deutschland"
(2023)
In Tete Loeper's novel "Barefoot in Germany" (2020), Black first-person narrator Mutoni from Rwanda recounts her experiences as a marriage migrant, sex worker, maid, and caregiver in Germany, a supposed "Happyland" where racism is considered the offense of "others": bad individuals and Nazis. However, Loeper's white savior characters are both nice people and (unwitting) racists, while some of Mutoni's Black sisters behave in discriminatory ways as well. Drawing on critical race theory and imagology, this article shows how the novel deconstructs and appropriates stereotypical images from "'colorblind' Europe" on both a thematic and formal-aesthetic level. By engaging with a comparative and transnational frame of reference that goes beyond a monolingual white canon of theory and literature, the article reveals the novel's connections to other Black texts and genres, as well as its literary strategies in dealing with identity (politics).
How can music history help us understand the establishment of national character? This article discusses a prosaic text by Johann Friedrich Rochlitz as a medium for implementing stereotypical ideas of "the Italian" in German music historiography and, thereby, in public consciousness. It shows how particular musical qualities of the story's fictional protagonists are blurred with ideas of national character. Against this background, the predominant reception of the author Rochlitz in the realm of German music historiography can be reevaluated from a more transnational scholarly perspective. Key to this reassessment is investigation into the categories of fictional and musical characters with regard to notions of both "the German" and "the Italian."
This article contributes to the European history of musical nationalism with regard to operatic debates in the eighteenth century. The investigation reveals that within operatic debates national categories were used for all levels of the multimedia genre of opera: music, text, composer, and actor. Moreover, the relationship between national character and national taste was a highly critical point: there was general agreement that only outstanding aesthetic abilities enable composers to go beyond their own particular national character. Only in this respect could aesthetic abilities stand above national taste, which was said to be shaped by national character.
Throughout history, songs have been considered effective instruments to strengthen the formation of collective identities. Eighteenth-century Dutch songwriters engaged with this idea in their striving for national unity. Political songs from that period employ several tropes, and the music often reinforces such images through musical imagery and intertextual references. Moreover, the imagined identities voiced in the songs might have become embodied identities through the performative act of singing. Therefore, for an investigation of the construction of collective identities in songs, the imagological approach can be expanded to musical imagery and take into account cognitive theories explaining the effects of singing.
Italy has experienced a high number of earthquakes. However, the identity of "the Italians" has not yet been defined by their "landscape of wounds." Referring to an earthquake in central Italy (Amatrice) in August 2016, the French satirical magazine Charlie Hebdo published a controversial caricature of two wounded Italians standing alongside the "Lasagnes," a pile of bodies layered like the well- known Italian pasta dish. By analysing the caricature's text, intertext, and context, while drawing on imagology and geopoetics, this article aims to show how earthquakes are linked to Italian cultural stereotypes and national identity.
In visual narratives such as comics, national images are actually depicted. While Franco-Belgian comics have been the subject of detailed studies regarding the national stereotypes they convey, Flemish comics have been largely ignored. This article focuses on three albums of the Flemish comic series "Suske en Wiske", in which the heroes travel to a fictitious Eastern Bloc country, Japan, and China. It will examine how both heteroimages and auto-image are presented (visually, textually, and as part of the plot), and how comic characters may combine contradictory ethnotypes. As it will turn out, in the early album (1945) ethnotypes are perpetuated, whereas in later ones (1984, 2008) they are rather undermined.
Visual representations of sexual violence in the Bosnian War in Jasmila Žbanić's "Grbavica" (2006) and Angelina Jolie's "In the Land of Blood and Honey" (2011) reveal different dimensions of victim feminism. Both directors sought to raise awareness of the issue of wartime rape and to direct viewers' attention to the pain of the distant Other. An intersectional analysis of the two productions (one domestic and one US-based) helps convey the impact of national and gender stereotyping both on self-representations and on representations of Otherness. Moreover, the analysis of a cinematic response to the Western gaze encourages rethinking prevalent images of the so-called Balkans.
This article examines striking similarities between stereotypical characters in Caroline Lee Hentz's US-American plantation novel "The Planter's Northern Bride" (1854), and Charlotte Brontë's classic "Jane Eyre" (1847). Especially, a connection can be made between Hentz's Italian "Madwoman in the attic" Claudia, and Brontë's transatlantic Caribbean counterpart Bertha. An intersectional methodology performed through a close reading will show how both women are literally and metaphorically trapped within spaces and stereotypes. This article transfers imagology into a global setting while extending its scope beyond investigating national characteristics.
Nationality traditionally is one of imagology's key terms. In this article, I propose an intersectional understanding of this category, conceiving nationality as an interdependent dynamic. I thus conclude it to be always internally constructed by notions of gender, sexuality, race, class, religion, age, ability, and other identity categories. This complex and multi-layered construct, I argue, is formed narratively. To exemplify this, I analyse practices of stereotyping in Honoré de Balzac's "Illusions perdues" (1843) and Henry James's "The American" (1877) which construct the so-called 'Parisienne' as a synecdoche for nineteenth-century France.
Starting from the definition that stereotypes are based on categorization and attribution, this article first deals with the relationship between categorization and stereotyping as well as images and imagology. The multitude of categories and stereotypes used in the process of perception raises the question of which categories are decisive in which social contexts and how different social categories are intertwined. Following an examination of categories, stereotypes, and images, these questions of interdependence lead to the fourth important topic of this article: intersectionality.
This study compares and analyses hetero-stereotypes in Flaubert's travelogue "Voyage en Égypte" and Bachmann's prose fictions "Wüstenbuch" and "Das Buch Franza" in order to find out to what extent Flaubert resorts to stereotypical representations of the colonial Orient, and Bachmann perpetuates, transforms, or revises Flaubert's imagological discourse in the age of postcolonialism. Whereas Flaubert's sexist and racist narrative posits white superiority, Bachmann's protagonists subvert the male hegemonic stance of her French predecessor, insisting on white and male inferiority, causing just another stereotypization of race and gender.
The ways in which Self and Other are represented in fiction play a significant role in the formation of racial and other stereotypes in any culture. This article is a reading of the children's book "The Brave Rabbit in Africa" (1931) by Slovak modernist author Jozef Cíger-Hronský. It attempts to point out and analyse the ways in which racial and national identities are constructed in the written text of the book. Arguably, the story deploys colonialist motifs typical of Western literature in order to appraise the modern, civilized identity of the young Slovak nation.
A study on "The Travel Journal and Pictures" : Li Danlin's image of foreign lands and cultures
(2022)
This article studies the hetero-images in premodern Chinese painter Li Danlin's travelogue "The Travel Journal and Pictures" with regard to Daniel-Henri Pageaux's and Jean-Marc Moura's theories. Li draws pictures of foreign lands and cultures to express his exoticist interest, following the tradition entailed from "The Classic of Mountains and Seas". He transforms the reality and constructs two forms of hetero-images: those of Western cultures by applying clichés, and stereotyped images of indigenous peoples as "Manyi." These hetero-images give us insights into premodern Chinese ideology and offer an example of Occidentalism as a Sinocentric form of ethnotype.
The "World Geography" ("Wanguo dili quanji" 萬國地理全集) published in 1844 by the Protestant missionary Karl F.A. Gützlaff was the first geographical account to introduce some European ethnotypes to China. Based on recent archival findings, my article compares this book with both its presumed Western source and its rendering in the 1847 edition of Wei Yuan 魏源's "Maps and Documents of the Maritime Countries" ("Haiguo tuzhi" 海國圖志). It thus explores the role that interlingual and intralingual transfers respectively played first in negotiating and then renegotiating two European stereotypes in their early travels to and within the Qing empire.
This article aims to show that imagology is a promising method for analysing images of the European Other and the Turkish Self as expressed in Ahmet Hamdi Tanpınar's novel "Huzur" (1948; trans. "A Mind at Peace", 2007). The narrative challenges the rhetoric of early Turkish nationalism by promoting a synthesis of the national present with both the melancholically evoked Ottoman heritage and with European cultures. At the same time, the novel's protagonists stand for diverse and often contradicting conceptions of Self and Other and thus provide an insight into the various identity conflicts present in Republican Turkey.
This article compares two similar yet never compared cases of intra-European othering: Spain and the South Slavic region. Their common denominator is what I call the Periphery Problem: a hierarchical cultural difference between Europe's symbolic centre (Western Europe) and its exotic peripheries. Using paradigmatic examples intertextually linked to Prosper Mérimée, this article focuses both on the centre (exemplified by Mérimée), and the peripheries' recent responses to Mérimée through meta-images (your image of others' image of you). The structural commonalities in characterization and the entanglements of internal and external images show that national characterization in Europe is profoundly a transnational phenomenon.
This article applies imagology to "migration literature" - a genre that is described as a "peripheral phenomenon" in the 2007 handbook "Imagology", but that requires more thorough attention due to the increasing number of significant writings by immigrant authors. Focusing on works by Rafik Schami, Tahar Ben Jelloun, Amara Lakhous, Igiaba Scego, Hatice Akyün, Yoko Tawada, and Emine Sevgi Özdamar, and considering theoretical observations by Edward Said, Salman Rushdie, and Homi Bhabha, this article analyses how most texts prefer arguments and metaphors of everyday life to the traditional images and stereotypes of nationalistic discourse. It concludes by distinguishing two perspectives central to most of them: that of an "in-between" and/or a "Third Space."
The fall of the Berlin Wall and its literary representations have often been described as a purely (white) German affair, as a discourse regarding (East/West) German identity. Taking on Leerssen's claim for a trans-/postnational imagology, this article provides an analysis of two novels depicting the fall of the Berlin Wall from transnational, not-(only)-German perspectives: Yadé Kara's "Selam Berlin" (2003) and Paul Beatty's "Slumberland" (2008). Comparing images and stereotypes used by both the Turkish-German narrator of Kara's and the African American narrator of Beatty's novel, it aims to undertake an exemplary case study of how imagology may be employed in contexts characterized by complex interferences of national, ethnic/racial, and urban ascriptions of belonging.
This article analyses processes of collective and individual identity formation in European travel writing from the late eighteenth and the middle of the nineteenth century and argues that these processes are based not least on the national stereotypes described and performed in the texts. I explore how the genre-specific stylistic elements of multilingualism and intertextuality inform the performance of auto- and hetero-images and in doing so suggest converging travel writing studies and imagological studies. To illustrate my thesis, I analyse travelogues by Charles Dickens and Karl Philipp Moritz.
This article outlines a production-oriented imagology and equips the imagological toolkit with concepts and terminology from cultural memory studies, reception aesthetics, narratology, rhetoric, and text linguistics. It thereby presents the theoretical framework which makes it possible to analyse generic elements without a national connotation with regard to their function in generating a national image. Using as examples genres from English Romanticism and how they evoke Englishness, the article highlights the aesthetic complexity of national images and their range of variation. Simultaneously it paves the way for a more nuanced deconstruction of these images.
Images, the main object of imagological analysis, are by nature value-charged. Despite this fact, previous research has neglected the axiological foundations of imagology. This article discusses in brief some fundamental axiological questions of imagological investigations. The here analysed corpus includes an eighteenth-century visual-textual source (the so-called "Leopold-Stich"), and a famous imagological handbook ("Imagology", by Beller and Leerssen). The analysis starts with the problem of value connotations of the signifier of geocultural spaces and continues with a cluster of questions concerning the nature of value of imagotypical representations. The final part examines two relevant imagological phenomena—diachronic changes in evaluation of certain geocultural spaces and a somewhat opposite phenomenon of evaluative apriorism.
Imagological analysis can be fruitfully applied to political discourse, most importantly the discourse of international antagonism and national self-positioning used in government decision-making circles. Historians studying that discourse have tended to see its rhetoric of national characterization merely as a distracting accompaniment to actual, factually driven policies and developments. This, it is argued here, questionably presupposes that those policies were never driven by anything but cerebral reasons of state (such as these are seen by latter-day historians); it makes us unduly heedless of an important historical corpus throwing light on the force of emotive and national prejudice in policymaking.
With this volume, the editors Katharina Edtstadler, Sandra Folie, and Gianna Zocco propose an extension of the traditional conception of imagology as a theory and method for studying the cultural construction and literary representation of national, usually European characters. Consisting of an instructive introduction and 21 articles, the book relates this sub-field of comparative literature to contemporary political developments and enriches it with new interdisciplinary, transnational, intersectional, and intermedial perspectives. The contributions offer [1] a reconsideration and update of the field's methods, genres, and theoretical frames; [2] trans-/post-national, migratory, and marginalized perspectives beyond the European nation-state; [3] insights into geopolitical dichotomies such as Orient/Occident; [4] intersectional approaches considering the entanglements of national images with notions of age, class, gender, sexuality, and ethnicity/race; [5] investigations of the role of national images in visual narratives and music.
With this volume, the editors Katharina Edtstadler, Sandra Folie, and Gianna Zocco propose an extension of the traditional conception of imagology as a theory and method for studying the cultural construction and literary representation of national, usually European characters. Consisting of an instructive introduction and 21 articles, the book relates this sub-field of comparative literature to contemporary political developments and enriches it with new interdisciplinary, transnational, intersectional, and intermedial perspectives. The contributions offer [1] a reconsideration and update of the field's methods, genres, and theoretical frames; [2] trans-/post-national, migratory, and marginalized perspectives beyond the European nation-state; [3] insights into geopolitical dichotomies such as Orient/Occident; [4] intersectional approaches considering the entanglements of national images with notions of age, class, gender, sexuality, and ethnicity/race; [5] investigations of the role of national images in visual narratives and music.
Brecht zufolge birgt die Frage nach den Verpflichtungen der Kunst eine unauflösbare Dialektik: Kunst und politischer Zweck sind einander nicht äußerlich, ihre Beziehung ist nicht durch Konflikt oder gegenseitigen Ausschluss gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Versprechen schöpferischer Reibung und gegenseitiger Bereicherung. Dies entspricht nicht der Art und Weise, in der die Literaturwissenschaft traditionell über die Beziehung der Literatur zur Sphäre der Politik nachgedacht hat. Sie hat vielmehr dazu geneigt, den Versuch, Kunst als politische Arbeit zu begreifen, als Kategorienfehler zubetrachten - als eine von außen herangetragene Zumutung, die beiden schadet: der Kunst und der Politik. [...] Wenn wir verschüttete literaturgeschichtliche Genealogien wiederherstellen, um der theoretischen Untersuchung alternative Wege aufzuzeigen, orientieren wir uns an neueren Bemühungen, ausgewählte Episoden politisierten Schreibens nicht als literaturgeschichtliche Anomalien zu betrachten, sondern als Schlüsselmomente in der Konfiguration der Beziehung zwischen Literatur und Politik - als einflussreiche Epizentren interventionistischer Kunst, von denen aus Debatten über Literaturpolitik und Praktiken engagierten Schreibens in neue und global ausgedehnte Kontexte ausstrahlen können. Die von uns vorgeschlagene Periodisierung verbindet experimentell drei Perioden intensiv politisierter und aktivistischer Kunst und Schriftstellerei: die Zwischenkriegszeit, die langen 1960er Jahre und die Gegenwart. Damit sollen alternative Traditionen sichtbar gemacht werden, die Raymond Williams zufolge oft an den Rändern des Jahrhunderts zurückgelassen wurden. Diese Periodisierung verzichtet auch bewusst darauf, eine einzige oder eindeutige Geschichte politisierter Literatur nachzuzeichnen.
Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in "Berlin Global" : eine Führungs- und Ausstellungsreflexion
(2024)
Februar ist Black History Month und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir - Gianna Zocco und Sandra Folie - im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts "Schwarze Narrative transkultureller Aneignung" besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen. Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, "wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind". Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen. Unter dem Titel "Sichtbar werden" führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch - miteinander, aber auch mit der Gruppe - durch die Spuren Schwarzer Geschichte(n) in der Ausstellung. Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung "sichtbar werden", fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des 'narrating back' und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums begreifen lassen? Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.
Let's call it Nachbarschaft
(2024)
Im Sommer 2023 zogen das ZfL, das ZAS und die gemeinsame Verwaltung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin aus der Schützenstraße in Berlin-Mitte nach Wilmersdorf. In dem an der Pariser Str. 1, Ecke Meierottostr. 8 neu errichteten Gebäude ACHTUNDEINS von Eike Becker_Architekten bespielen die Zentren nun insgesamt drei Etagen. Im Erdgeschoss befinden sich, von außen einsehbar, die Forschungsbibliotheken von ZfL und ZAS sowie der Eberhard-Lämmert-Saal. Während des Neujahrsempfangs, mit dem sich ZfL, ZAS und die GWZ am 11. Januar 2024 der unmittelbaren Nachbarschaft vorstellten, entstand die Idee zu dieser Glosse.
In den Jahren um 1968 entwickelte sich aus einem kleinen literarischen Magazin eine der meistgelesenen Theoriezeitschriften der Bundesrepublik. Unter der Herausgeberin Hildegard Brenner wurde die "alternative" zu einem Forum intellektueller Entdeckungen und Wiederentdeckungen. Ideengeschichtliche Traditionen des westlichen Marxismus wurden hier ebenso diskutiert wie der französische Strukturalismus und die feministische Kritik der Psychoanalyse, literaturpolitische Auseinandersetzungen in Ost und West ebenso wie die politischen Bewegungen der Zeit.
Einen Leitfaden der "alternative" bildete die fortlaufende Reflexion darüber, wie mit intellektuellen Mitteln gesellschaftliche Wirkung zu erzeugen sei - bis im linken Krisenjahrzehnt der 1970er Jahre vermehrt das Scheitern an diesem Anspruch zum Thema der Zeitschrift wurde. Moritz Neuffer rekonstruiert die Kollektivbiografie der Redakteurinnen, Autoren und Leserinnen und fragt, was das Publizieren in der "journalistischen Form" der Zeitschrift von anderen Formen des Denkens und Schreibens unterscheidet.
Oksana Mikheieva beschäftigt sich mit dem eigentlichen Kriegsgebiet im Osten der Ukraine und untersucht in Mikrostudien die Reaktionen der Zivilbevölkerung auf den andauernden Konflikt, die Veränderungen der Alltagswelt sowie die Antworten und Erklärungsmodelle, die Menschen im Ausnahmezustand entwickeln.
Jan Zofka wendet sich dagegen den Grenzgebieten im Südosten zu und untersucht, welche Mobilisierungsdiskurse die russischsprachigen Separatisten im moldauischen Dnjestr-Tal und auf der Krim nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus aktivierten und wie sehr diese noch von sowjetischen Nationalitätenkonzepten geprägt waren.
Sencovs Camera
(2023)
Einen Gegenentwurf zu all den Kriegshelden und Märtyrern des Vaterlands stellt Oleh Sencov dar, der als Filmschaffender in seiner Gefängniszelle, wie Kateryna Mishchenko ausführt, in Zeiten des Revanchismus und der Gegenrevolution wie kein anderer für das Versprechen des Euromaidan stand, dass auch eine andere, bessere Zukunft möglich gewesen wäre.
Unsere Helden. Eine Inventur : zu einer Ausstellung im Nationalen Kunstmuseum der Ukraine 2014/2015
(2023)
Aus Anlass seiner kuratorischen Tätigkeit bei einer Ausstellung in Kiew im Zeichen des Euromaidan verfolgt Michael Fehr die aktuelle Renaissance von Heldennarrativen bis zum sowjetischen und antiken Heroenmythos zurück und zeigt am Beispiel der Sammlung des Nationalen Kunstmuseums der Ukraine auf, welche unterschiedlichen Funktionen verschiedene Heldentypen in bestimmten Konstellation erfüllen können.
Roman Dubasevych zeigt am Beispiel der populären Diskurse, wie das postkoloniale Ressentiment gegen einen russifizierten Osten im Medium der Nachrichtenreportage, des Musikvideos und des Actionfilms "Cyborgs" ("Kiborhy", 2017) zu einer oft durchaus ambivalenten Mythisierung von Kriegerfiguren führt.
Igor' Sid analysiert aus seiner eigenen Erfahrung als Organisator und Vermittler des russisch-ukrainischen Dialogs heraus, wie die im Literaturbetrieb seit der Jahrtausendwende sich vertiefenden gegenseitigen postkolonialen und postimperialen Ressentiments zu einer Verschärfung des Konflikts beigetragen haben, skizziert aber auch mögliche Auswege aus der verfahrenen Situation.
Der Beitrag von Susi K. Frank zeigt anhand ukrainischer russischsprachiger Lyrik aus der Zeit vor und nach der 'Revolution der Würde', dass es gerade die Ideologisierung und Instrumentalisierung des Russischen im Ukraine-Konflikt ist, die Dichterinnen und Dichter wie Aleksandr Kabanov, Boris Chersonskij oder Anastasia Afanas'eva dazu nutzen, eine lyrische Reflexion über die 'postimperialen' Bedingungen ihres Schreibens zu initiieren.
Abgründe und Beweggründe : zu den affektiven Implikationen eines identitätspolitischen Konflikts
(2023)
Tatjana Hofmann analysiert den "postkolonialen Revanchismus", der wesentlich zur Eskalation des Konflikts beitrug und schon Jahrzehnte vor dem Euromaidan in literarischen Werken wie Jurij Andruchovyčs "Moscoviada" (1993) artikuliert wurde, ehe er dann in der aufgeheizten Debatte nach der Präsidentschaftswahl von Petro Porošenko den innerukrainischen Literaturbetrieb dominierte und die Weiterentwicklung eines nichtessentialistischen postmodernen Raum- und Kulturdenkens erschwerte - was auch prinzipielle Fragen zu den affektiven Dispositionen literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung selber aufwirft.
Mit dem Ausbruch eines Krieges in der Ostukraine hatte vor 2014 niemand gerechnet. Die rasante Geschwindigkeit, mit der die innenpolitische Krise in einer der einst stabilsten ehemaligen Sowjetrepubliken zu einem hybriden Krieg eskalierte, deutet dabei nicht nur auf rationale militär- bzw. wirtschaftsstrategische Interessen hin. Obwohl die Ukraine und Russland eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und kulturelle Nähe verbindet, offenbart der Konflikt auch tiefe gegenseitige Ressentiments und geschichtspolitische Obsessionen, die bereits lange vorher in künstlerischen Werken und kulturellen Diskursen präsent waren. In der Ukraine-Krise kam es zu einer Reinszenierung kollektiver Phantasmen, historischer Helden- und Opfermythen. Paradoxerweise aber eröffneten die Gewaltbereitschaft und Kriegslust, mit der alle Parteien auf lokaler, nationaler und virtueller Ebene diese Dynamik vorantrieben, unter anderem Kulturschaffenden auch Möglichkeiten, die gefühlte Ohnmacht zu überwinden und gesellschaftlich handlungsfähig zu werden. Diese Entwicklung ist tief durch die (post-)sowjetischen Erfahrungen geprägt und zugleich eng mit globalen und medialen Veränderungen verbunden. Die Fallstudien des Bandes loten die affektiven und diskursiven Dimensionen des Konfliktes aus und leisten damit einen Beitrag zur Konzeptualisierung der postsozialistischen Gesellschaften und Kulturen im Osten Europas.
Am 6. August 1975 lädt der Verlag Roter Stern in Frankfurt am Main zu einer Pressekonferenz ins Hotel Frankfurter Hof. Hier präsentieren der Verleger KD Wolff, ehedem Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und der ehemalige Werbegrafiker D.E. Sattler den Einleitungsband ihrer neuen Hölderlin-Ausgabe. Die zwanzigbändige Edition soll in fünf Jahren abgeschlossen sein; tatsächlich erscheint der letzte Band 2008. Aufsehenerregend war die neue Ausgabe vor allem wegen ihrer Editionsprinzipien: Alle Handschriften werden im Faksimile wiedergegeben, eine "typographische Umschrift" bildet die Schriftbildlichkeit der Handschriftenblätter ab, eine "Phasenanalyse" macht den zeitlichen Charakter des Entwurfsprozesses nachvollziehbar. Aufsehenerregend war aber auch, dass die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) von Anfang an unter einem politisch-aktivistischen Stern stand: "Roter Stern über Hölderlin" oder "Liest Marx jetzt Hölderlin?" lauteten einschlägige Überschriften in der Presse.
Mit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ist die Osteuropaforschung, die in der Öffentlichkeit jahrzehntelang eine eher marginale Rolle spielte, ins Rampenlicht gerückt. Osteuropawissenschaftler:innen analysieren das laufende Kriegsgeschehen, erläutern vorangegangene Entwicklungen, informieren über die russische Imperialgeschichte und das lange Ringen der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit. Kurz: Sie vermitteln komplexes Wissen über Politik und Geschichte, Sprache und Kultur eines Raums, der von jahrhundertelangen Grenzverschiebungen, vielsprachigen und multireligiösen Bevölkerungen und generationsübergreifenden Gewalterfahrungen gekennzeichnet ist. Aufgrund der medialen Berichterstattung infolge des Kriegs ist die Ukraine zwar keine Terra incognita mehr. Doch es bedarf weiterhin der Wissensvermittlung in die breitere Öffentlichkeit, damit sie und andere ehemalige sow jetische Länder als eigenständige Akteure und Subjekte der eigenen und europäischen Geschichte und nicht immer nur in Bezug auf Russland wahrgenommen werden.
'Aktivismus' wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskriptive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts. Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, insbesondere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht dabei häufig um marginalisierte Gruppen und Anliegen. Forderungen nach Ermächtigung und Gleichberechtigung sowie die Herausstellung besonderer Schutzbedürftigkeit stehen im Zentrum. [...] Bedeutungskonstituierende Kriterien für 'Aktivismus' wären demnach erstens politische Partizipation jenseits einer bloß passiven, handlungsfernen Zustimmung oder Ablehnung sowie zweitens das Vorhandensein eines kollektiven Handlungsmusters, das im Hinblick auf Rechte und deren Beschränkungen lesbar ist. Der Begriff setzt drittens ein Grundverständnis von Asymmetrien innerhalb der politischen Partizipation voraus. [...] Allerdings erlegen diese drei Kriterien den historischen Konstellationen eine allzu große Einfachheit auf.
In den aktuellen Debatten um politischen Aktivismus und institutionalisierte Wissenschaft lässt sich unschwer das alte Muster 'Elfenbeinturm' vs. Engagement erkennen, das zahlreiche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert geprägt hat. Angesichts dieser langen, wechselvollen und produktiven Geschichte könnte man mit dem Thema eigentlich gelassener umgehen als der aufgeregte Ton heute nahelegt. In ihrem Beitrag zu den Osteuropawissenschaften in Zeiten des Krieges wundert sich auch Nina Weller, dass längst überwunden geglaubte Fronten sich neu formieren. Henning Trüper erinnert daran, dass moderne Wissenschaft immer von politischen Instanzen wie dem Staat abhängt. Patrick Eiden-Offe stellt anhand der Frankfurter Hölderlin-Edition, deren politische Motive einen Paradigmenwechsel in der Editionswissenschaft herbeiführten, die Verträglichkeit von Politik und Wissenschaft exemplarisch unter Beweis. Er zeigt aber auch, dass dem akademischen Erfolg des Projektes dessen politische Motive zum Opfer fielen; bei der Durchsetzung neuer Editionsprinzipien blieb der politisch-aktivistische Impuls auf der Strecke. Könnte es heute umgekehrt die Wissenschaft sein, die auf der Strecke bleibt? Und wenn es so wäre, könnte das damit zusam menhängen, dass einerseits die Politik (national und auf EU-Ebene) sowie viele Förderorganisationen eine 'transformative Wissenschaft' einfordern? Und dass andererseits immer mehr junge Menschen ihre akademische Entwicklung in den Dienst dieses oder jenes Aktivismus stellen? Haben wir es mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus 'von oben' und 'von unten' zu tun?
Die Sowjetunion unter Stalin war ein Ort, an dem Terror und Gewalt herrschten, in der öffentlichen Propaganda aber wurde sie zeitgleich als Hort der "Brüderlichkeit" und "Völkerfreundschaft" inszeniert. Die Kulturpolitik jener Jahre zielte auf eine sowjetweite Repräsentation der nationalen Kulturen und die Etablierung einer "multinationalen" Sowjetliteratur bzw. Sowjetkultur. Ungeachtet der ideologischen Gleichschaltung war das Arsenal von Figuren des Nationalen keineswegs für alle gleich, sondern hing von den jeweiligen geschichtlichen und (religions-)kulturellen Traditionen der einzelnen Völker ab. Am Beispiel Georgiens lassen sich kulturelle Phänomene - wie etwa die Kolchis, das georgische Pantheon nationaler Heroen oder die Figur des mittelalterlichen Dichters Šota Rust'aveli - als "Figuren des Nationalen im Sowjetimperium" untersuchen. Georgien ist nicht nur deshalb ein interessantes Beispiel, weil Stalins Heimat in den offiziellen Diskursen viel Aufmerksamkeit erhielt. Die georgische Kultur - und damit gleichsam die Sowjetkultur generell - ließ sich auch durch ihre weit in die Vergangenheit zurückreichende kulturelle Tradition als eine besonders alte Kultur inszenieren.
Mit dem Ausbruch eines Krieges in der Ostukraine hatte vor 2014 niemand gerechnet. Die rasante Geschwindigkeit, mit der die innenpolitische Krise in einer der einst stabilsten ehemaligen Sowjetrepubliken zu einem hybriden Krieg eskalierte, deutet dabei nicht nur auf rationale militär- bzw. wirtschaftsstrategische Interessen hin. Obwohl die Ukraine und Russland eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und kulturelle Nähe verbindet, offenbart der Konflikt auch tiefe gegenseitige Ressentiments und geschichtspolitische Obsessionen, die bereits lange vorher in künstlerischen Werken und kulturellen Diskursen präsent waren. In der Ukraine-Krise kam es zu einer Reinszenierung kollektiver Phantasmen, historischer Helden- und Opfermythen. Paradoxerweise aber eröffneten die Gewaltbereitschaft und Kriegslust, mit der alle Parteien auf lokaler, nationaler und virtueller Ebene diese Dynamik vorantrieben, unter anderem Kulturschaffenden auch Möglichkeiten, die gefühlte Ohnmacht zu überwinden und gesellschaftlich handlungsfähig zu werden. Diese Entwicklung ist tief durch die (post-)sowjetischen Erfahrungen geprägt und zugleich eng mit globalen und medialen Veränderungen verbunden. Die Fallstudien des Bandes loten die affektiven und diskursiven Dimensionen des Konfliktes aus und leisten damit einen Beitrag zur Konzeptualisierung der postsozialistischen Gesellschaften und Kulturen im Osten Europas.
So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.
"A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?" - so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken neuester (Sprach-)Technologien beschworen werden, lässt der Vergleich mit dem Vernichtungspotenzial von Atomwaffen nicht lange auf sich warten. Dies gilt für die in Print- und Onlinemedien ausgetragene Diskussion, ist aber auch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit ihren Spezialöffentlichkeiten zu beobachten. Warnungen vor den unabsehbaren Folgen der KI-Entwicklung gleichen in ihrer Drastik und teils bis aufs Wort den Mahnrufen und Appellen, mit denen in der Nachkriegszeit auf die damals neue Gefahr eines drohenden globalen Nuklearkonflikts reagiert wurde. Ob sich die von der New York Times anonymisiert präsentierten Aussagen wie "If we go ahead on this, everyone will die" oder "We are drifting toward a catastrophe beyond comparison" auf unsere Gegenwart oder auf die historische Situation der 1950er und 1960er Jahre beziehen, ist daher tatsächlich nicht immer ohne Weiteres auszumachen. Und erst kürzlich berichtete die Zeitung von einem Mitarbeiter des von Google betriebenen DeepMind-Forschungslabors, der einen Vortrag zum maschinellen Lernen mit einem Zitat aus George Orwells Essay "You and the Atomic Bomb" (1945) eröffnet hatte - ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die zwischen Künstlicher Intelligenz und Nuklearwaffen gezogenen Parallelen zu einem anscheinend unverzichtbaren Topos in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen und Large Language Models (LLMs) geworden sind.
"Oppenheimer" (Regie: Christopher Nolan, USA 2023) hat diverse Rekorde gebrochen. Er zählt zu den erfolgreichsten Filmen mit R-Rating; schon jetzt konnte er sich unter den ganz oder in wesentlichen Teilen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielenden Filmen den vordersten Platz sichern. Das 180 Minuten lange Biopic über den sogenannten 'Vater der Atombombe' stellt selbst langjährige Spitzenreiter wie "Dunkirk" (Regie: Christopher Nolan, USA 2017) oder "Saving Private Ryan" (Regie: Steven Spielberg, USA 1998) in den Schatten. Mit einem erlesenen Star-Ensemble und einem Budget von 100 Millionen US-Dollar hat Nolan ein dunkles Historienspektakel geschaffen, das angesichts revolutionärer KI-Entwicklungssprünge, menschengemachter Klimaveränderungen und wiederaufkeimender geopolitischer Bedrohungen erschreckend aktuell ist. Wieder einmal sieht sich die Menschheit mit ihren selbstzerstörerischen Kräften konfrontiert. [...] "Oppenheimer" ist ein sehenswerter Film. Man sollte sich allerdings im Klaren darüber sein, dass er sich darin genügt, die Banalität einer Wissenschaft auszustellen, die im Krieg einfach zu funktionieren hat: Was gemacht werden kann, wird gemacht. Das Nachdenken darüber kommt - wie die Sichtbarkeit der Fortschrittskonsequenzen - immer erst ex post. Gerade mit Blick auf die historische Person Oppenheimer wird die gleichzeitig betriebene Mythisierung damit fragwürdig. Anstatt Oppenheimer zum modernen Prometheus, zum Vordenker amerikanischen Könnensbewusstseins zu stilisieren, hätte man mit gleichem Recht dessen weniger berühmten Bruder als mythische Vorlage wählen können. Schließlich war Epimetheus, der Nachdenker, dafür verantwortlich, dass die Büchse der Pandora in die Welt der Menschen kam.
Die Leerstelle Walter Benjamin : zur Verfehlung einer kulturwissenschaftlichen Wahlverwandtschaft
(2023)
Unter den 53 Namen der Autoren, deren Beiträge in dem Jahrzehnt zwischen 1921 und 1931 in den neun Bänden der Vorträge der Bibliothek Warburg erschienen sind, springt eine signifikante Lücke ins Auge; es fehlt darin der Name Walter Benjamins. Die Tatsache, dass keine seiner Arbeiten den Weg in die Vorträge fand, ist mehr als bemerkenswert - dies nicht nur wegen der zahlreichen Korrespondenzen seiner Schriften zu den Forschungen der KBW und der deutlichen Nähe zwischen den Interessen Benjamins und Warburgs, die gegenwärtig zu den bekanntesten Köpfen der 'ersten Kulturwissenschaft' gezählt werden. Ihre Namen werden nicht selten zusammen diskutiert. Die Abwesenheit Walter Benjamins in den Publikationen der KBW wie überhaupt in deren gesamtem Netzwerk ist besonders irritierend, weil er sich seinerseits intensiv und ausdauernd darum bemüht hat, mit der Forschergruppe um Warburg in Kontakt zu treten, und seine Wertschätzung für Aby Warburg und dessen Bibliothek mehrfach in seinen Veröffentlichungen zum Ausdruck brachte. Die latente Wahlverwandtschaft der beiden herausragenden Kulturwissenschaftler aber konnte nicht manifest werden, weil ihre Formulierung einseitig blieb und eine Resonanz von der anderen Seite ausblieb.
Erich Rothackers Vortrag von 1927 nimmt gegenüber den anderen Vorträgen in der KBW eine Sonderstellung ein: zum einen, weil es ein privatissime, also ein nicht öffentlicher, nur vor einem ausgewählten Publikum gehaltener und von vornherein nicht zum Druck geplanter Vortrag war; zum anderen, weil an diesem Tag mehrere Vorträge gehalten wurden, die offenbar in einem thematischen Zusammenhang standen. Aus dem Tagebuch der KBW geht hervor, dass Warburg um diese Zeit die Form der regulären Vorträge und deren Publikation als erschöpft ansah und mit neuen Formen experimentieren wollte. Vielleicht zeigt sich in der konstellativen Anordnung verschiedener Vorträge an einem Tag ein solches experimentelles Herangehen. Deswegen werde ich mich in meinen Ausführungen nicht allein auf Rothackers Vortrag, sondern auf den gesamten Vortragstag, den 16. Juli 1927, und die beiden anderen Vorträge dieses Tages beziehen.
Edgar Winds Vortrag vom 11. Juli 1931 : 'Abschiedsvorstellung' der Bibliothek Warburg in Hamburg
(2023)
Die Debatte über die Bedeutung des Humanismus und des 'Nachlebens der Antike' für die europäische Tradition sollte aufgrund ihrer geradezu brisanten Aktualität im Jahr 1934 im Zentrum einer programmatischen Schrift stehen, die in einer deutschen und einer englischen Version publiziert wurde: Edgar Winds Einleitung zur "Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Nachleben der Antike". [...] Über einen erstarrten Begriff des "Humanismus" und über eine rein normative Auffassung der Antike hinaus plädiert Wind in der Einleitung zur "Bibliographie zum Nachleben der Antike" für eine unumgängliche Auseinandersetzung mit dieser, da wir der Antike "geschichtlich verhaftet" sind. Auch wenn die unter Zeitdruck fertiggestellte englische Version seiner programmatischen Einleitung stark verkürzt und politisch abgeschwächt wurde, lässt sich auch dort dieses dem Forschungsprogramm der Bibliothek Warburg zugrunde liegende Engagement spüren: "To study the survival of the classics is not only to view the European tradition, but also to participate, however modestly, in the shaping of it." In meinem Beitrag möchte ich aufzeigen, dass Wind seine Überlegungen zu diesem Thema anhand eines Fallbeispiels aus dem 18. Jahrhundert und in Anlehnung an Warburgs Methode und Sprachgebrauch vor der Emigration eigenständig - und teilweise in bewusster Abgrenzung zu anderen Mitgliedern des Warburg-Kreises - entwickelt hatte.
Von antiklassisch zu antimanieristisch : Walter Friedländers Neubewertung von Epochenbegriffen
(2023)
Ab 1921 bekleidete Friedländer eine außerordentliche Professur in Freiburg und arbeitete in dieser Zeit seine Vorstellungen über die Modifikation und Reinterpretation kanonisch gewordener Epochenbegriffe aus. In seiner Antrittsvorlesung widmete er sich als einer der Ersten der manieristischen Periode der italienischen Malerei. Sein Aufsatz "Die Entstehung des antiklassischen Stiles in der italienischen Malerei um 1520", der aus seinem Habilitationsvortrag hervorgegangen war, aber erst 1925 erschien, darf als Gründungsdokument einer Rehabilitierung des Manierismus gelten. Für Friedländers späteren Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Curriculum 1928 /29 ist dieser Aufsatz von großer Bedeutung, und deshalb muss auf seinen Versuch der Neubewertung dieser künstlerischen Strömung kurz eingegangen werden. 'Manierismus' wurde als Epochenbegriff im 19. Jahrhundert von Jacob Burckhardt eingeführt und sowohl von ihm wie auch von seinen Nachfolgern weitestgehend pejorativ verwendet. [...] Bis heute ist der 'Manierismus' als Stil- und Epochenbegriff ein polarisierendes Streitthema in der Kunstgeschichte geblieben: Der Auffassung, der Manierismus sei eine konsequente Weiterentwicklung oder Übersteigerung der Renaissance, die schließlich im Barock resultiere, steht eine andere Position gegenüber, zu deren Lesart auch Friedländers gehört. Sie erkennt den Manierismus als eine eigene Stilepoche an, die durch einen starken Bruch mit der Renaissance im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eingeläutet worden sei. [...] Um den negativ konnotierten Terminus des Manierismus mitsamt seiner ablehnenden Valenz zu umgehen und andererseits einen "neuen Stilwillen" zu betonen, wählt Friedländer den Begriff "antiklassisch". [...] Vier Jahre nach Erscheinen seines Aufsatzes zum Manierismus widmete sich Friedländer aus Anlass seines Vortrags an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg der Ablösung des antiklassischen Stils. Für die erneute Gegenbewegung der Kunst um 1590, die andere vor ihm unter den Epochenbegriff des Barock subsumiert hatten, schlägt er die Bezeichnung des antimanieristischen Stils vor. [...] Friedländer war weniger daran interessiert, sich als Begriffspräger in die Kunstgeschichte einzuschreiben, als vielmehr daran, homogenisierende Epochenbegriffe kritisch ins Visier zu nehmen. Eine Zusammenfassung unter einen "Generalnenner, etwa wie Barockzeitalter" lehnte er ebenso ab wie andere "ziemlich willkürlich gesetzte und definierte Termini" wie Gotik, Renaissance, Klassizismus etc. Friedländer plädierte auch in weiteren Abhandlungen für mehr Differenzierung und für eine Betrachtungsweise, die nicht in einem monolithischen Stildenken aufgeht, sondern eine Überlagerung der Generationen und ein Nebeneinander disparater Haltungen und Schulen berücksichtigt. Er hat dabei immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die etablierten Epochenbezeichnungen der Kunstgeschichte oft einem Begriffsarsenal der Herabwürdigung früherer Epochen entsprang. [...] Was konnte Friedländer mit seinem Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" zum Erreichen der Ziele der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg beitragen? Welche methodischen Überschneidungen konnten sich möglicherweise ergeben, auch wenn theoretische und methodische Grundsatzdebatten so wenig die Sache von Friedländer wie von Warburg waren?
Franz Dornseiff ist heute kaum bekannt. Wenn überhaupt, dann kennen Nichtgräzisten sein Buch "Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen", das bedeutendste, von Thomas Mann, Peter Hacks u. a. hochgelobte und viel genutzte onomasiologische Wörterbuch der deutschen Sprache, das gegenwärtig in 8., erweiterter Auflage und auch digital vorliegt. Wenig deutet in seinem gedruckten Werk darauf hin, dass Dornseiff mit Aby Warburg und der KBW zu tun hatte. Warburg-Zitate sucht man vergeblich, und auch der Vortrag von 1924 über "Das Beispiel" erscheint zunächst merkwürdig erratisch. Immerhin wurde in dem Sammelband "Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen" Dornseiffs Vortrag 2007 erneut, aber kommentarlos abgedruckt. In der ausführlichen biographischen Darstellung durch seinen Leipziger Schüler Jürgen Werner fehlt ein Warburg-Bezug Dornseiffs, bis auf einen Hinweis auf die Vorträge der KBW, völlig. Dieser Ausgangsbefund hat sich im Laufe meiner Recherchen und Lektüren geradezu ins Gegenteil verkehrt: Dornseiffs Werk, so würde ich jetzt sagen, ist eng am Forschungsprofil von Warburg und der KBW angelehnt, viele seiner Themen lassen sich auf diesen Diskussionskontext beziehen. Im Nachlass von Dornseiff finden sich nicht nur sieben ungedruckte, zum Teil ausführliche Briefe sowie acht Postkarten Warburgs an Dornseiff, sondern auch die Briefwechsel mit Fritz Saxl und Gertrud Bing, den beiden wohl wichtigsten Organisatoren der KBW.
Alfred Dorens Vortrag in der Bibliothek Warburg, gehalten in der Reihe von 1924 /25 und publiziert 1927, stand unter der von vornherein zwei Typen utopischen Denkens differenzierenden Überschrift "Wunschräume und Wunschzeiten". Doren durchmisst hier, beginnend in der Antike, das weite Feld vom Gegebenen abweichender Erlösungs- bzw. Veränderungshoffnungen. Die Renaissance ist die Epoche eines Übergangs zu stärker säkular verfassten Utopien, und dieser wird für Doren insbesondere durch den Utopia-Dialog von Thomas Morus markiert, der ihm eine beispielhaft maßvolle Position gegenüber den fortdauernden Herausforderungen irrationaler, chiliastischer oder apokalyptischer Visionen markiert. Fluchtpunkt des Gedankenganges ist die Gegenwart der frühen Weimarer Republik, selbst eine Zeit der Übergänge und so vielfältiger wie widersprüchlicher Projektionen neuer Weltentwürfe.
Am 8. März 1924 trägt Ernst Hoffmann (1880-1952), Altphilologe und Philosophiehistoriker aus Heidelberg, in der Bibliothek Warburg zum Thema "Platonismus und Mittelalter" vor. Somit tritt Hoffmann, der über Aristoteles' Physik bei Hermann Diels promovierte und mehrere Arbeiten zu Plato vorgelegt hat, in die Reihe der Philologen ein, die - nach den Kunsthistorikern, aber vor den Religionswissenschaftlern - zu den wichtigsten Gruppen der Vortragenden in der KBW gehören.
Als "Mittelpunkt und Leitstern" der von ihm gegründeten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek hat Aby Warburg die "Frage nach dem Einfluss der Antike auf die späteren Kulturepochen" bezeichnet. Es mag daher nicht verwundern, dass unter den Wissenschaftlern, die in den Jahren von 1921 bis 1931 für einen Vortrag nach Hamburg eingeladen worden sind, auch zahlreiche Klassische Philologen waren. Der auch heute noch bedeutendste und bekannteste Philologe, der eine Einladung nach Hamburg angenommen hat, ist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Am 26. April 1924 hat Wilamowitz in der Bibliothek Warburg einen Vortrag mit dem schlichten Titel "Zeus" gehalten. [...] Wilamowitz' Beziehung zur Bibliothek Warburg ist in der Wilamowitz-Forschung bislang kaum beachtet worden. Dabei ist Wilamowitz' Vortrag schon deshalb von besonderem Interesse, weil er eine Vorstudie zu seinem letzten großen, unvollendet gebliebenen Werk "Der Glaube der Hellenen" bildet. [...] In Anbetracht des von Wilamowitz gewählten Themas erscheint es besonders reizvoll, der Frage nachzugehen, ob, und wenn ja, wie sein Vortrag Bezug nimmt auf die kulturwissenschaftliche Methode und die Forschungsfragen der Bibliothek Warburg. Im Folgenden werde ich zunächst auf Wilamowitz' akademische Karriere, sein Verständnis der Klassischen Philologie und seine Ansichten zur griechischen Religion eingehen; anschließend werde ich den Vortrag im Hinblick auf die Beziehung zur KBW und zu Warburgs eigener Forschung diskutieren. Für Davide Stimilli ist Wilamowitz' Vortrag ein "verpasster Austausch". Es zeigt sich aber, dass dies nur äußerlich zutrifft; inhaltlich und methodisch erweist er sich als kritisch-konstruktiver Beitrag zum kulturwissenschaftlichen Programm der Bibliothek.
Robert Eisler (1882-1949) hatte sich bereits des Öfteren und vorwiegend in englischer Sprache zu Orpheus zu Wort gemeldet. Seit dem Dritten Internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Oxford 1908 trat er regelmäßig in England auf. Schließlich war es Eislers Buch "Orpheus - The Fisher" (1921), das den Anlass für eine Einladung an die KBW gab. Fritz Saxl (1890-1948) war durch das Buch auf ihn aufmerksam geworden, weil auch er in seinen Arbeiten Kunst- und Religionsgeschichte zusammenbringen wollte. [...] Eisler lebte in Metropolen wie Wien und Paris, aber auch lange Zeit in der Provinz - etwa in Feldafing am Starnberger See in Bayern oder in Unterach am Attersee in Oberösterreich. Er provozierte heftige Debatten, weil er die Dinge unorthodox anfasste, und das nicht nur beim akademischen Establishment, dem er nie angehörte, sondern auch allgemein seinem Lesepublikum gegenüber, dessen Selbstgewissheiten er gerne irritierte.
Historiker an der KBW : Hans Liebeschütz, Percy Ernst Schramm, Richard Salomon und Karl Brandi
(2023)
Für die Geschichtswissenschaft, so sind die Historiker-Vorträge an der KBW aus heutiger disziplinärer Sicht zu bilanzieren, spielte Warburgs Verständnis von Kulturwissenschaft weder im Zuge der Warburg-Renaissance seit den 1970er Jahren oder des 'iconic' turn der 1990er Jahre eine so große Rolle, dass es das Fach maßgeblich beeinflusst hätte. Es waren die Forschungsergebnisse der eng mit der KBW verbundenen Wissenschaftler Schramm, Liebeschütz oder Salomon, die für die Mittelalter- und Renaissanceforschung relevant blieben, sie veränderten aber nicht das Selbstverständnis der Disziplin. Mit der weit stärkeren Warburg-Rezeption in den Kunst- und Literaturwissenschaften lässt sich das Echo unter Historikerinnen und Historikern nicht vergleichen.
Richard Reitzenstein ist neben dem Philosophen Ernst Cassirer der Forscher, der den größten Einzelanteil an den Publikationen der Bibliothek Warburg hat. Wie erklärt sich diese mehrjährige enge Zusammenarbeit? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen Reitzensteins Vorträgen, dem Forschungsziel der KBW und den kunsthistorischen Studien von Aby Warburg und Fritz Saxl? Wie verhält sich insbesondere Reitzensteins Fokussierung auf die altiranische Religion als religionsgeschichtliche Einflusssphäre zu dem ausdrücklich auf die Antike bezogenen rezeptionsgeschichtlichen Forschungsinteresse der KBW? Wie haben die Beteiligten selbst ihre Zusammenarbeit gesehen? Um die Beziehung von Reitzenstein und der Bibliothek Warburg wissenschaftsgeschichtlich näher zu bestimmen, werfe ich zunächst einen Blick auf Reitzensteins wissenschaftliche Karriere, die sich bereits zum Zeitpunkt seines ersten Vortrags über fast 40 Jahre erstreckte. Anschließend wende ich mich den fünf Vorträgen zu und arbeite verschiedene Punkte heraus, die sich auf das Projekt der Bibliothek Warburg beziehen. Außerdem berücksichtige ich die Korrespondenz zwischen Reitzenstein und der KBW anhand der im Warburg Institute Archive in London aufbewahrten Briefe und Postkarten. Zum Abschluss sollen die einzelnen Aspekte dann zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.
Gertrud Bing : Zentralfigur in Aufbau und Netzwerk der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg
(2023)
Warburg, Saxl, Bing - das ist die Trias der KBW und die Urzelle der 'living Warburg tradition'. Wie sehr das Unternehmen ein kollektives war und in anderer Form weder hätte entstehen noch funktionieren können, wird immer noch weitgehend übersehen. Als einer der Ersten erkannte Arnaldo Momigliano diesen Zusammenhang, wie seinem Nachruf auf Bing von 1964 zu entnehmen ist. Die KBW war zu einem Netzwerk der Produktion und Speicherung von Wissen geworden, das Warburgs letztes Vorhaben, der "Bilderatlas Mnemosyne", manifestierte. Er ist zwar ein Fragment geblieben, stellt aber eine neue Methode bildwissenschaftlicher Forschung dar. Ohne Saxl und Bing, die angestellten Mitarbeiter*innen, wäre daraus - wie auch aus vielen anderen Unternehmungen Warburgs - nichts geworden. In dieser Trias ist Bing die bisher von allen am wenigsten Bekannte und am stärksten Unterschätzte.
Das Problem der Bibliothek Warburg ist die Frage nach Ausbreitung und Wesen des Einflusses der Antike auf die nachantiken Kulturen. Ich möchte vom Persönlichen ausgehen und zu zeigen versuchen, wie Warburg zur Stellung seines Problems kam, welche Wege er zu dessen Bearbeitung und Lösung selbst einschlägt und anderen gezeigt hat.
Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) wird seit vielen Jahren intensiv erforscht, das Werk Aby Warburgs in einer Studienausgabe herausgegeben. Das Interesse an seiner Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts reißt nicht ab. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang Studien zu den an der KBW gehaltenen Vorträgen fehlten. Die von Fritz Saxl 1921 initiierten Abendvorträge spiegeln das intellektuelle Netzwerk der KBW und ihren wissenschaftlichen Anspruch wider und wurden bis 1931 in einer eigenen Reihe publiziert. Eingeladen waren wichtige Vertreter ihrer Fächer, die dennoch heute außerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen oft in Vergessenheit geraten sind. In diesem Band werden die Vortragenden daher vorgestellt, bevor die Aufsätze sich auf das an der KBW referierte Thema konzentrieren. Gemeinsamer Bezugspunkt ist der erste in der Reihe der Vorträge, mit dem Saxl der Zuhörerschaft Warburgs Forschungsanliegen und -ansätze vorgestellt hatte. Wie nah ist der jeweilige Vortrag diesem Programm, wo setzt er sich davon ab, und welche der gedruckten Vorträge können als eine Erweiterung und Fortführung des Warburg'schen Ansatzes angesehen werden?
Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) wird seit vielen Jahren intensiv erforscht, das Werk Aby Warburgs in einer Studienausgabe herausgegeben. Das Interesse an seiner Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts reißt nicht ab. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang Studien zu den an der KBW gehaltenen Vorträgen fehlten. Die von Fritz Saxl 1921 initiierten Abendvorträge spiegeln das intellektuelle Netzwerk der KBW und ihren wissenschaftlichen Anspruch wider und wurden bis 1931 in einer eigenen Reihe publiziert. Eingeladen waren wichtige Vertreter ihrer Fächer, die dennoch heute außerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen oft in Vergessenheit geraten sind. In diesem Band werden die Vortragenden daher vorgestellt, bevor die Aufsätze sich auf das an der KBW referierte Thema konzentrieren. Gemeinsamer Bezugspunkt ist der erste in der Reihe der Vorträge, mit dem Saxl der Zuhörerschaft Warburgs Forschungsanliegen und -ansätze vorgestellt hatte. Wie nah ist der jeweilige Vortrag diesem Programm, wo setzt er sich davon ab, und welche der gedruckten Vorträge können als eine Erweiterung und Fortführung des Warburg'schen Ansatzes angesehen werden?
Märzgefallene : Anmerkungen zum publizistischen Gebrauch einer politischen Bezeichnung 1848–1898
(2023)
Das Wort 'Märzgefallene' ist eine Bezeichnung, die in der wissenschaftlichen wie populären Literatur vor allem über die Geschichte der Berliner Märzrevolution von 1848 auftaucht. Die vorliegende Analyse untersucht die Verwendung der Bezeichnung in der Tagespresse in den 50 Jahren nach der Revolution von 1848/49 bis zum 50. Jubiläum im Jahr 1898. [...] Die Analyse erfolgt in temporaler, quantitativer und qualitativer Hinsicht. Untersucht werden das erste Auftreten, die Häufigkeiten im Wandel der Jahrzehnte, Synonyme des Wortes sowie seine metaphorische Verwendung. Dadurch werden implizit auch eine Geschichte der Rezeption der Revolution von 1848/49 skizziert und die unterschiedlichen semantischen Varianten uneigentlichen Sprechens der Bezeichnung 'Märzgefallene' aufgezeigt.
The essay will focus on three of the "many faces of irreversibility", sketching a history of irreversibility in 20th-century Russian thought: The abstract irreversibility of time in physics, the 'embodied' irreversibility of biological evolution and, finally, the irreversibility of cultural processes. The first part will trace the history of irreversibility in 19th-century physics and biology. The second part will discuss Vladimir Vernadsky's theory of biological time as an attempt to synthesize physical and biological irreversible processes ('neobratimye protsessy') as phenomena of asymmetry in space-time. The third part will look at the migration of scientific ideas of irreversibility into the theory of culture, i.e., Juri Lotman's semiotic theory of irreversibility as unpredictable and unrepeatable processes of culture. In this three-step sketch, the history of irreversibility will be outlined as one of spatialization (from an abstract law to the image of 'time's arrow') and of specialization (from the law of entropy to the case of the generation of meaning).
This article follows the conceptual history of regulation in the Russian and Soviet context from the late 19th to mid-20th century and emphasizes its ecological dimension. Considering that regulation is a fundamentally interdisciplinary concept applied in biology, economics, law, or political science, such a history cannot strictly limit itself to the conceptual use of regulation in ecological theory. Here, ecology is rather generally understood as a scientific knowledge of nature that is being formed in various sciences throughout the 19th and 20th century by reintegrating knowledge generated in such different disciplines as natural history, biology, medicine, physics, or physiology. This paper exemplarily traces the constitutional process of ecology as a science with regard to the concept of regulation by acknowledging the transdisciplinary and sometimes metaphorical use of the concept and its oscillation between the organic and the social, the natural and the artificial, the mechanic and the dynamic, the intrinsic and the extrinsic.
Metabolism has long served as a broad organizing concept in Russian and Soviet culture for the exchange of material and energy between organisms and their environment. The Russian term 'obmen veshchestv', literally meaning "exchange of substances", semantically ranges beyond the Latinate 'metabolizm' (metabolism) and provides a framework for reflecting on bodies and material objects as open systems engaged in a constant process of transformation. 'Obmen veshchestv' appears in public discourse in mid-19th century Russia as a calque from the German term 'Stoffwechsel' (or 'Wechsel der Materie'). Its usage in Russia reflects the enduring influence of German science. In this entry, I will explore the development and expansion of this concept of material and energy exchange between organisms and their environment in Russia and the Soviet Union. In the course of a century, metabolism migrated from discussions of plant nutrition into physiology, thermodynamics, and ultimately into the Soviet practice of state economic planning. This entry will therefore pay particular attention to the early Soviet period when existing debates on metabolism took on new urgency as tools for praxis on every scale, from the body of the individual worker to humanity's future collective management of planetary material and energy flows.
In search for an ecological concept defining a "whole complex of organisms inhabiting a given region" with more methodological value than 'complex organism' or 'biome' and 'biotic community', the British phytocenologist Arthur Tansley introduced the term 'ecosystem' in 1935. [...] Independently of each other, other scientists from different countries also recognized the interconnectedness of all phenomena on the Earth's surface, resulting in the parallel coining of various notions. The Russian Botanist Vladmir Sukachev (1880–1967) introduced the term 'biogeotsenoz' ('biogeocoenosis' or 'biogeocoenose'), which was broadly used in the Soviet Union and throughout Eastern Europe. It was introduced into Russian in two stages: Following the forestologist Georgii Morozov (1867–1920), who systematically implemented Karl Möbius's term 'biocoenosis', Sukachev first suggested the term 'geotsenoz' ('geocoenosis') in 1942. It was meant to link the earth's surface with its inhabitants and abiotic environmental factors in a dynamic unit. However, in 1944, he changed geocoenosis into biogeocoenosis (BGC), implementing an integral connection with Vladimir Vernadsky's (1863–1945) concepts of the biosphere and the biogeochemical cycles. According to Sukachev, BGC came close to Tansley's notion of the ecosystem which also brings together a biocoenosis with its habitat (the ecotope). However, both terms were not used synonymously: as a more general term, ecosystem was not precise enough to classify the unit of nature itself, whereas the BGC, in accordance with Vernadsky's concept of 'living matter', did not include all abiogenic abiotic factors of the ecosystem. Also, the notions of 'facies' and 'landshaft', which were used by physical geographers, were discussed as similar conceptualization.
Vladimir Vernadsky's concept of living matter is central to his biogeochemistry, the science he founded. For several reasons, his original understanding of living matter is one of the most complex notions in the history of the life sciences. First, biogeochemistry is by definition an interdisciplinary enterprise that embraces biology, including evolutionary theory, geology, and chemistry, and combines them into a unique research program. Second, if understood in the original sense as used by Vernadsky, living matter is a concept built into idiosyncratic metaphysics constructed around the so-called principle of life's eternity. Third, the concept of living matter reflects the specificity of Vernadsky's sophisticated philosophy of science as he insisted that 'scientific thought' is a planetary phenomenon as well as a geological force. In our contribution, we will introduce Vernadsky's concept of living matter in its historical context. Accordingly, we will also give some chronology of Vernadsky's work related to the growth of his biosphere concept highlighting the 'Ukrainian' period as it is in this period that he intensively elaborated on the notion of living matter. This will be followed by his theory of living matter as it was formulated in his major works of the later period. We are going to locate the notion of living matter within Vernadsky's theoretical system and demonstrate that he regarded his theory of the living as an evolutionary theory complementary to that of Charles Darwin from the very beginning. Additionally, we will briefly present Vladimir Beklemishev's concept of 'geomerida' which he developed at approximately the same time as Vernadsky was elaborating on his 'living matter' to highlight the specificity of the latter's methodology.
The Soviet Union is remembered as a lab for socioeconomic changes on larges scales and environmental catastrophes: the Chernobyl disaster, the Aral Sea tragedy, and ecocide. However, little is known about the groundbreaking concepts and theories of Russian and early Soviet science which laid the foundation for systemic ecological thinking, environmental consciousness for nature conservation, and corresponding initiatives of the revolutionary years after 1917. The isolation of Eastern Europe that came as a result of Stalinism and the Cold War led to Soviet science developing its own scientific approaches and terminology during the 20th century. This does not only include ideological constructions and practices such as the pseudo-scientific Lysenkoism which outlawed genetics and led to disastrous effects on agriculture, the people, and the scientific community. Soviet science has also managed to continue and unfold the new concepts and interdisciplinary dynamics of the ecological turn on the threshold of the 20th century, a development which, at that time, was only sporadically noted in the West. In the context of its thematic focus on Eastern European ecological terminology, this issue discusses a selection of these concepts.
Editorial
(2023)
Das Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte hat in seiner zwölfjährigen Geschichte immer wieder Begriffe an der Schnittstelle von Biologie sowie Gesellschaft und Kultur, insbesondere aber solche des ökologischen Diskurses thematisiert. [...] Das vorliegende, von der Slawistin Tatjana Petzer (Universität Graz) als Gastherausgeberin gestaltete Schwerpunktthema "Ecology in Eastern European Terminology" lässt sich als Fortsetzung dieser Thematiken verstehen. Die Beiträge verdeutlichen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler osteuropäischer Länder und der Sowjetunion, die oftmals zunächst im engen Kontakt mit westeuropäischen Wissenschaftsentwicklungen standen, aufgrund der späteren, vor allem im Kalten Krieg forcierten Abkoppelung eigenständige Terminologien und Konzepte entwickelten, deren Zusammenhang mit westlichen Ideen dadurch verdeckt waren, und doch mitunter auch wieder auf sie zurückwirkten. Viele der behandelten interdisziplinären Begriffe (Biogeochemie, Biogeozönose, Metabolismus, Regulation oder Geocryologie) thematisieren den heute so intensiv diskutierten Zusammenhang zwischen Ökologie und Geologie.
Das Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte hat in seiner zwölfjährigen Geschichte immer wieder Begriffe an der Schnittstelle von Biologie sowie Gesellschaft und Kultur, insbesondere aber solche des ökologischen Diskurses thematisiert. [...] Das vorliegende, von der Slawistin Tatjana Petzer (Universität Graz) als Gastherausgeberin gestaltete Schwerpunktthema "Ecology in Eastern European Terminology" lässt sich als Fortsetzung dieser Thematiken verstehen. Die Beiträge verdeutlichen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler osteuropäischer Länder und der Sowjetunion, die oftmals zunächst im engen Kontakt mit westeuropäischen Wissenschaftsentwicklungen standen, aufgrund der späteren, vor allem im Kalten Krieg forcierten Abkoppelung eigenständige Terminologien und Konzepte entwickelten, deren Zusammenhang mit westlichen Ideen dadurch verdeckt waren, und doch mitunter auch wieder auf sie zurückwirkten. Viele der behandelten interdisziplinären Begriffe (Biogeochemie, Biogeozönose, Metabolismus, Regulation oder Geocryologie) thematisieren den heute so intensiv diskutierten Zusammenhang zwischen Ökologie und Geologie.
Spiele und ihre Räume
(2023)
Beim Spielen kommt es offenbar aufs Maß an und auf die Umstände. Nicht oder nur schlecht spielen zu können gilt als Schwäche; umgekehrt erscheint es als riskant oder gefährlich, zu viel zu spielen, sich in Spielereien zu verlieren oder sogar ein falsches Spiel zu treiben. In der positiven Vorstellung des maßvollen, regelbewussten Spielens wirken bis heute Grundzüge anthropologischer Selbstbeschreibungen des 18. Jahrhunderts nach. In dieser Zeit rückte der Spielbegriff in den Fokus neuer ästhetischer Theorien, bevor er sich im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zu Ernst und Arbeit weiterentwickelte. Das Spiel wurde zum Aushandlungsort bürgerlichen Selbstverständnisses und gesellschaftlicher Regeln, zum Gegenstand von Theorie und Literatur.
Hans Jonas im Radiointerview
(2023)
Am 10. Mai 2023 jährt sich der Geburtstag des Philosophen Hans Jonas zum 120. Mal, der 5. Februar war sein 30. Todestag. Dies soll Anlass sein, auf ein Interview mit ihm hinzuweisen, das 1988 erstmals im Radio ausgestrahlt wurde und seit kurzem wieder zugänglich ist. Geführt wurde das Gespräch von dem Journalisten Harald von Troschke (1924–2009), der für die Aufzeichnung einen Besuch des aus den USA angereisten Hans Jonas' in Heidelberg nutzte.