Komparatistik : Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ; 2016
Refine
Year of publication
- 2017 (31)
Has Fulltext
- yes (31)
Is part of the Bibliography
- no (31)
Keywords
- Rezension (19)
- Vergleichende Literaturwissenschaft (6)
- Apokryphen (5)
- Kanon (3)
- Literatur (3)
- Lyrik (2)
- Abhijñānaśākuntala (1)
- Adorno, Theodor W. (1)
- Afroamerikaner (1)
- Ambiguität (1)
Die Tagung 'Erfüllte Körper' brachte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zahlreichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zusammen. Sie wurde mit dem Einstiegsvortrag von Simone Sauer-Kretschmer (Komparatistik, Bochum) eröffnet, in dem diese kurz die Vielfalt an Motiven, Stoffen und Themen umriss, mit denen die Schwangerschaft – oder auch ihr Ausbleiben – in der Literatur repräsentiert ist.
Die deutschsprachige ästhetische und kulturtheoretisch-anthropologische Debatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts thematisiert in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder den Umgang mit Fremdheitserfahrung. Sie umfasst in diesem Zusammenhang unterschiedlichste theoretische Modelle der prekären Vermittlung zwischen gegensätzlichen Polen wie besonderer Einzelerfahrung und allgemeinem Erfahrungsganzem, zwischen Einzelphänomen und Kontext, zwischen Fragment und Totalität oder zwischen Singularität und Universalität. Entsprechende Fragestellungen rücken in der Zeit der Spätaufklärung vor allem mit Blick auf die Vermittlung (inter)kultureller Fremdheit in den Fokus des theoretischen und literarischen Interesses: Dies gilt vor allem für die Kulturpraxis inner- und außereuropäischer Reisen, die im Rahmen der zeitgenössischen 'Reisemode' zu Debatten über die Möglichkeit kosmopolitischen Weltbürgertums, über Modi interkultureller Begegnung oder die Legitimität kolonialer Expansion ebenso wie zur Entwicklung einer konkreten ethnopoetischen Reise- und Reisedarstellungspoetik Anlass gibt. Dieser philosophisch-theoretischen und literarischen Konjunktur von Reisediskursen korrespondieren gleichzeitig unterschiedliche Entwürfe einer transnationalen vergleichenden Kulturgeschichte, die immer wieder in kulturelle Hierarchisierungsmodelle münden, in denen europäischen Kulturen erwartungsgemäß eine wenn nicht qualitative oder normative, so doch immerhin strategische Überlegenheit zuerkannt wird. Hiermit verbinden sich drittens frühe Ansätze zur Theorie und Praxis 'weltliterarischer' Bildung sowie Appelle für eine grenzüberschreitende Beschäftigung mit literarischen und kulturellen Artefakten als Vorläufermodelle komparatistischer Literatur- und Kulturwissenschaft.
Es ist nicht immer lohnend, mit einer Replik auf Rezensionen zu reagieren, weil Rezensenten in den meisten Fällen etwas übersehen, missverstehen oder auslassen, weil sie eben nicht alles kommentieren können. Im Falle von Eckhard Lobsien drängt sich eine Replik geradezu auf, weil er nicht einfach etwas Wichtiges übersehen, sondern alles Wesentliche – d. h. alle Kernargumente – ausgelassen hat. So ist es wohl zu erklären, dass ich in seiner Rezension mein Buch 'Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne' (2012, nicht 2013) überhaupt nicht erkannt habe. Worum geht es in diesem Buch?
Nachruf auf John Neubauer
(2017)
Am 5. Oktober 2015 ist in Amsterdam der Germanist und Komparatist John Neubauer verstorben, an einer erst kurz zuvor diagnostizierten und tapfer ertragenen schweren Krankheit, im Kreise seiner Angehörigen und im Alter von nicht ganz zweiundachtzig Jahren. Unser Fach verliert in ihm einen hervorragenden Vertreter, und alle, die ihn kannten, verlieren einen hochsympathischen und inspirierenden Mitmenschen.
Wie keine andere kulturelle Handlung spiegelt das Tätowieren eine intentionale Ästhetisierung des menschlichen Körpers, zwischen individueller (und damit hoch-persönlicher) Schönheitsvorstellung auf der einen und öffentlicher (Selbst-)Inszenierung auf der anderen Seite schwankend. Die Haut wird dabei – quasi lebenslang beschrieben – zum Medium der Erinnerung. Zwar wurde bereits in der Antike 'tätowiert', der heutige Begriff sowie die 'Wiederentdeckung' dieser Praxis geht allerdings auf die Forschungs- und Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts zurück, in denen Europäer mit fremden Kulturen in Kontakt kamen, die solche Verfahren mit einem ästhetischen oder rituellen Hintergrund praktizierten. So übernahm James Cook in seinen Aufzeichnungen den samoanischen Begriff "tatau", etymologisch die Grundlage für "to tattoo" und das deutsche "tätowieren". Inzwischen gilt die Modifikation des eigenen Körpers durch eine Tätowierung längst nicht mehr als 'verrucht' und stellt ebenso auch keine Ausnahmeerscheinung mehr dar, was sich vor allem an der explosionsartig gestiegenen Zahl von Tattoo-Studios in der Bundesrepublik ablesen lässt – und so trägt in Deutschland heute (konservativ geschätzt) etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und 23 Prozent der 16- bis 29-Jährigen mindestens ein Tattoo auf der Haut. Aber längst nicht jede Tätowierung ist auch der Ausdruck des eigenen Schönheitsempfindens oder eine vom Träger intentional auf dem Körper eingeschriebene Botschaft. Denn bereits in der griechischen Antike wurde das Verfahren auch dazu benutzt, Sklaven zu markieren, Besitzverhältnisse und damit ihre Unfreiheit auf der Haut einzuritzen; diese entpersonalisierende Markierung setzt sich mit der Häftlingstätowierung in Gefängnissen und schließlich den nationalsozialistischen Konzentrationslagern fort, die vor allem in literarischen Texten des Shoah-Diskures aufgegriffen und verhandelt wird.
Kaum eine geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplin hat in Italien in solchem Ausmaß unter Selbstdarstellungs- und Rechtfertigungszwang gestanden und sich über so heftige Widerstände hinwegsetzen müssen wie die Komparatistik. Ein Leserbrief des Literaturwissenschaftlers Armando Gnisci, der in den 1980er- und 1990er-Jahren die Szene der italienischen Komparatistik wesentlich geprägt, aber nur marginal bis ins neue Jahrtausend mitbestimmen konnte, gibt einen konzis-kritischen – wenn auch leicht polemischen – Einblick in das, was seit dem letzten state of the art aus dem Jahre 1991 auf dem Gebiet der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Italien passiert ist. Entlang dieser Linie verlief nämlich die wichtigste Front im Streit zwischen den Nationalphilologen und den Komparatisten. Gniscis Schreiben mit dem programmatischen wie suggestiven Titel "Comparatisti e italianisti, le due tribù" [Komparatisten und Italianisten, die beiden Stämme] – erschienen am 21. März 2004 in der Kulturbeilage Domenica – ist ein Rundumschlag gegen die seinerzeit in Italien weitverbreitete Ansicht, die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft als "sub-category of Italian literature departments" zu betrachten.
Dem Apokryphen einen Themenschwerpunkt im Rahmen einer komparatistischen Zeitschrift zu widmen ist eine Entscheidung, die auf den ersten Blick erstaunen mag. Ist doch das Wort "apokryph" ein in der heutigen Alltagssprache wenig geläufiger Begriff, der, auf das Register der Theologie verweisend, speziellen Fragen und fachwissenschaftlichen Debatten der Religionsgeschichte vorbehalten zu sein scheint. Wenn wir gleichwohl Begriff und Phänomen des Apokryphen als Schwerpunktthema des Jahrbuchs 'Komparatistik' zur Diskussion stellen wollen, so deshalb, weil der damit angesprochene Sachverhalt von Prozessen der Auswahl, Marginalisierung und Ausgrenzung im Rahmen kultureller und textueller Überlieferung ein Problemfeld markiert, das im Bereich der Literaturgeschichte vielfältige Resonanzen und Parallelen findet und in systematischer Hinsicht über Verfahren und Mechanismen literarischer Traditionsbildung Aufschluss zu geben verspricht. Weit davon entfernt, nur ein spezialdiskursives Sonderphänomen zu sein, erweist sich das Apokryphe bei näherem Hinsehen als eine Figur, an der sich grundsätzliche Fragen der Formation von Text- und Wissensbeständen, der literarischen Autorität und Kanonbildung beobachten lassen. Apokryphe Texte, so ließe sich in einer vorläufigen, im Folgenden noch zu präzisierenden Beschreibung formulieren, sind Texte, die sich am Rande der großen Traditionen religiöser und kultureller Bewegungen situieren. Es sind Texte oder Textensembles, die es, wie sich im Rückblick bemerken lässt, nicht geschafft haben, in das Inventar jener Schriften aufgenommen zu werden, die als anerkannt, bewahrenswert oder wahr gelten. Als Einstieg bietet es sich an, zunächst von den Bedeutungsdimensionen des Ausdrucks apokryph auszugehen, die dieser im Kontext der religionsgeschichtlichen Tradition angenommen hat und der für das heute übliche Verständnis des Begriffs bestimmend ist. Der religiöse bzw. theologische Begriffsgebrauch greift auf das altgriechische Wort ἀπόκρυφος (apókryphos) zurück, um dieses vor allem in einer seiner beiden Bedeutungsschichten zum Einsatz zu bringen, nämlich als Bezeichnung eines Gegenstands bzw. Textes, der als 'unecht', 'zweifelhaft', 'nicht-authentisch' zu gelten habe. Der Begriff apokryph führt hier also eine Unterscheidung ein zwischen dem, was als gesichert, gültig und autorisiert anzusehen ist und dem, was solche Geltung zu besitzen nicht oder nur unter dem Vorbehalt des Zweifelhaften beanspruchen kann. Bei dem Begriffspaar gültig vs. apokryph haben wir es also mit einer Figur der Verknappung zu tun, die ein gegebenes Textensemble oder eine kulturelle Überlieferung einem mitunter radikalen Verfahren der Auswahl und Reduktion unterzieht.
Diskursive Praktiken, insbesondere Texte, bewegen sich in einem kulturellen Feld, das in raumtheoretischer Metaphorisierung als von der Trias Zentrum- Peripherie-Außenraum konstituiertes chronotopisches Feld bezeichnet werden kann, mindestens bi-, wahrscheinlich multidirektional und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zwischen seinen beiden Polen verlaufend. Der in den Theologien etablierte Begriff des 'Apokryphen' ist demgegenüber kaum zufällig schon in seiner Semantik statisch und vermag nur die Situierung einer Schrift oder einer Wissenstradition 'im Verborgenen', nicht hingegen ihre Bewegung in Richtung dieses Bereichs, zu thematisieren. Dahinter steht bekanntlich das Anliegen einer Strukturierung epistemischer Bestände mit dem Ziel der Kanonisierung und Gewinnung von Autorität in der (im weitesten Sinne) gesellschaftlichen Kommunikation. Tatsächlich bildet das Konzept von kanonischer und apokrypher Literatur, nimmt man die Kategorie verbotener, indizierter Bücher im Sinne eines diskursiven Außenraums hinzu, auch die oben genannte Trias ab. Denn als 'Apokryphen' lassen sich dann Texte bezeichnen, die nicht kanonisch geworden sind, obwohl ihre inhaltlichen Potentiale das nicht a priori ausgeschlossen hätten. Apokryphe Texte stehen demnach in der diskursiven Peripherie. Grundsätzlich haben sie die Chance, zu einem ferneren Zeitpunkt kanonisch zu werden, sie könnten aber auch zu einer Existenz im Verbotenen verdammt werden.
Die Hauptquelle für die romantische Wiederentdeckung der Renaissance ist zweifellos Vasaris 'Vite', welche im Cinquecento, in der gottesgesegneten 'aetas aurea' (durch die Werke des Trifoliums Raffael-Leonardo-Michelangelo verkörpert) die vollbrachte "Rinascita delle arti" erreicht sah. Das Wort "Rinascimento" wird von Vasari nie verwendet, dafür aber synonymische Wörter wie "Rinascita", "Resurrezione" und "Risorgimento". 1795 hatte aber der von den Romantikern so hoch geschätzte Revolutionsmann Condorcet in seiner "Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain" (von Friedrich Schlegel prompt enthusiastisch rezensiert) die Renaissance reartikuliert – als vorletzte 'huitième époque' in jener langen Progression, die in die Französische Revolution münden sollte. Der in den frühromantischen Werken latente Bezug zwischen Renaissance und Revolution war den Romantikern wohl präsent, sodass F. Schlegels berühmtes Athenäums-Fragment, nach welchem die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes 'Meister' die drei großen Tendenzen des Zeitalters darstellen, durch eine vierte integriert werden könnte, die auf die Wiederentdeckung der Renaissance als wiedergewonnene "aetas aurea" hinweist.
Der Begriff 'apokryph' taucht bei Johann Georg Hamann (1730-1788), dem 'Magus in Norden', seltener auf als man es vielleicht erwarten würde, jedenfalls so man Hamann noch immer nach dem gängigen Klischee für 'dunkel', einen 'Mystiker' oder einen 'Obskurantisten' oder gar für den Ursprung des modernen und spezifisch deutschen Irrationalismus und extremsten Feind der Aufklärung hält, gegenüber dessen "gewollter und künstlicher Dunkelheit", die er wie eine "Nebelwand um sich zog", sogar Hegels Phänomenologie des Geistes "eine wahre Ferienlektüre" sei. Ein schöpferischer Kopf also, "der manche tiefsinnigen Einfälle hatte, aber in welch geheimnisvolle Gewänder pflegte er sie zu verkleiden!" Entsprechend ist Hamanns Ruf: "Dunkelheit ist das traditionelle Prädicat, das jedem deutschen Primaner über ihn geläufig ist." Mit seiner Dunkelheit, so die unausgesprochene Annahme, möchte Hamann willentlich und wissentlich etwas verbergen, vielleicht nicht nur bei sich, sondern letztlich sogar das Licht der Aufklärung überhaupt; ein Umstand, der auf das Schönste zum griechischen apokryptein: 'verbergen, verdunkeln' (so die Übersetzung in Josef Nadlers Schlüssel zu Hamanns Werken) zu passen scheint. Entsprechend ist es, um eine weitere Bedeutung des Begriffes "apokryph" als des 'Gegen-Kanonischen' heranzuziehen, kaum verwunderlich, dass Texte Hamanns es nicht in den akademisch etablierten Kanon philosophischer Werke geschafft haben, ja sogar gegen entsprechende kanonische Texte (etwa die Metakritik über den Purismum der Vernunft gegen die Kritik der reinen Vernunft oder Golgatha und Scheblimini gegen Mendelssohns Jerusalem) gerichtet zu sein scheinen.