430 Germanische Sprachen; Deutsch
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Interphänomenalität
(2018)
'Interphänomenalität' ist ein neuartiges Kompositum aus zwei bekannten griechisch-lateinischen Termini - aus 'Phänomenon', in dem altgriechisch ein Etwas, eine Entität als "sich Zeigendes", als ein "Erscheinendes" aufgefasst ist, und aus dem Präfix 'Inter', das lateinisch das Verhältnis des "Zwischen", des "unter- und voreinander" von mindestens zwei Entitäten anspricht. Die Pointe der Begriffsfügung und ‑findung, seit 2009 im Umlauf, ist offensichtlich die Abwendung von der vertrauten Auffassung aller 'Phänomenologie' (Kant, Hegel, Husserl), dass die 'Phänomene' sich immer für uns, für unsere (sprich: menschliche) sinnliche Wahrnehmung zeigen, also als 'Phänomene' für ein Bewusstseinssubjekt "zur Erscheinung kommen". Der neue Kunstbegriff vollzieht die Abkehr von dieser klassischen Annahme im Subjekt-Objekt-Verhältnis hin zum eventuell aufschlussreichen Verhältnis, in dem die 'Phänomene' selbst als Phänomene voreinander bzw. untereinander sich zeigen - in einer Intersphäre, im Zwischenraum zwischen ihnen -, in einer quasi-kommunikativen Relation voreinander erscheinen, ungeachtet dessen, dass sie auch für ein menschliches Bewusstsein erscheinen können.
Faux Ami / Falscher Freund
(2018)
Neben den guten und echten gibt es auch falsche Freunde, die uns, sind wir einmal in ihre Falle getappt, für unterschiedliche Arten von Freundschaft sensibilisieren. In Korrelation zu Freund erzeugt das Attribut 'falsch' eine Spannung, die die Basis von Übereinstimmung selbst betrifft und daher zu Achtsamkeit und Vorsicht mahnt. Aufgrund seines impliziten Wissens um die Gefahren der Nähe ist der Ausdruck 'falscher Freund' von hoher Reichweite; insbesondere Linguisten, Lexikographen und Übersetzungswissenschaftler entwickeln ein lang anhaltendes Interesse am richtigen Umgang mit falschen Freunden. In der Lehnübersetzung aus dem Französischen 'faux amis' sind 'falsche Freunde' Teil der interlingualen Sprachwissenschaft und bezeichnen Wörter aus verschiedenen Sprachen, die ähnlich oder gleich klingen, aber eine unterschiedliche Bedeutung haben. Tatsächlich haben Sprachenlerner oder Übersetzer zunächst keinen Grund, der phonologisch und/oder morphologisch ähnlichen Wortstruktur zu misstrauen, die das Fremde durch den vermeintlichen Wiedererkennungseffekt neutralisiert.
Exoterisch / Esoterisch
(2018)
Goethe ist der Verfasser der einzigen historischen Untersuchung, die konsequent auf der Unterscheidung von 'exoterisch/esoterisch' beruht. Seine 1810 publizierte Schrift "Zur Farbenlehre" schließt mit einem "Historischen Teil", in dem "Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" zusammengetragen sind. Wie wenig sich die Literatur mit diesem Abschnitt beschäftigt hat, erweist sich bereits beim Aufschlagen des "Historischen Teils". Denn wer Auskunft über den Autor des lateinischen Eingangszitats begehrt, wird bitter enttäuscht. Darüber weiß die Sekundärliteratur schlicht und einfach nichts zu berichten. So heißt es einmütig: "Die Herkunft des Zitats ist nicht bekannt." Das lateinische Eingangszitat "schreit" also nach einer Recherche.
Synergie
(2018)
'Synergie', von griech. 'syn' ('mit', 'zusammen') und 'en-ergeia' ('Wirken'), beschreibt heute kooperative Effekte in der Natur, Wissenschaft und Gesellschaft, für die der aristotelische Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" gilt. Doch 'Synergie' ist nicht nur ein Wort der Gegenwart. Mitte des 19. Jahrhunderts wird 'Synergie' (Adj. 'synergetisch') als Fremdwort in der deutschen Sprache mit der Bedeutung "Mitwirkung, Hilfe" angeführt. Bereits früher in die Bildungssprache eingegangen ist der 'Synergismus' (Adj. 'synergistisch'), die "Lehre von der freien Mitwirkung der Menschen zu ihrer Seeligkeit". Beide Einträge verweisen zunächst auf die Philosophie und christliche Theologie der Antike.
Der georgischen Sprache fehlt es nicht an mehr oder weniger alltäglich gebrauchten deutschen Fremdwörtern. Den meisten haftet ihr Umweg durch das Russische an, den sie während der kaiserlichen und späteren sowjetischen Herrschaft über Georgien gemacht haben. [...] Allerdings stößt man in dem prägenden sowjetgeorgischen Fremdwörterbuch, das zwischen 1964 und 1989 dreimal aufgelegt wurde, gerade beim Eintrag 'schtraikbrecheri' auf eine durchaus seltsame Bestimmung: "schtraikbrecher-i (dt. 'Streikbrecher') - in kapitalistischen Ländern: eine Person, die während des Streiks arbeitet und den Streik stört." Die stillschweigende Voraussetzung, Streikbrecher existierten nur "in kapitalistischen Ländern", weil es in den sozialistischen keine Streiks gebe, wirft in ihrer Verlogenheit erst recht die Frage nach der Vor- und Nachgeschichte dieses Begriffs auf.
Welt, je schon übersetzt
(2018)
Zum Exportschlager, also zum Fremdwort in anderen Sprachen, wurde das Wort 'Welt' vor allem dank seiner Bedeutung VIII (in der bis XII reichenden Zählung des Artikels im "Deutschen Wörterbuch"), die Johannes Erben im einleitenden Teil des Artikels als "metaphorische anwendungen mannigfacher art" charakterisiert und so erläutert: "überall, wo der sprecher auf ein abgeschlossenes ganzes, auf universale fülle, welcher art auch immer, zielt, springt das wort welt als bezeichnung ein: für 'einen in sich geschlossenen bezirk verschiedener art, der in seiner eigenständigkeit und eigengesetzlichkeit gleichsam ein all im kleinen darstellt'". Gerade "metaphorische anwendungen" legen damit einen semantischen Kern frei, der sich auf verschiedenste räumliche Referenzbereiche beziehen kann (also etwa keineswegs, wie dies die heute vermutlich häufigste Verwendung insinuiert, mit "V. erdkreis" zu identifizieren ist). Dass die Bedeutung VIII zugleich diejenige ist, dank welcher aus einem Alltagswort ein philosophischer Begriff wird, bezeugt der entsprechende Artikel im "Historischen Wörterbuch der Philosophie".
Dialektik
(2018)
Was 'Dialektik' nun genau sei, darüber gibt es immer noch sehr verschiedene und auch einander ausschließende Auffassungen. Vor allem auch darüber, ob es eine Dialektik gebe oder geben könne, die sich noch besonders durch das Attribut 'materialistisch' empfehlen würde. Je näher wir hinsehen, desto mehr entschwindet uns der Begriff, der einmal so viele Gewissheiten trug. Vielleicht liegt das auch schon daran, dass sich im Begriff der Dialektik viele Bedeutungsdimensionen gleichsam sedimentiert haben; er trägt schwer an seiner Geschichte und kann sich gerade deshalb immer wieder von einseitigen Fixierungen zurückziehen.
Kunz
(2018)
Die Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift "Hinz&Kunzt" gehören auf Hamburgs Straßen wie Blechmusikanten in den Berliner Untergrund. [...] Die Verschmelzung von Kunz, dem austauschbaren Jedermann, und der Kunst als vielgestaltiger Vermittlerin von Freude und Leben, erzeugt durch das schlichte Anhängen eines Buchstabens, verweist auf mehr als ein phonetisches Wortspiel. Was aber macht die semantische Nähe dieser beiden Vokabeln aus? Aufschluss gibt womöglich ein drittes Wort, ein jiddisches Fremdwort, das, ganz egal, in welcher Sprache es gebraucht wird, unübersetzt bleibt und damit seine Fremdheit beibehält: 'kunz', genauer 'di kunz'. Herkommend vom deutschen "Kunst", bedeutet es keinesfalls "Kunst", sondern so viel wie "Trick", "Kunststück" oder "Einfallsreichtum" - etwas, was potenziell jeder hat oder kann.
Bei der exklusiven Alternative ist nur eines von beiden machbar. Diese Semantik, die nur eine von beiden Möglichkeiten zulässt, wird transparent in der lateinischen Ursprungsbedeutung 'alter' - der eine von beiden. Im Fremdwort 'alternieren' ist diese Bedeutung 'zwischen zwei abwechselnd' noch erkennbar, die im Prinzip allerdings zwei gleichwertige Lösungen impliziert. Die Wortprägung 'Alternative' - als Kompositum aus 'alter' ("der andere") und 'nativus' ("geboren, auf natürlichem Weg entstanden") - existiert im klassischen Latein noch nicht, sondern stellt eine relativ späte adjektivische Variante im Mittellateinischen dar und erscheint seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Texten als Adverb 'alternative', mit beginnendem 18. Jahrhundert wurde dann das auslautende '‑e' aufgegeben und adjektivischer Gebrauch möglich. Umgangssprachlich wird der Ausdruck zwar häufiger unpräzise in einem vageren Sinne verwendet und meint dann nicht nur genau zwei, sondern ganz unbestimmt mehrere Möglichkeiten ("es gibt doch viele Alternativen"), aber in der politischen Rhetorik der Gegenwartssprache dominiert auch im Sprachgebrauch jene logisch, linguistisch und etymologisch fundierte Bedeutung des Terminus. Wenn also der Begriff im politischen Kontext auftaucht, zeigt er - sprachwissenschaftlich gesagt - diese binäre Opposition, und wenn er hier personalisiert, eignet ihm auch diese antagonistische Zuspitzung und kompromisslose Polarisierung.
Apokalypse
(2018)
"Die Apokalypse" ist fester Bestandteil unserer Vorstellungswelt, wo sie landläufig für Katastrophen- und Untergangsszenarien aller Art steht oder schlicht für das "Ende der Welt". Als Bildungsgut, als kulturelles Kapital, gilt dagegen die Kenntnis, dass das griechische ἀποκάλυψις eigentlich "Offenbarung" bedeute. Genaugenommen bezeichnet es das Auf- (ἀπο) bzw. Hochheben eines Schleiers (καλύπτρα). Die Substantivierung des zugehörigen Verbs καλύπτειν, "verhüllen" ist κάλυψις. Die präziseste Übersetzung wäre also "Entschleierung" oder, wenn der abgeleitete abstrakte Sinn betont werden soll, "Enthüllung" - das lateinische 'revelatio'. [...] Seine biblisch-monotheistische Karriere beginnt das Wort in der Septuaginta, der ersten jüdischen Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, die auch für die Verfasser des Neuen Testaments der Standardtext wird.