830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Das Symposion »Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft« scheint mit Verspätung stattzufinden. Vermehrt werden Stimmen laut, die das Ende des Poststrukturalismus verkünden. Allenthalben läßt sich ein neuer Essentialismus vernehmen, der gegen die "flottierenden Signifikanten" ewig gestriger Poststrukturalisten das Recht auf "reale Gegenwart" geltend macht. Man fragt wieder nach dem "Sitz der Literatur im Leben" und nach der "Relevanz" der Literaturwissenschaft. In diesem Kontext sind auch das in den 80er Jahren neu erwachte Interesse an der Anthropologie und die Bemühungen um die disziplinäre Etablierung einer dezidiert "Literarischen Anthropologie" zu sehen. Doch gibt es kein Zurück hinter den im Zuge des poststrukturalistischen Perspektivenwechsels möglich gewordenen kritischen Blick auf bislang unhinterfragte Sinn- und Bedeutungseinheiten, vielmehr ist sein analytisches Potential in neue Gebiete der Literaturwissenschaft einzubringen.
Der Titel des vorliegenden Beitrags verbindet drei Leitbegriffe - einen Autornamen: Musil, die Bezeichnung einer religiösen Denk- und Erfahrungsrichtung: Mystik, und eine Epochenbezeichnung: Moderne. Die sich hinter diesen Leitwörtern verbergenden phänomenologischen Strukturen werden zunächst gesondert betrachtet, um sie in einem nächsten Schritt systematisch aufeinander beziehen zu können. Die auf diese Weise sichtbar werdenden Zusammenhänge werden abschließend am Beispiel einer konkreten Textlektüre einer differenzierten Analyse unterzogen.
Hofmannsthals Aufsatzentwurf "Die neuen Dichtungen Gabriele d’Annunzio’s" aus dem Jahre 1898, der hier zum ersten Male abgedruckt ist, belegt anhaltendes Interesse und eine um die Jahrhundertwende noch einmal aufllammende Sympathie, die erst 1912 in offene Ablehnung umschlagen wird. Gegenstand des ersten Teiles "Zwei Verherrlichungen der Stadt Venedig", welcher als beinahe abgeschlossen gelten kann, ist ein Bändchen von D’Annunzio mit dem Titel "L’Alllegoria dell’ autunno" (1895). Hofmannsthal kaufte es auf seiner Italienreise 1898. Über welche Dichtungen er darüber hinaus noch schreiben wollte, ist nicht bekannt. Einer genaueren Rekonstruktion der Beziehung zwischen D’Annunzio und Hofmannsthal bis zu diesem Zeitpunkt gelten die folgenden Hinweise.
Die hermeneutische Grundfrage "Wer spricht?", darüber ist sich die Literaturwissenschaft heute weitgehend einig, sollte mit einer Operation beantwortet werden, welche das Subjekt einer Äußerung und das grammatikalische Subjekt der Aussage trennt. Dennoch, so behauptete jedenfalls Roland Barthes, sei die Vorstellung von Literatur noch immer "auf tyrannische Weise im Autor zentriert [...], in seiner Person, seiner Geschichte, seinem Geschmack, seinen Leidenschaften". Widerstand gegen eine solche Tyrannei formierte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des Künstlerbiographismus. Es sei bisher übersehen worden, schrieb Margarete Susman in ihrem Buch über "Das Wesen der modernen deutschen Lyrik" (1910), daß das "lyrische Ich [...] kein Ich im real empirischen Sinne, sondern daß es "Ausdruck", daß es "Form" eines Ich" sei. Dieser Satz, der die Selbständigkeit des Textes gegenüber dem Autor behauptet, war in der ästhetischen Theorie nirgends vorher mit dieser Entschiedenheit ausgesprochen worden. Mit dem von Susman kreierten Begriff des "lyrischen Ich" operierte fortan die Zunft. Was ihn provoziert hat, ist eine historische Frage, die allerdings ihrerseits nicht ohne Lebensgeschichte auskommt.
"Vor einem Bild", so Arthur Schopenhauer, "hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen." Es ist, als hätte Günter Eich eben diese Aufforderung ernst genommen und in ein subversives Sprachspiel verwandelt. Sein Gedicht "Munch, Konsul Sandberg" aus dem Jahre 1963 erweist sich dabei als ebenso bemerkenswerter wie eigenwilliger Beitrag zum Thema "Text und Bild". [...]Wenn Günter Eichs Gedicht aus dem Band "Zu den Akten" von 1964 etwas aus dem Bild übemimmt, was gleichsam ins Auge springt, so ist es jene genannte Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Flächigkeit und Plastizität der Gestalt, die der Text nun seinerseits, in einer Art "overkill" gleichsam, radikalisiert. Eich besingt nicht das Bild, er kokettiert nicht mit der Tradition des Bildgedichtes, er treibt und hintertreibt vielmehr die Erwartung des Lesers durch die Konstruktion eines provozierenden Sprechers. Einer solchen Konstruktion scheinen Fragen vorausgegangen zu sein, wie: Kann ein Text etwas von der Spannung und Energie, die das Gemälde ausstrahlt, "übersetzen"? Läßt sich etwas von der (Nach-)Wirkung dieses Bildes fassen, ohne in gängige Register zu verfallen, mit denen Bilder in der Regel kommuniziert werden? Kann, mit anderen Worten, das Verhältnis von Text und Bild anders artikuliert werden als im Modus der Beschreibung, eines Narrativs oder einer hermeneutischen Belehrung - Modi allesamt der Bemächtigung, der Rivalität oder der Unterwerfung?
Die Erfahrung von Auschwitz bleibt eine offene Wunde, eine in der Zeit dauernde Frage, die auch die Gegenwart betrifft. In seinem Gedicht "Lehren ziehen" beschwört Günter Kunert die Welt der Konzentrationslager herauf, und er findet dort die Wurzeln eines Übels, das die Existenz der Menschheit bedroht. [...] In den ersten fünf Versen läßt der Dichter eine Situation wieder aufleben, die Primo Levi mehrfach in "Se questo è un uomo" (1947) beschrieben hat [...] Das von Kunert aufgerufene Bild verweist unzweifelhaft auf diese Erfahrung. Aber nach mehr als vierzig Jahren zeitlichen Abstands läd es sich auch auf mit Elementen aus der nachfolgenden Geschichte, und nicht nur der deutschen. [...] Das nur aus einer Strophe bestehende Gedicht ist Primo Levi gewidmet, wie der geklammerte Untertitel angibt, der seinen Namen zwischen lateinischer Erinnerungsformel und den Leerzeilen zum Gedichtanfang aufspannt. Das 1989 geschriebene Gedicht erinnert an den italienischen Autor, der 1987 unter nicht geklärten Umständen umkam.
Seit sich in Europa ein Bewußtsein von Geschichte konstituiert hat, ist auch das Problem der Kanonbildung thematisiert und reflektiert worden. In jüngster Zeit ist die Frage nach einem verbindlichen literarischen Kanon wieder stärker in die öffentliche Diskussion gelangt, und Politiker wie Bundestagsprasident Wolfgang Thierse haben für dessen neuerliche Konstituierung plädiert. Daraus läßt sich zumindest schließen, daß das Problem aktuell und virulent geblieben ist. Historisch betrachtet ist es ohnehin immer von großer Relevanz gewesen, denn die Frage nach einem literarischen Kanon hängt aufs engste mit den Aufgaben des Literaturhistorikers zusammnen, historische Zusammenhänge herstellen, qualitativ ästhetisch werten und bewerten zu müssen. Gilt nun Gleiches oder Ähnliches, so wäre zu fragen, auch für den Literaturarchivar? Ist auch er gehalten, bei der Archivierung kultureller Gedächtnisleistungen selektiv vorzugehen, also von vornherein auszulesen und nur das "Vortreffliche" in seine Sammlungen aufzunehmen? Folgt er dabei Rahmenbedingungen, wie sie aus dem politischen, kulturellen oder wissenschaftlichen Kontext erwachsen, oder kann er selbst richtunggebend und wirkungsetzend Einfluß ausüben, mit seiner Sammeltätigkeit selbst produktiv auf kulturelle Entwicklungsprozesse und wissenschaftliche Fragestellungen zurückwirken? Welche Rolle spielen Zufälle, spielt der persönliche Geschmack? Stellen sich solche Fragen unverändert über die Jahrhunderte hinweg, oder unterliegen auch sie, wie historische Fragestellungen generell, wechselnden Akzentuierungen oder gar Paradigmenwechseln? Ein ganzes Bündel von Problemen, auf das im folgenden eine vernünftige Antwort gesucht werden soll.
Als Goethe im Oktober 1807 [...] an seinen Verleger Cotta schrieb, sah er sich genötigt, politische Schadensbegrenzung zu betreiben. Herabwürdigende Kolumnen aus der Feder seines Intimfeindes Karl August Böttiger in Cottas Augsburger "Allgemeiner Zeitung" waren in der für Weimar noch kritischen Situation nach dem gerade zu Ende gegangenen Krieg das letzte, dessen man bedurfte. Cotta möge, so bat Goethe dringend, "alles, was unsre politische Existenz betrifft und nicht von mir kommt", von seinen Blättern abweisen. Goethes Intervention zeigt nicht nur, daß die Rolle des Kulturellen damals weit wichtiger gewesen ist, als man mit den üblichen Vorstellungen über fürstliches Mäzenatentum und Forderung von Literatur, Kunst und Wissenschaften an Weimars "Musenhof" zu verbinden gewohnt ist. In einer Situation, in der die Katastrophe von Jena und Auerstedt 1806 die regulären Politikinstanzen nahezu blockiert hatte, erwiesen sich der Ruf Weimars und das internationale Ansehen seiner Dichter und Literaten als unschätzbares politisches Kapital, und die von ihnen in Jahrzehnten aufgebauten personellen Beziehungs- und Kommunikationsnetze bildeten in den chaotischen Tagen nach dem 14. Oktober 1806 den einzigen noch verfügbaren Handlungsraum, um Weichenstellungen einzuleiten, die den drohenden Untergang des kleinen Herzogtums abzuwenden und ihm einen Platz in Napoleons Rheinbund zu verschaffen vermochten. Verständlich also, daß Goethe diesen Nimbus unbeschädigt erhalten wollte. Mit anderen Worten: Die Kultur ersetzte in dieser besonderen historischen Situation gleichsam die Politik, genauer gesagt das, was man damals unter Staatspolitik verstand, das Handeln der Regenten, Regierungen und Diplomaten. Daß Weimar in der Krisensituation von 1806 in der Lage war, auf ein solches Potential zurückzugreifen, war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung. In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, deren wichtigste Etappen und Aspekte nachzuzeichnen.