830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Das Symposion »Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft« scheint mit Verspätung stattzufinden. Vermehrt werden Stimmen laut, die das Ende des Poststrukturalismus verkünden. Allenthalben läßt sich ein neuer Essentialismus vernehmen, der gegen die "flottierenden Signifikanten" ewig gestriger Poststrukturalisten das Recht auf "reale Gegenwart" geltend macht. Man fragt wieder nach dem "Sitz der Literatur im Leben" und nach der "Relevanz" der Literaturwissenschaft. In diesem Kontext sind auch das in den 80er Jahren neu erwachte Interesse an der Anthropologie und die Bemühungen um die disziplinäre Etablierung einer dezidiert "Literarischen Anthropologie" zu sehen. Doch gibt es kein Zurück hinter den im Zuge des poststrukturalistischen Perspektivenwechsels möglich gewordenen kritischen Blick auf bislang unhinterfragte Sinn- und Bedeutungseinheiten, vielmehr ist sein analytisches Potential in neue Gebiete der Literaturwissenschaft einzubringen.
Der Titel des vorliegenden Beitrags verbindet drei Leitbegriffe - einen Autornamen: Musil, die Bezeichnung einer religiösen Denk- und Erfahrungsrichtung: Mystik, und eine Epochenbezeichnung: Moderne. Die sich hinter diesen Leitwörtern verbergenden phänomenologischen Strukturen werden zunächst gesondert betrachtet, um sie in einem nächsten Schritt systematisch aufeinander beziehen zu können. Die auf diese Weise sichtbar werdenden Zusammenhänge werden abschließend am Beispiel einer konkreten Textlektüre einer differenzierten Analyse unterzogen.
Hofmannsthals Aufsatzentwurf "Die neuen Dichtungen Gabriele d’Annunzio’s" aus dem Jahre 1898, der hier zum ersten Male abgedruckt ist, belegt anhaltendes Interesse und eine um die Jahrhundertwende noch einmal aufllammende Sympathie, die erst 1912 in offene Ablehnung umschlagen wird. Gegenstand des ersten Teiles "Zwei Verherrlichungen der Stadt Venedig", welcher als beinahe abgeschlossen gelten kann, ist ein Bändchen von D’Annunzio mit dem Titel "L’Alllegoria dell’ autunno" (1895). Hofmannsthal kaufte es auf seiner Italienreise 1898. Über welche Dichtungen er darüber hinaus noch schreiben wollte, ist nicht bekannt. Einer genaueren Rekonstruktion der Beziehung zwischen D’Annunzio und Hofmannsthal bis zu diesem Zeitpunkt gelten die folgenden Hinweise.
Die hermeneutische Grundfrage "Wer spricht?", darüber ist sich die Literaturwissenschaft heute weitgehend einig, sollte mit einer Operation beantwortet werden, welche das Subjekt einer Äußerung und das grammatikalische Subjekt der Aussage trennt. Dennoch, so behauptete jedenfalls Roland Barthes, sei die Vorstellung von Literatur noch immer "auf tyrannische Weise im Autor zentriert [...], in seiner Person, seiner Geschichte, seinem Geschmack, seinen Leidenschaften". Widerstand gegen eine solche Tyrannei formierte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des Künstlerbiographismus. Es sei bisher übersehen worden, schrieb Margarete Susman in ihrem Buch über "Das Wesen der modernen deutschen Lyrik" (1910), daß das "lyrische Ich [...] kein Ich im real empirischen Sinne, sondern daß es "Ausdruck", daß es "Form" eines Ich" sei. Dieser Satz, der die Selbständigkeit des Textes gegenüber dem Autor behauptet, war in der ästhetischen Theorie nirgends vorher mit dieser Entschiedenheit ausgesprochen worden. Mit dem von Susman kreierten Begriff des "lyrischen Ich" operierte fortan die Zunft. Was ihn provoziert hat, ist eine historische Frage, die allerdings ihrerseits nicht ohne Lebensgeschichte auskommt.
"Vor einem Bild", so Arthur Schopenhauer, "hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen." Es ist, als hätte Günter Eich eben diese Aufforderung ernst genommen und in ein subversives Sprachspiel verwandelt. Sein Gedicht "Munch, Konsul Sandberg" aus dem Jahre 1963 erweist sich dabei als ebenso bemerkenswerter wie eigenwilliger Beitrag zum Thema "Text und Bild". [...]Wenn Günter Eichs Gedicht aus dem Band "Zu den Akten" von 1964 etwas aus dem Bild übemimmt, was gleichsam ins Auge springt, so ist es jene genannte Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Flächigkeit und Plastizität der Gestalt, die der Text nun seinerseits, in einer Art "overkill" gleichsam, radikalisiert. Eich besingt nicht das Bild, er kokettiert nicht mit der Tradition des Bildgedichtes, er treibt und hintertreibt vielmehr die Erwartung des Lesers durch die Konstruktion eines provozierenden Sprechers. Einer solchen Konstruktion scheinen Fragen vorausgegangen zu sein, wie: Kann ein Text etwas von der Spannung und Energie, die das Gemälde ausstrahlt, "übersetzen"? Läßt sich etwas von der (Nach-)Wirkung dieses Bildes fassen, ohne in gängige Register zu verfallen, mit denen Bilder in der Regel kommuniziert werden? Kann, mit anderen Worten, das Verhältnis von Text und Bild anders artikuliert werden als im Modus der Beschreibung, eines Narrativs oder einer hermeneutischen Belehrung - Modi allesamt der Bemächtigung, der Rivalität oder der Unterwerfung?
Die Erfahrung von Auschwitz bleibt eine offene Wunde, eine in der Zeit dauernde Frage, die auch die Gegenwart betrifft. In seinem Gedicht "Lehren ziehen" beschwört Günter Kunert die Welt der Konzentrationslager herauf, und er findet dort die Wurzeln eines Übels, das die Existenz der Menschheit bedroht. [...] In den ersten fünf Versen läßt der Dichter eine Situation wieder aufleben, die Primo Levi mehrfach in "Se questo è un uomo" (1947) beschrieben hat [...] Das von Kunert aufgerufene Bild verweist unzweifelhaft auf diese Erfahrung. Aber nach mehr als vierzig Jahren zeitlichen Abstands läd es sich auch auf mit Elementen aus der nachfolgenden Geschichte, und nicht nur der deutschen. [...] Das nur aus einer Strophe bestehende Gedicht ist Primo Levi gewidmet, wie der geklammerte Untertitel angibt, der seinen Namen zwischen lateinischer Erinnerungsformel und den Leerzeilen zum Gedichtanfang aufspannt. Das 1989 geschriebene Gedicht erinnert an den italienischen Autor, der 1987 unter nicht geklärten Umständen umkam.
Seit sich in Europa ein Bewußtsein von Geschichte konstituiert hat, ist auch das Problem der Kanonbildung thematisiert und reflektiert worden. In jüngster Zeit ist die Frage nach einem verbindlichen literarischen Kanon wieder stärker in die öffentliche Diskussion gelangt, und Politiker wie Bundestagsprasident Wolfgang Thierse haben für dessen neuerliche Konstituierung plädiert. Daraus läßt sich zumindest schließen, daß das Problem aktuell und virulent geblieben ist. Historisch betrachtet ist es ohnehin immer von großer Relevanz gewesen, denn die Frage nach einem literarischen Kanon hängt aufs engste mit den Aufgaben des Literaturhistorikers zusammnen, historische Zusammenhänge herstellen, qualitativ ästhetisch werten und bewerten zu müssen. Gilt nun Gleiches oder Ähnliches, so wäre zu fragen, auch für den Literaturarchivar? Ist auch er gehalten, bei der Archivierung kultureller Gedächtnisleistungen selektiv vorzugehen, also von vornherein auszulesen und nur das "Vortreffliche" in seine Sammlungen aufzunehmen? Folgt er dabei Rahmenbedingungen, wie sie aus dem politischen, kulturellen oder wissenschaftlichen Kontext erwachsen, oder kann er selbst richtunggebend und wirkungsetzend Einfluß ausüben, mit seiner Sammeltätigkeit selbst produktiv auf kulturelle Entwicklungsprozesse und wissenschaftliche Fragestellungen zurückwirken? Welche Rolle spielen Zufälle, spielt der persönliche Geschmack? Stellen sich solche Fragen unverändert über die Jahrhunderte hinweg, oder unterliegen auch sie, wie historische Fragestellungen generell, wechselnden Akzentuierungen oder gar Paradigmenwechseln? Ein ganzes Bündel von Problemen, auf das im folgenden eine vernünftige Antwort gesucht werden soll.
Als Goethe im Oktober 1807 [...] an seinen Verleger Cotta schrieb, sah er sich genötigt, politische Schadensbegrenzung zu betreiben. Herabwürdigende Kolumnen aus der Feder seines Intimfeindes Karl August Böttiger in Cottas Augsburger "Allgemeiner Zeitung" waren in der für Weimar noch kritischen Situation nach dem gerade zu Ende gegangenen Krieg das letzte, dessen man bedurfte. Cotta möge, so bat Goethe dringend, "alles, was unsre politische Existenz betrifft und nicht von mir kommt", von seinen Blättern abweisen. Goethes Intervention zeigt nicht nur, daß die Rolle des Kulturellen damals weit wichtiger gewesen ist, als man mit den üblichen Vorstellungen über fürstliches Mäzenatentum und Forderung von Literatur, Kunst und Wissenschaften an Weimars "Musenhof" zu verbinden gewohnt ist. In einer Situation, in der die Katastrophe von Jena und Auerstedt 1806 die regulären Politikinstanzen nahezu blockiert hatte, erwiesen sich der Ruf Weimars und das internationale Ansehen seiner Dichter und Literaten als unschätzbares politisches Kapital, und die von ihnen in Jahrzehnten aufgebauten personellen Beziehungs- und Kommunikationsnetze bildeten in den chaotischen Tagen nach dem 14. Oktober 1806 den einzigen noch verfügbaren Handlungsraum, um Weichenstellungen einzuleiten, die den drohenden Untergang des kleinen Herzogtums abzuwenden und ihm einen Platz in Napoleons Rheinbund zu verschaffen vermochten. Verständlich also, daß Goethe diesen Nimbus unbeschädigt erhalten wollte. Mit anderen Worten: Die Kultur ersetzte in dieser besonderen historischen Situation gleichsam die Politik, genauer gesagt das, was man damals unter Staatspolitik verstand, das Handeln der Regenten, Regierungen und Diplomaten. Daß Weimar in der Krisensituation von 1806 in der Lage war, auf ein solches Potential zurückzugreifen, war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung. In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, deren wichtigste Etappen und Aspekte nachzuzeichnen.
Der folgende Beitrag will anhand der exemplarischen Lektüre zweier Aufsätze zeigen, was Lou Andreas-Salomés beschäftigte, wie und in welche Diskussionen sie sich einmischte und warum die Rezeption ihrer Texte schwierig ist; er will aber auch die Richtung andeuten, in der sich Fragen und Auseinandersetzungen Lou Andreas-Salomés bis in die Gegenwart fortgeschrieben haben. Am Beispiel der beiden beinahe zeitgleichen, thematisch so verschiedenen Texte "Grundformen der Kunst" (1898) und "Der Mensch als Weib" (1899) soll im folgenden Lou Andreas-Salomés Stimme, wie sie in der Polyphonie der Jahrhundertwende erklang, wieder zu Gehör gebracht werden. Daß die Aufsätze trotz ihres thematischen Unterschieds in denselben lebensbejahenden Versuch nach anthropologischer Selbstbestimmung münden, macht sie zu exemplarischen Texten für ihr Werk insgesamt.
Am 19. 7. 1838 schrieb Annette von Droste-Hülshoff an Christoph Bernhard Schlüter (1801-1884), der zusammen mit seinem Schwager Wilhelm Junkmann (1811-1886) die Betreuung ihrer ersten Gedichtausgabe übernommen hatte: "ich habe, vor einiger Zeit, eine Anzahl morgenländischer Gedichte, zur Auswahl an Jungmann geschickt, weder in Ihrem Briefe noch in dem Seinigen wird Deren erwähnt, sie werden doch nicht verloren gegangen seyn?" Annette von Droste-Hülshoff erhielt erst eine Antwort, nachdem die Drucklegung abgeschlossen war. Schlüter teilte ihr am 2. 8. 1838 mit, daß sich unter den nicht zum Druck gelangten Gedichten auch jene morgenländischen befänden. Für deren Nichtberücksichtigung nennt er den folgenden Grund: "Nur der reine harmonische Totaleindruck eben der ersten Ausgabe Ihrer Poesien, worin alles streng einen Character athmen und zugleich gleichmäßig originelles Eigenthum der Dichterin sein sollte, nichts aber Nachahmung oder irgend fremdartig und störend, war es was uns vorzüglich bestimmte [...].
Frauen mit metallischem Haar oder: Die Dame Patina : Textualität und Weiblichkeit bei Hermann Lenz
(1999)
Daß den Frauenfiguren bei Hermann Lenz bislang kaum Aufmerksamkeit zuteil wurde, liegt daran, daß einerseits der unter Regionalismus- und Naturidylliker-Verdacht stehende Lenz von den Vertreterinnen und Vertretern der neueren Geschlechterforschung nicht gelesen wird und daß andererseits die Lenz-Lesergemeinde keinen Blick für die gendenheoretische Aktualität der Weiblichkeitsfigurationen im Lenzschen Werk entwickelt hat.
"Lieber Lord Liszt!/ Warum nenn' ich Sie so?" beginnt der leitende Angestellte Franz Horn in Martin Walsers 1982 erschienenem Roman Brief an Lord Liszt sein nicht enden wollendes Schreiben an den Konkurrenten am Arbeitsplatz Dr. Horst Liszt.' In der Tat, man fragt sich das. Warum wird der Kollege "Lord" tituliert, "Lord Liszt"? Franz Horn fährt fort: "Die Anrede war da, als ich nach dem Schreiber griff. Wahrscheinlich will ich eine Entfernung ausdrücken zu Ihnen und zugleich mir und Ihnen empfehlen, diese Entfernung doch nicht zu ernst zu nehmen. Oder sollen wir?" Diese Sätze enthalten drei Hinweise für die Erschließung des Textes.
Titel und Thema dieses Kolloquiums «Mystik, Mystizismus und Modeme in Deutschland um 1900» klingen provozierend: Mystik und Moderne - damit scheint eher Gegensätzliches denn Vereinbares bezeichnet, fällt es doch auf den ersten Blick schwer, den radikalen religiösen Innerlichkeits- und Ganzheitsanspruch, der sich mit dem Begriff <Mystik> verbindet, mit einer säkular gewordenen, von wissenschaftlich-technischem Fortschritt gekennzeichneten modemen Erfahrungswelt in Einklang zu bringen. Und doch ist unübersehbar, daß gerade um 1900, also jenem Epocheneinschnitt, mit dem man gemeinhin die klassische Moderne beginnen läßt, in Literatur, Philosophie und Kunst Strömungen hervortreten, für die das Etikett «Mystik» angebracht erscheint. Die Brisanz dabei liegt gerade in dem sich zwischen den Kategorien des Mystischen und des Modernen auftuenden Spannungsverhältnis.
[I]m "Selbstversuch", der von Christa Wolf in der Anthologie über den "Geschlechtertausch" publizierten Erzählung, tauchen Elemente einer Wiederaneignung des Weiblichen auf, in denen ein gänzliches Anderssein anklingt. [...] Die Struktur der Erzählung nimmt [...] die Form eines Prismas an, das die "Person" in ihre primären Elmente zerlegt: "Maske. Rolle. Wirkliches Selbst." Durch diese sorgfälltige und geduldige Filterung gelingt es [Christa] Wolf nicht nur, die kleinbürgerlichen Schwächen und gefährlichen konformistischen Haltungen der gut bezahlten sozialistischen Intelligenz zu identifizieren, sondern auch die Verheerungen einer als Anpassung an die "blinde" Männerwelt ökonomischer Rationalität verstandenen Emanzipation der Frau zu benennen: die Kritik am eingeschliffenen Verhalten überschneidet sich mit der Negation des Bestehenden, die bewußte Erfahrung des Anderssein der Frau stellt, wie wir sehen werden, die sozialen und politischen Grundlagen der gesamten Gesellschaft in Frage, indem es Abgründe öffnet, die sich zur totalen Dissidenz ausweiten.
Von der Schuld, noch am Leben zu sein : einige Bemerkungen zum Roman "Der Boxer" von Jurek Becker
(1992)
Der 1976 erschiene Roman "Der Boxer" folgt in seiner Handlungszeit, die sich über den Zeitraum von 1945 bis 1970 erstreckt, chronologisch der ersten gelungenen Erzählung "Jakob der Lügner". In diesem Roman läßt Becker die Überlebenden aus den nazistischen Lagern zu Wort kommen; aus der Distanz von nahezu dreißig Jahren verfolgt er Geschehnisse aus der Geschichte des Vaters und aus dessen Leben im Berlin der ersten Nachkriegszeit. Aron Blank, die zentrale Gestalt des Romans, ein in Riga geborener Jude, hat das Konzentrationslager als einziger seiner Familie überlebt. [...] Um psychisch überleben zu können, ist Aron entschlossen, die faschistische Vergangenheit aus seinem Gedächtnis zu löschen. [...] Es ist eine jener paradoxen Situationen, die in Beckers Prosa häufig vorkommen: obwohl unschuldig, muß sich das Individuum mit einer Täuschung dem unerbittlichen Zugriff der Geschichte entziehen. Anna Chiarloni stellt in ihren Bemerkungen zum Roman "Der Boxer" von Jurek Becker Vergleiche und Bezüge zu (u.a.) anderen Werken des Autors selbst wie "Der Verdächtige" sowie Rainer Werner Faßbinders Bühnenstück "Die Stadt, der Müll, der Tod" und Christa Wolfs Erzählung "Störfall" her.
Dass Autobiographien, wie bereits der Begriff ,Autobiographie' zum Ausdruck bringt in aller Regel geschrieben sind und damit Akte des Schreibens repräsentieren, wird in der Autobiographieforschung nicht immer, verstärkt jedoch im 20. Jahrhundert reflektiert. Auch wenn die folgenden Ausführungen zum autobiographischen Schreiben weniger der anwendungsorientierten Perspektive der zugrunde liegenden Vorlesungsreihe "Schreiben im Kontext von Schule, Universität, Beruf und Lebensalltag" folgen, so soll doch die Aufmerksamkeit auf eben dem Aspekt des "Schreibens" bzw. des "Geschriebenseins" liegen und zwar in autobiographietheoretischer Hinsicht als auch im Blick auf konkrete autobiographische Textbeispiele.
Eine Möglichkeit, über Autobiographie in theoretisch-systematischer Hinsicht nachzudenken, ist, sie zwischen Geschichtsschreibung und Literatur zu verorten. Dies ist jedoch keinesfalls zwingend, d.h. damit soll keine ontologische Gattungsbestimmung vorgenommen werden. Autobiographische Texte verstehen sich nicht per se als historiographische Dokumente, auch wenn Historiker / innen sie in diesem Sinne lesen mögen, während sich die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit auf das textuelle Vermittlungsmedium historischer Selbst- und Weltentwürfe richtet.
Aus dem pseudo-aristotelischen Problem XXXI wissen wir, daß alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler [ ... ] Melancholiker gewesen sind. Seitdem gilt die Melancholie nicht nur als Signum des genialen Geistesmenschen, seit der Entdeckung des neuzeitlichen Subjekts begründet die melancholische Versenkung in das eigene Ich dessen Anspruch auf eine möglichst tiefgründende Innerlichkeit. Dabei wird in der Darstellung der Melancholie eine bemerkenswert konstante Topik zum Einsatz gebracht: die Farbe Schwarz, die sich metonymisch von der schwarzen Galle auf das finstre Gemüt und die Vorliebe des Melancholikers fiir alles Dunkle schlägt, ja selbst im 18. Jahrhundert den schwarzen Kaffee zur Ursache der Melancholie werden läßt, der auf die Hand gestützte Kopf, Gottferne, Einsamkeit, Geiz, erotische Veranlagung, unendliches Grübeln und anderes mehr. Der Anspruch auf Genialität und subjektive Innerlichkeit will nicht so recht zu dem topischen Schematismus passen, mit dem sich die Melancholie im kulturellen Gedächtnis präsentiert, läßt vielmehr Genialität und Innerlichkeit selbst zu melancholischen Topoi erstarren. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen behaupteter Innerlichkeit und topischer Außenrepräsentanz lenkt den Blick auf die diskursiven Entstehungsbedingungen des Melancholieparadigmas.
Rolf Dieter Brinkmann, so lautet meine These, arbeitet gerne und häufig mit einer polysemischen Dissemination von Mikrostrukturen, die sich frei von jeder logischen Anordnung quer im lyrischen Raum bewegen. Die meisten Texte entwickeln dieses Verfahren aus einer alltäglichen Situation, die sie in einer alltagsnahen, scheinbar unstilisierten Sprache festhalten. Auch letzteres ist ein herrschender Trend der Lyrikszene in den 70er Jahren.
Schoolbooks
(2006)
According to UNESCO estimates, there are approximately one billion people in the world who can neither read nor write. One sixth of the world population has never seen a schoolbook. In contrast, reading and writing in the industrialized nations are such commonplace objects of everyday life that they are completely taken for granted. We are taught to read and write at school, where we gain access to the cultural tool ofwriting, and it is this that forms the basis for all our further leaming activities. The teaching aids used in schools to impart us the skills of literacy are themselves based on the medium of writing. We can all remember what it was like to write things down on paper and in exercise books, to organize our notes in files, and to read up new information in text books. By teaching literacy to the individual, the schools as an institution are laying the foundation stone of literacy skills for entire societies. Many important developmental stages of this process in Europe took place in the Middle Ages, and the schools functioned as a dual participating force in this process. First of all, they were the institution in which competence in literacy was acquired, and they were themselves involved in leaming how best to communicate this task with the aid of the instruments of literacy. These tools, as employed in the schools, have undergone transformation over the centuries. Schoolbooks themselves have also had to adapt, to cope with the demands of literacy.
Hugo von Hofmannsthal lernte die Fürstin und spätere erfolgreiche Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky Anfang 1909 in Berlin kennen. [...] Wahrscheinlich wurden schon bald Briefe mit Verabredungen ausgetauscht. Die ersten gesichert datierten Briefe der hier veröffentlichten Korrespondenz stammen aus dem Frühjahr 1910. [...] Auch wenn die vorliegende Korrespondenz Lücken aufweist und vermutlich über das letzte hier dargebotene Briefzeugnis hinaus, die Trauerbekundung um den Tod von Wilhelm Freiherr Schenk von Stauffenberg, andauerte, vermag sie doch einen Eindruck von dieser vielschichtigen Beziehung zu geben. [...] Unter den Themen, die der Briefwechsel anschlägt dominiert das Gespräch über Hofmannsthals Werke, Projekte und Theateraufführungen. Besonders Anteil nimmt Mechtilde Lichnowsky an Max Reinhardts Berliner Inszenierung des "König Ödipus". [...] Sämtliche Texte der Korrespondenz werden aus den Handschriften geboten; lediglich Hofmannsthals Briefe an seinen Vater und an seine Frau Gerty, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach a.N. aufbewahrt werden, sowie die Auszüge aus seinen Tagebüchern, werden nach den Kopien im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt a.M., zitiert.
Seit der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts taucht das literarische Motiv des Gartens in der deutschen, aber auch in der englischen und französischen Literatur besonders häufig auf. In verschiedenen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen hat man dieses Phänomen zu deuten versucht, eine Rückbesinnung auf das Mythenreservoir der Tradition in Zeiten verunsicherter Individualität erkannt, aber auch die Formen der Umwandlung und die synkretistische Verwendung des Gartenmotivs beobachtet. Christliche Mythenelemente [...] vermischen sich mit antiken Topoi [...] oder Märchenmotiven [...]. Unabhängig davon, ob die Gartenlandschaft in realistischer Detailtreue oder in visionärer Traumatmosphäre geschildert wird, kann man zudem zum Jahrhundertende hin eine zunehmende Stilisierung des Gartens als Seelenschauplatz erkennen - bei aller Vielfalt der Varianten und motivgeschichtlichen Vorbilder. Auffallend häufig findet sich in der Literatur der Jahrhundertwende das Bild des Gartens als eines (vermeintlichen) Schutzraumes zwischen fremder, "wilder" Natur und gesellschaftlich-zivilisatorischer Gegenwart, in dem das Subjekt sich mit "Erkenntnis", "Begehren" und "Verschuldung", Grundfragen seiner Existenz, auseinandersetzen muß. [...] Diesen Problemhorizont möchte ich am Beispiel von drei Prosatexten aus der deutschen Literatur der Jahrhundertwende bedenken: Ferdinand von Saars "Schloß Kostenitz" (1893), Hugo von Hofmannsthals "Märchen der 672. Nacht" (1895) und Heinrich Manns "Das Wunderbare" (1896). Die Texte sind fast gleichzeitig entstanden, müssen aber stilgeschichtlich unterschiedlichen Richtungen - Spätrealismus, Symbolismus / Jugendstil - zugeordnet werden. Allen drei Texten ist als signifikantes Merkmal der Schauplatz des Gartens gemeinsam, in allen drei Texten geht es - offensichtlich oder verdeckt - um "Gartenfrevel" und "Gartenlust".
Die hier wiedergegebenen Auszüge aus Andrians Tagebüchern stützen sich zum größten Teil auf Exzerpte, die von meiner ersten Beschäftigung mit Andrian herrühren. Mein Hauptinteresse galt damals der Frühphase [...] Dem Anliegen der "Hofmannsthal-Blätter" entsprechend steht bei den folgenden, bis auf wenige Passagen bisher unveröffentlichten Tagebuchauszügen der "Blick" Andrians auf Hofmannsthal im Mittelpunkt. Es werden also vornehmlich die Passagen geboten, in denen Hofmannsthal direkt erwähnt wird. An einzelnen Stellen, wo es mir aufschlussreich erschien zu zeigen, wie Andrian andere gemeinsame Freunde einschätzte oder wo er gemeinsame Erfahrungen wiedergab, wurde Seitenblicken stattgegeben. [Ebenfalls aufgenommen wurden:] Exzerpte aus einem Notizbuch zu Vorlesungen der Philosophen Jerusalem und Eckstein zur Erkenntnistheorie und zu Kant [...] Den Abschluß bilden Andrians Notizen aus dem Jahre 1948 zu seinem Aufsatz über Hofmannsthal für Helmut A. Fiechtners Sammelband, in denen der Freund den Freund nur wenige Jahre vor seinem Tod rückblickend und nachdenkend noch einmal "entwirft".
Remigius von Auxerre
(2006)
Anna Chiarloni analysiert und interpretiert exemplarisch und vergleichend einzelne Gedichte bzw. Gedichtausschnitte aus Günter Herburgers 1991 erschienen Lyrikband "Das brennende Haus": "Späte Schicht", "Die Mole", "Anglunipe", "Heimkehr", "Mein Newton", "Die Zigeunerin", "Die Kopenhagener Deutung", "Rückkehr", "Das Versteck", "Grönland", "Die imaginäre Haltestelle", "Heimweh", "Tee", "Lied" und "Einstand".
Gegenstand des Vortrags ist der mittelalterliche Schulunterricht in Gestalt der schriftlichen Materialien, die dem praktischen Textstudium im beginnenden Lateinunterricht zugrundegelegt wurden. Von zwei Handschriftenkorpora prominenter Schultexte ausgehend, zielt er auf eine mediengeschichtlich ausgerichtete Beschreibung des Textstudiums. Von diesen Korpora deckt der eine ('Aviani Fabulae', lat.) das gesamte Mittelalter ab, der andere ('Disticha Catonis', lat.-dt.) darüber hinaus die Durchsetzungsphase des Buchdrucks.
Der Beitrag knüpft an die von A. Grafton und L. Jardine (From humanism to the humanities, Cambridge/Mass. 1986) und jüngst noch einmal für italienische Verhältnisse formulierte These von R. Black (Humanism and education, Cambridge 2001) an, "that the famous humanist educators did not introduce the revolution in the classroom that is usually assumed". Diese These soll im Hinblick auf die unterrichtliche 'auctores'-Lektüre im deutschen Sprachraum und mit Seitenblick auf H. Puffs Befunde speziell zum Grammatikunterricht zwischen 1480 und 1560 überprüft und modifiziert werden.
When we look for evidence of multilingualism in the Middle Ages, we will eventually find the type of source which consists of the translation of Latin classroom texts into various vernaculars. Since the high Middle Ages traditional standard works of grammar - dominantly Latin - were translated frequently into vernaculars. A prominent example are the 'Disticha Catonis'. This late antique work contains about 100 hexameter couplets, which convey a multitude of fundamental rules of life and conduct. A linguistically rather simple work, it was precisely for that reason all the more effective.
Das unter ästhetischen Gesichtspunkten nach wie vor als kulturelle Abstrusität rubrizierte Bemühen der Meistersinger, literarische Leistung zu quantifizieren, erscheint in worthistorischer Perspektive und dabei insbesondere im Hinblick auf die Tabulaturen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts als ein durchaus fortschrittliches Phänomen. Obschon die Texte sowohl pragmatisch - durch die Bindung an den Vortrag vor Anwesenden - als auch ihrem Selbstverständnis nach an mittelalterliche Literaturtraditionen gebunden bleiben, verfügen die Meistersinger im Kontext ihrer Aufführung doch nun über einen umfangreichen Katalog poetologischer Begriffe, die in diskursiver Form verschriftlich vorliegen.
Der Vortrag versucht seinen Beitrag zum Tagungsthema im Ansatz am Gegenbild zu erbringen. Dieses Gegenbild bezieht er zunächst aus der Institution 'Schule'. Er geht von der Überlegung aus, dass für volkssprachliche Literatur hier durch eine enge Kopplung an die Welt des Lateinischen und der Schriftlichkeit tendenziell weniger Bedarf besteht, ihre Existenz zu rechtfertigen und sich zu (stets begrenzter, weil untergeordnet-dienender) Geltung zu bringen als für dezidiert an den "offeneren" Rezeptionsraum des Hofes gebundene Werke. Das gilt gerade auch für die deutschen Cato-Übersetzungen des Spätmittelalters, die zunächst als Hilfsmittel zur Erschließung des lateinischen Ausgangstextes im Trivialunterricht erarbeitet wurden. Sie sind dadurch in ein seit dem 12. Jahrhundert relativ stabiles, dominant lateinisches System kommunikativer Handlungen integriert.
Die folgenden Ausführungen knüpfen an eine These an, die an anderer Stelle eher von kodikologischen wie überlieferungs- und textgeschichtlichen Befunden ausgehend formuliert wurde. Danach kann die Gemerk-Interaktion der Meistersinger als ,Aufführung einer Aufführung' verstanden werden, d. h. als Folge einer sehr besonderen Rezeption von Wettstreit- und Fürwurfliedern, die anonyme Fremdtonverwender bereits in einer Spätphase der Sangspruchdichtung nach Frauenlob verfasst haben. In ihnen ist im Rahmen einer ausgiebig ausgebeuteten Turnier- und Wettkampfmetaphorik auf Schritt und Tritt von Dichten und Singen die Rede und so haben sich dann später die Meistersänger aus diesen Liedern ihre eigenen Vorstellungen von der Kunstpraxis der von ihnen geachteten alten Meister gebildet.
Der nachstehende Beitrag ist aus dem Arbeitszusammenhang des Sonderforschungsbereichs 538 'Mehrsprachigkeit' entstanden, an dessen Teilprojekt A7 die mittelalterlichen Übersetzungen der lateinischen Disticha Catonis ins Deutsche untersucht wurden. Einer der ersten Arbeitsschritte bestand in der seit Zarnckes Zusammenstellung von 1852 nicht mehr geleisteten Erfassung der Textzeugen: Auf der Basis systematischer Quellenheuristik und dann gebrauchsfunktionaler Handschriftenanalysen sollten die Übersetzungen rekontextualisiert werden, um von dieser Seite ergänzenden Aufschluss über historische Übersetzungsintentionen und -leistungen zu gewinnen. Da der deutsche Cato in den Handschriften oft vom Facetus "Cum nihil utilius" begleitet wird, lag es nahe, die Handschriften dieses deutschen Facetus in die Suche einzubeziehen.
Das Interesse der Altgermanistik an der deutschen Glossierung lateinischer Texte verteilt sich sehr ungleich auf die Quellen. Auf der einen Seite gilt den althochdeutschen Glossen seit dem 19. Jahrhundert kontinuierliche Aufmerksamkeit, die sie als sprachgeschichtlich kostbares Quellenmaterial in ansonsten dürftiger Zeit auf sich ziehen wie literarhistorisch als Quellentyp, an dem sich die Anfange der deutschen Sprache auf ihrem Weg in Schriftlichkeit und Literaturfahigkeit verfolgen lassen. Weithin unerschlossen präsentieren sich dagegen die spätmittelalterlichen Glossenbestände, und kaum ein Interesse des Faches zeichnet sich ab, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Die lateinischen ,Disticha Catonis', im 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. entstanden, zählen zu den neben der Bibel verbreitetsten Werken des Mittelalters. Getragen wurde ihr Erfolg zu großen Teilen von der Institution ,Schule'. Mit den Worten der inzwischen über anderthalb Jahrhunderte alten, aber noch immer unersetzten Untersuchung zu ihren deutschen Übersetzungen: "Kein werk hat während des mittelalters eine entfernt so weite verbrei tung gefunden wie die unter dem namen des Cato bekannten lateinischen distichen. sie waren das factotum beim unterrichte der jugend, die aus ihnen die anfangsgründe der grammatik poesie und moral kennen lernte [ .. .]."
Die dem pädagogischen 18. Jahrhundert vorausliegende Bildungs- und Erziehungsgeschichte stellt keinen Gegenstand dar, der in einem disziplinenübergreifenden Forschungs- und Diskussionszusammenhang bearbeitet würde. Ein Überblick über den Stand der Forschung ist indes nicht nur auf grund der disziplinären Streuung der zahlreichen Forschungsbeiträge von einschlägiger Relevanz kaum zu gewinnen, die historisch arbeitende Erziehungswissenschaftler beibringen, Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker, Literaturwissenschaftler, die sich mit Texten oder Kunsthistoriker, die sich mit anderen einschlägigen Artefakten dieses Zeitraums befassen.
Da deutscher "Cato" und deutscher "Facetus" im Spätmittelalter oft gemeinsam abgeschrieben wurden, lag es nahe, für die Sicherung der Materialbasis des Cato-Projekts A7 am Hamburger Sonderforschungsbereichs 538 '"Mehrsprachigkeit" neben Hss. mit Übersetzungen der "Disticha Catonis" auch solche mit dem Facetus "Cum nihil util ius" einzusehen.
Ob Lernen eher eine Angelegenheit des Hörens oder eher eine des Lesens sei, darüber können im Spätmittelalrer Missverständnisse Aufkommen [...] Die kleine Szene aus einem Gesprächsbüchlein des 15. Jahrhunderts, dem ,Es tu scolaris', ruft einen ihren Lesern offenbar nicht mehr ganz selbstverständlichen Sachverhalt in Erinnerung: Auch im Ausgang des Mittelalters vollzieht sich der Erwerb des Lernstoffs im Trivialunterricht wesentlich auditiv, im Rahmen mündlicher Unterweisung.
Ein meisterliches Streitgedicht : zum poetologischen Horizont der Lieder Nr. 89-94 des Hans Folz
(1996)
In der Verwendung von Tönen mittelhochdeutscher Sangspruchdichter findet die Traditionsbindung der Meisterlieddichter des 15. Jahrhunderts ihren unmittelbaren Ausdruck. Wie eng diese Bindung sein konnte, läßt sich ermessen, wenn man bedenkt, daß sogar neu erfundene Töne einem älteren und bekannteren Dichter untergeschoben wurden, dem sie gar nicht gehören. Ob es erlaubt ist, zu neuen Texten auch neue Töne zu erfinden, oder ob neue Lieder nur in alten Tönen, allem voran nur in den Tönen der alten Meister, gedichtet werden dürfen - in dieser Frage des Tönegebrauchs stehen mithin Qualität und Reichweite der Traditionsbindung meisterlicher Lieddichtung zur Diskussion. Die Meisterlieder Nr. 89-94 des Nürnberger Dichters Hans Folz stellen diese meisterliche Kardinalfrage in ihr Zentrum, scheinen sie aber ganz und gar »unmeisterlich« zu entscheiden. Denn in dem umfangreichen Liedzyklus wird keineswegs der Tradition der alten Meister und den überkommenen Tönen das Wort geredet. Ausdrücklich erhält vielmehr die Gegenwart ihr eigenes Recht auf ihre eigenen Töne.
Facetus
(2005)
Der seit dem 13- Jahrhundert lateinisch überlieferte und wohl nicht allzulange vorher entstandene ,Facetus Cum nihil utilius' gibt sich selbst als Ergänzung der ,Disticha Catonis' aus und wird häufig mit diesem gemeinsam tradiert und mit ihm im Lateinunterricht traktiert. Da Bestand und Folge der paarweise gereimten Hexameter stärker wechseln als bei diesem, lassen sich Traditions- und Eigenanteil der Übersetzungen schwerer als dort bestimmen. Im deutschen Sprachraum entstehen Übersetzungen seit dem zweiten Viertel des 14., im Mittelniederländischen bereits im 13. Jahrhundert.
Cato
(2005)
Die im 3. oder 4. Jahrhundert entstandenen ,Disticha Catonis' sind seit karolingischer Zeit im lateinischen Trivialunterricht verankert. Dort werden sie regelmäßig als in vier Bücher unterteilte Zusammenstellung von etwas über 140 Hexameterdistichen mit kurzer Praefatio in Prosa und einer im Bestand wechselnden Reihe von Prosasentenzen traktiert. Zuvor nur vereinzelt, werden sie im 13. Jahrhundert erstmals in breitem Schub gleich in mehrere Volkssprachen Europas übersetzt. Speziell im deutschen Sprachraum begleitet eine zweite größere Welle der Textproduktion den mächtigen Aufschwung des institutionalisierten Schulunterrichts in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Im rhein-maasländischen Raum und im angrenzenden Westen bringen diese zwei übergreifenden Vorgänge zwei in Verbreitung, Faktur und Funktion verschiedene ,Cato'-Übersetzungen hervor. Sie vertreten in der Folgezeit in ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet bis in den sich durchsetzenden Buchdruck hinein jeweils konkurrenzlos den volkssprachigen ,Cato' ihres Raumes.
Romulus
(2004)
Der [Romulus] ist unter den antiken Fabelbüchern die einzige größere [Sammlung in lateinischer] Prosa und neben der versifizierten Sammlung des Avianus, die indes begrenzter wirkte, wichtigster Vermittler der äsopischen Fabel (Äsopika) ins [Mittelalter]. Voraussetzungen, Ausformung und Ausstrahlung des im 5. Jh. p. Chr. n. möglicherweise in Gallien erstellten Korpus sind wegen der diffusen Quellenlage nur begrenzt zu erfassen.