830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Ein 'seriöser' bürgerlicher Spitzenpolitiker sagte auf einem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie, diese sei "schließlich keine Wirtschaftskrise oder Naturkatastrophe". Eine verstörende, aber interessante Aussage. Offenbar sind Techniken, Strategien, Mechanismen der modernen Bio-Macht bereits derart verinnerlicht, dass bei einer solchen Herausforderung jegliche Referenz auf ein womögliches 'Schicksal' sich von vornherein verbietet (selbst wenn das digitalpopulistischen Legendenbauern auf ihrer wahnhaften Suche nach heimlichen Drahtziehern Nahrung gibt). Grund genug, sich zu fragen: Verschwindet in der spätmodernen Welt im Zeichen planetarischer Naturzerstörung und Kapitalverwertung, scheinbar grenzenloser Machbarkeit und globaler Vernetzung das Schicksal? Tritt es möglicherweise inkognito auf? Oder gewinnt 'Schicksal' angesichts des Legitimationsverlustes monotheistischer Religionen und der stetig anwachsenden Rechtfertigungs- und Tribunalisierungszwänge gerade wieder an Bedeutung? Welche Rolle spielen der Zufall, das Erleben natürlicher und gesellschaftlicher Kontingenz? Was prägt eigentlich unsere Vorstellungen von 'Schicksal' im Spektrum zwischen klassischen Tragödien auf der einen, und trivialästhetischer Konfektion (Kolportageroman, TV-Soaps, Heimat-, Bergfilme) auf der anderen Seite? Fragen über Fragen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll - unter anderem in chaos- und triebtheoretischen Perspektiven.
Wie kein anderes Land ist Italien im deutschsprachigen Raum seit mehr als 600 Jahren Gegenstand einer nahezu unüberschaubaren Auseinandersetzung in Kunst, Kultur, Philosophie und Politik. Als Kernland des römischen Imperiums, mit Rom als Zentrum der Christenheit und wichtiger Etappe auf dem Pilgerweg ins Heilige Land, durch jahrhundertelang politisch und wirtschaftlich mächtige Republiken wie beispielsweise Venedig, Genua und Florenz war Italien in vielerlei Hinsicht von besonderem Interesse. Dies gilt auch für die Zeit nach 1796, für die Zeit nach dem Einmarsch der französischen Truppen und die damit verbundene Umgestaltung der politischen Landkarte Italiens. Im ersten Teil stehen mit Blick auf das (post-)risorgimentale Italien zunächst exemplarische Untersuchungen in Literatur, Publizistik und Philosophie im Fokus. Der zweite Teil des Jahrbuchs ist dem Thema "Deutsche Künstler in Italien - zwischen politisch-ästhetischer Revolution und Traditionsbewahrung" gewidmet. Italien als Sehnsuchtsziel von Malern und Schriftstellerinnen sowie als Gegenstand von Reiseberichten, Gedichten und als Opernschauplatz bietet einerseits Inspiration und Freiraum zum künstlerischen Schaffen. Andererseits ist Italien aber auch ein kulturell seit Jahrhunderten beschriebenes Gebiet, das zu einer Auseinandersetzung mit den Kulturgeschichten beider Länder und bislang vorliegenden künstlerischen Gestaltungen herausfordert.
Vom 20. bis 21. Oktober 2021 veranstaltete das Institut für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität (UJEP) in hybrider Form den internationalen Workshop "Europa und der Grenzdiskurs in der deutschsprachigen Literatur" in Ústí nad Labem. Der Workshop fand im Rahmen des Doktorandenprojekts U21–QGRANT OP VVV CZ.02.2.69/0.0/0.0/19_073/0016947 von Frau Annabelle Jänchen statt, das sich mit Grenzüberschreitungen als literarische Topoi und Motive beschäftigt.
Vom 1. bis zum 3. Juli 2021 fand an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań die Jahrestagung der Austrian Studies Association statt, die von Prof. Dr. habil. Sławomir Piontek vom Lehrstuhl für österreichische Literatur und Kultur im Institut für germanische Philologie der AMU organisiert wurde. [...] Das Thema der diesjährigen Tagung waren "Nationale und postnationale Perspektiven in/aus/auf Österreich".
Im Aufsatz wird versucht, die Rolle und die Bedeutung der Deutschlehrer in der tschechischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts zu erörtern. Dabei wird auf den Habitus der Deutschlehrer und die bildungs- und gesellschaftspolitischen Umstände, die ihn formten, fokussiert. Es werden zum einen die autofiktionalen Texte der Lehrer, zum anderen ihre bildungspolitische Essays analysiert, um ihr gesellschaftliches Bild und ihre Selbstverortung in unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen darzustellen. Die kulturhistorische Studie soll zu weiteren Forschungen im aktuellen bildungspolitischen Diskurs anregen.
Die globalen Waren, mit denen die Literatur handelt, sind oftmals Gegenstände, die sich der Wertform des Kapitals entziehen: Sie sind Gaben, die - etwa im Sinne Greenblatts - eine Zirkulation sozialer Energien bewirken oder - im Sinne Derridas - ein die Ökonomie des Tauschprinzips unterbrechendes Ereignis stiften können. Das globale Moment der Literatur bestünde demnach darin, dass, wie es Goethe in "Dichtung und Wahrheit" formuliert hat, "die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei". Diesem Verständnis von Literatur als "Welt- und Völkergabe" ist auch Paul Celans Werk verpflichtet. In der Gabenstruktur seiner Gedichte, die sich in der bewussten Hinwendung zum Anderen anzeigt, kommt auch der Weltbezug dieser Dichtung zum Ausdruck. Diesen vielfältigen Facetten von Celans literarischem Weltbezug sind die in diesem Themenschwerpunkt versammelten Beiträge gewidmet. Dem Werk Celans muss die Struktur der Globalisierung nicht erst künstlich zugeschrieben werden: Sie ist ihm inhärent. Denn zum einen hat die Erfahrung von Migration und Mehrsprachigkeit Celans Schreiben in hohem Maß geprägt; zum anderen ist aber auch die globale Dimension der Literatur, nämlich der weltliterarische Gestus seines Schreibens, in den Texten stets präsent.
Nicht jeder Innenraum ist ein Interieur. Das Interieur ist ein unter spezifischen historischen, gesellschaftlichen und kulturpoetischen Bedingungen entstandenes komplexes Gebilde. Es lässt sich durch die Bündelung von drei Aspekten rekonstruieren: 1. einer Kultur- und Komfortgeschichte de Wohnens; 2. einer Beschreibung des Widerspiels von Draußen und Drinnen und 3. der interieurspezifischen Bestimmung einer Raumästhetik, bestehend aus einer Poetik der Atmosphäre und der Dinge und konstituiert aus Erwartung, Erinnerung und Koketterie.
"Berührungsfurcht" : soziale Imaginationen der Unterklassigen in der Kanon-Literatur der Moderne
(2020)
Die gutbürgerliche Literatur verwahrt sich mit allem, was ihr eigen ist - Sprache, Aisthesis, Kreativität, Imagination, Wissen und Bildung - gegen den Übergriff des Anderen und Fremden in Gestalt des sozial Niederen und Subalternen im eigenen Erfahrungsbereich, durchsetzt mit Empathie und Aggression. Aus der Sicht der noblen Literatur fällt der Blick auf die schäbigen Volkssänger, von denen sich Gustav Aschenbach, Thomas Manns Identifikationsfigur im "Tod in Venedig", auf der Hotelempore des Lido bedrängt fühlt, auf die elenden "Schalen von Menschen" in den Straßen und Krankenanstalten von Paris in Rilkes "Malte Laurids Brigge", auf die im Gerede sprachlosen Scheusale von Haushälterin und Hausbesorger in Canettis "Blendung", auf die im 'Jargon' agierende chassidische Schauspieler-Bagage, die Kafka so vehement gegen den Prager Kulturzionismus verteidigt. Die kulturelle Hybris gegenüber den Subalternen und Deklassierten folgt der Spur eines elitären Gestus, auch im politischen Handeln: Verachtung, Abscheu, Angst und Erschrecken angesichts der 'Deplorables', des bedauernswerten Elends der sozial Deklassierten und minder Kultivierten. [...] Das entsprechende Bildrepertoire an einsinnigen Klischees begegnet, ästhetisch nuanciert, in der literarischen Zeitgenossenschaft um 1900 bei Autoren unterschiedlichster Weltanschauung und Schreibweise. Und seitdem, was im Folgenden aufzuzeigen ist, in fast jedem uns vertrauten Text moderner, als bürgerlich verbürgter deutscher Literatur, der sich dem sozial Anderen außerhalb des eigenen Lebens- und Erfahrungsbereichs zuwendet, mehr oder weniger emphatisch oder verdrossen. Bei diesem kleinen Streifzug durch einige Kanon-Texte der Moderne kann es nicht um ihre sozialpsychologische und sozialhistorische Erklärbarkeit gehen. Vielmehr interessieren, als kleiner Nachtrag zur Lektüre der uns wohl bekannten Werke, gewisse Wege und Abwege der sozialen Imagination: der moralisch und ästhetisch oft verquere Umgang mit einem Fremden, das nicht nur in anderen Ländern und Kulturen zu suchen, sondern daheim, hier und jetzt, zu entdecken ist. In der Ferne so nah, voller "Berührungsfurcht", wenn nicht panischem Erschrecken vor dem Anderen.
Einläßliche Untersuchungen zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Lichtenbergs fehlen bislang. Sie würden zunächst ein disparates Rezeptionsfeld aufweisen: Lichtenberg als Naturwissenschaftler, Lichtenberg als Physiognomikkritiker, Lichtenberg als Literatursatiriker , Lichtenberg als Stifter eines neuartigen ästhetischen Bildreservoirs, eines Orbis Pictus, den seine Hogarth Kommentare erschließen, schließlich Lichtenberg als Autor der Sudelbücher, die ihn als Selbstdenker zu erkennen geben. Darüber hinaus wäre das Besondere von Lichtenbergs Wirkungsweise methodisch zu bedenken und zu verwirklichen.
[...] Die dialektische Begriffsentfaltung schöner Kunst in ihren Momenten des Häßlichen, Komischen, Erhabenen ist nicht, wie das Vorurteil will, sophistische Begriffsspielerei; sie ist der angestrengte Versuch, die Möglichkeit bzw. Ermöglichung schöner Kunst unter den ihr "ungünstigen", "prosaischen" Lebensverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln. Alle ästhetischen Theorien des Häßlichen greifen ein in die Debatte über den Vergangenheitscharakter schöner Kunst; sie melden sich zu Wort als Theorie gegenwärtiger Kunst; sie übernehmen präventiv die Gewährleistung schöner Kunst im Status ihrer drohenden Verabschiedung: sie behandeln sie als suspendiert. [...]
Juden, Philister und romantische Intellektuelle : Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik
(1992)
[...] Verschärfte Angriffe auf Juden fallen oft mit historischen Krisen zusammen. So grundiert auch hier die besondere Krisensituation der Napoleonischen Kriege den Konflikt, während ihn die Auseinandersetzung mit den Hardenbergschen Reformen in Preußen radikalisiert. Das Zusammengehen von Juden- und Philisterangriff aber leitet sich aus der spezifisch romantischen Zeitdiagnose her, einer Globalisierung der Krise und einer gleichsam apokalyptischen Alarmierung des Jetztzeitbewußtseins; ansteht das Überleben der Menschheit, ihr Untergang oder ihre Wiedergeburt. [...]
Der 1801 als Sohn eines Zuchthaus- und Leihbankverwalters in der fürstlichen Kleinresidenz Lippe-Detmold geborene Dramatiker Christian Dietrich Grabbe (1801-1836), neben Georg Büchner der heute unbestritten wichtigste Wegbereiter des modernen Dramas im frühen 19. Jahrhundert, als Visionär des Medienzeitalters und luzider Geschichtskritiker aber in seiner Zeit eben auch lediglich einer der vielen Autoren, die "ein Publikum nur in der Zukunft" (Bourdieu) haben sollten, bietet mit seinem ostentativ nach außen getragenen Antiklassizismus ein frühes Beispiel für die Positionierungskämpfe, die das sich herausbildende literarische Feld bestimmen und als solche überhaupt erst durch die Ausdifferenzierung des Literaturmarktes möglich wurden. Mit Grabbe, dem seine bürgerliche Existenz als Militärrichter (Auditeur) nicht genügte und der hinausstrebte in die Welt des Theaters, dem er in seiner Zeit aber als unspielbar galt, richten die folgenden Ausführungen die Aufmerksamkeit auf den Vormärz als historisch gesehen relativ offene Phase der Modernisierung, die sich im Rückblick als "Suchbewegung des Experimentierens" zwischen zwei relativ stabilen Literatursystemen darstellt: nämlich desjenigen der Goethezeit (das um 1830 relativ abrupt zusammenbricht) und dem des Realismus (in dem sich das System um 1850 restabilisiert). Die Klassifikationskämpfe, die nach Bourdieu das literarische Feld strukturieren, treten in dieser "'Labor'-Zeit", in der konträre Diskursformationen (Klassik, Romantik, Biedermeier, Vormärz) neben- und gegeneinander bestehen, besonders anschaulich zutage.
It can hardly be disputed that the theme of popularity is central to the Enlightenment. Popularity is the sociality equivalent to the individual appeal: 'Dare to know.' Parallel to this runs the following imperative: 'Dare to encourage your neighbour and your fellow man and woman to think on their own – even though they do not belong to the erudite elite.' It is also undeniable that Romantic authors and philosophers polemically attempted to tear down the popularity project of the Enlightenment, their main criticism being its tendency towards mediocrity. It is less well known that Romantic authors and philosophers themselves, around the turn of the nineteenth century, made popularity their central concern. To quote Friedrich Schlegel in the journal Athenaeum: 'The time of popularity has come.' This article explores the Romantics' alternative conception of popularity, with especial reference to Johann Gottlieb Fichte and the Grimm Brothers. To this end, it is helpful to reconstruct the background of the Romantic attempt to create an independent concept of popularity: the debate between Immanuel Kant and the German popular philosopher Christian Garve on the necessity, possibilities, and limits of popularity.
Ein armer Student und angehender Dichter gedenkt, seine schlechte Kasse durch Kopieren von Manuskripten bei einem etwas dubiosen Hofrat und Archivarius aufzubessern, der, wie gemunkelt wird, in seiner einsamen Villa am Dresdner Stadtrand Alchemie betreibe. Wenn sich Anselmus, so lautet der Name des studentischen Helden in E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Der goldne Topf", auch im gewöhnlichen Leben etwas tolpatschig, ja zerstreut benimmt, seiner Schreibkünste ist er sich doch sicher. Um so schlimmer ist für ihn die Einsicht, daß sein ganzer Stolz, "seine Handschrift in elegantester englischer Schreibmanier" dem Archivar, seinem neuen Lehrmeister, überaus mißfällt.
Sucht man in den als "Kompendium der romantischen Schule" apostrophierten 'Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst', die August Wilhelm Schlegel in Berlin 1801 gehalten hat, nach der Einschätzung und systematischen Einordnung der Tanzkunst in die Kunstlehre der Romantik, so findet man eine zwiespältige Konstellation vor. Auf der einen Seite gehört die Tanzkunst durch ihre exzeptionelle Verbindung von Wort, Ton und Gebärde zur "Ur-Kunst", ist also somit zugleich durch ihr Bündnis mit Poesie und Musik "der Kern der sämtlichen Künste"; auf der anderen Seite ist die Tanzkunst genau durch diesen "unheilbaren Akt" der "untrennbaren" Anbindung an Poesie und Musik zu der Rolle einer "untergeordneten Kunst" verdammt. Denn, so die Argumentation Schlegels, die Tanzkunst hat "die Wortsprache nötig", genauso wie sie "nie der Musik entraten kann". Kurz: aus der Sicht August Wilhelm Schlegels ist die Tanzkunst als Einzelkunst nicht autonomiefähig, sodass sie trotz ihrer Ursprungsaura nicht zu den höchstfavorisierten Künsten um 1800 zählt.
Als methodisches Rüstzeug bieten sich im Falle des hier verfolgten Themas vier Zugänge an: Erstens eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der jüdischen Neuromantik, gegliedert nach verschiedenen Phasen (Vorgeschichte, zionistische Auslegung, ästhetische Kontroversen). Zweitens ein kulturwissenschaftlich ausgerichteter Konstellationsforschungsansatz. [...] Drittens bietet sich das Thema jüdische Neuromantik geradezu dafür an, die jüngst im englisch-amerikanischen Theoriefeld wieder aufgegriffenen methodischen Überlegungen zu kulturwissenschaftlich ausgerichteten "translation studies" einzubeziehen; [...] Und schließlich erscheint eine begriffliche Differenzierung nützlich. Im Blick auf die kulturpolitisch ausgerichtete zionistische Bewegung dürfte es angemessen sein, von einer "Wiederaufnahme" romantischer Vorgaben aus der Zeit um 1800 zu sprechen. Der zeitgenössische kulturpoetisch-ästhetische Versuch einer genaueren Charakterisierung neuromantischer Gattungen und Schreibweisen dürfte allerdings treffsicherer mit dem Begriff "gesteigerte Wiederkehr" umschrieben werden können.
Welchen Wert hat das Ungeschriebene für die Literaturwissenschaft? Die intuitive Antwort wäre wohl: keinen, beschäftigt sich die Philologie als Realwissenschaft doch mit dem tatsächlich Vorliegenden … einerseits. Andererseits ist das bloß Imaginierte nicht nur eine starke kreative Kraft und notwendige Vorstufe des Geschriebenen im Prozess des Schreibens, es kann als Spielmarke nicht bloß der Selbst-, sondern auch der Fremdanregung dienen, als Ankündigung, Absichtserklärung, Versprechen etc. Diese Phantomliteratur erhält also erstens eine Wirkkraft, obwohl sie nicht vorhanden ist, sie ist zweitens stets textuell oder zumindest parasitär textuell, weil sie als Referenz benannt sein muss, ihre Planung und der Wille zum Text, wie ernsthaft auch immer er gemeint ist, muss zumindest angedeutet werden. Und drittens liegt ihr irritierendes und mithin aktivierendes Potential genau darin begründet, dass sie nicht vorliegt, da sie als Störfall stets die Bedingungen der Produktion und unartikulierte Vorannahmen sichtbar macht, aber ebenso Akteure des literarischen Feldes dazu zwingt, sich zu ihr zu verhalten. Der Wert des Ungeschriebenen ist folglich nicht stabil, schwankt, je nachdem, welche Rolle ihm zugemessen wird, ob man versucht, das Ungeschriebene zu verdrängen, zu tilgen oder es bewusst ausstellt und selbstgenerativ für neue Projekte heranzieht.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignete sich eine historisch besondere, womöglich einzigartige Konstellation zwischen Dichtung und Ethnologie, ermöglicht dadurch, dass sich avantgardistische Dichter wie Robert Müller, Alfred Döblin oder Michel Leiris ethnologischen Erfahrungsbereichen öffneten, andererseits eine "strukturale" Ethnographie entstand, die mit den metaphysischen Traditionen des westlichen Denkens ebenso brach wie mit der eurozentrischen Perspektive und der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, lange bevor der
Postcolonial Turn ausgerufen wurde.
Obgleich Bilder sich also offensichtlich von den Dingen der übrigen Welt grundsätzlich unterscheiden, breitet sich in der postmodernen Gegenwart, einem verbreiteten Diskurs zu Folge, ein Erfahrungs- und Handlungsraum aus, in dem Bilder ganz umstandslos das Reale zu ersetzen vermögen. Die Rede von einem "Reich der Bilder", in dem ein perfekter und zudem interaktiver Illusionismus reale Anwesenheit hat obsolet werden lassen, ist fast zu einem Gemeinplatz geworden. Die folgenden Ausführungen handeln von einer Substitution des Realen durch Bilder und sind insofern von einer postmodernen Befindlichkeit und der zu dieser gehörenden Vertrautheit mit einer sich aus Bildern konstruierenden Welt durchstimmt. Aber auch wenn einige der aufgeführten Beispiele der visuellen Kultur der letzten Jahre entnommen sind, hat die Bildinvasion, um die es hier geht, nichts zu tun mit der Aufrüstung der Lebenswelt zur aus perfekten Simulakren bestehenden Hyperrealität, wie sie die digitale Bilderproduktion in vielen Lebensbereichen bewerkstelligt. Thema ist ein eher versponnenes Phänomen, das als eine eigenartige Blüte ganz unabhängig von dem aktuellen "pictorial turn" aus der visuellen Weltaneignung, wie sie das "Augentier" Mensch in allen Epochen betreibt, hin und wieder erwächst. Vorgestellt werden Wahrnehmungen und Repräsentationen, bei denen die Sichtbarkeit, in die das Sehvermögen die Dinge der Welt "entbirgt", einen Überschuss produziert und sich, in einer eigentlich absurden Übertreibung, zu einer vorgeblich den wahrgenommenen Dingen selbst angehörenden Bildhaftigkeit kristallisiert. Das Kulturprodukt Bild – das die Menschen erfunden haben, um der Sichtbarkeit der Dinge eine von deren Materialität abgetrennte und semantische sowie ästhetische Effekte ermöglichende Auftrittsbühne zu eröffnen – scheint in einer paradoxen Wendung das Aussehen der Dinge selbst zu sein. Den gesehenen Dingen wird die Textur eines Bildes unterstellt.
Research has contended youth is an "invention" of the 18th century. This thesis does not contest the fact that youth was already known and accepted as a stage in life even earlier. Certain basic anthropological patterns of youthfulness, for example nonchalance, instability, recklessness, exaggeration, bashfulness looking forward to the future and the ability to make friends have been rhetorically implied, repeated and cited as a matter of course since the time of Aristoteies. The pointed thesis that the concept of youth only arose in the 18th century accentuates that youth as an autonomous way of life is a characteristic of the Modern Age.
Interkulturelle Literatur
(2008)
Eine Lösung zum umstrittenen 'Bezeichnungswirrwarr', mit dem die Literaturwissenschaft die interkulturelle Literatur zu erfassen trachtet(e), scheint es noch nicht zu geben. Das anfänglich kaum beachtete, mit der Zeit jedoch an die Öffentlichkeit tretende Phänomen der interkulturellen Literatur entstand in den siebziger Jahren in den Kreisen der ausländischen Arbeitskräfte, die in den Jahren des deutschen ökonomischen Booms angeworben wurden. "Gastarbeiterliteratur", "Literatur der Betroffenheit", "Migrantenliteratur", "Migrationsliteratur" und "Auslainderliteratur" stellen einige Beispiele der Benennungsversuche dieser Literatur dar, die sich nicht eindeutig mit der Kategorie der Nationalliteratur erfassen läßt. Obwohl diese Begriffe sich als problematisch erweisen, scheint ihre Existenz in der literaturwissenschaftlichen Diskussion so hartnackig verwurzelt zu sein, daß neue Versuche, dieser Literatur begrifflich gerecht zu werden, immer noch ins Leere laufen. An dieser Stelle sei ein Blick auf einige dieser Ansätze geworfen.
Die Frage nach dem "Erbe der Literatur" steht ihrerseits in einer Erbfolge. Nach 1945 stellte sie sich schon einmal im Kontext der Legitimierung einer sich neu definierenden Gesellschaftsformation. Der Anspruch der DDR, ein Hort der Bewahrung und Pflege des klassischen, bürgerlich-humanistischen Erbes zu sein, wurde in der westdeutschen Sicht der sechziger Jahre kritisch umgedeutet als Kulturkonservatismus, Traditionalismus und Antimodernismus, die als "bürgerliche" Haltungen genuin sozialistisch-revolutionäre Neuerungen und Traditionen abblockten. Erst in den siebziger Jahren wurde die literarische Erbetheorie in der DDR grundsätzlich reformuliert und für Modernisierungen zugänglich. Wie stellt sich aber die Frage nach dem (bürgerlichen) Erbe in der ostdeutschen Literatur nach der Wiedervereinigung? Hier können nur einige historische Skizzen und ästhetische Teilaspekte in einer feldanalytischen Perspektive im Sinne der Soziologie Pierre Bourdieus vorgestellt werden. Sie münden in die Betrachtung eines spezifischen Erbes von drei Vertretern der sogenannten Generation der "Hineingeborenen", nämlich Ingo Schulze, Durs Grünbein und Uwe Tellkamp.
Die "imaginäre Rache" der Unterlegenen erzeugt eine unglaubliche Dynamik: die "Wortergreifung" des Ressentiments, welche den Kampf der Rassen und der Klassen bewegt, nicht zuletzt die Wortführer in Gang setzt, die Intellektuellen: eine Gruppierung von Individualisten am Rande der Gesellschaft, die, was die Literatur angeht, ihr Ressentiment ungemein beredt macht, wortgewaltig und zerstörerisch, letztlich auch gegen sich selber. Nur dieser Komplex einer Verhaltens- und Handlungsweise aus einer tatsächlichen oder auch nur gedachten und gefühlten Unterlegenheit heraus soll mich im folgenden beschäftigen.
Da das Singuläre im Aktionsbereich des Literarischen einen angestammten Ort der Verhandlung und der Ausgestaltung hat, stellt sich die Frage, inwiefern der Literatur selbst eine hiatische Funktion, das heißt die Funktion einer "Atemwende", eines Richtungswechsels, oder weniger luftig gedacht: die Funktion eines Aktes, einer Veränderung bewirkenden Kraft zukommt.
Die Literaturgeschichte quillt über on Werken über den Krieg, aus dem Krieg, mit dem Krieg, gegen den Krieg. Ein Heldenepos schien jahrhundertelang nicht anders denkbar denn als Erzählung von Kämpfern, Kriegern, Eroberern. [...] Im 20. Jahrhundert entstehen, oft im Widerspruch zu solcher Privatisierung, neue Formen, mit dem Krieg, der dieses Jahrhundert noch entsetzlicher traf als vorhergegangene, literarisch fertig zu werden: Dokumentation, Erlebnisbericht, Lautgedicht, Medienkritik, aber auch Schriften, in denen Kriegskameraderie als Alternative zur bürgerlichen Lebenswelt erscheint. Die Jugoslawienkriege der neunziger Jahre haben Europa auch außerhalb der unmittelbar betroffenen Gebiete erschüttert. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur haben ich in den letzten Jahren nicht wenige Autoren mit zeitgenössischen Kriegen befaßt. Aus der Fülle von Texten greife ich drei nicht-fiktionale heraus; drei Reiseberichte, wenn auch höchst unterschiedlicher Natur, von Angehörigen verschiedener Generationen verfßt. Peter Handke ist ein Kriegskind, 1942 geboren; Juli Zeh, Jahrgang 1974, hat die Jugoslawienkriege als Jugendliche über die Medien mitbekommen, Peter Waterhouse, Jahrgang 1956, steht zwischen den beiden Generationen, sein Vater war sowohl im Zweiten Weltkrieg wie auch im Kalten Krieg in einer Weise aktiv, die für den Autor Beweggrund zu vielerlei Fragen ist.
Die Erfahrung ist wohl jedem bekannt, der schreibt und liest, daß ein Satz dann verstanden ist, wenn man das, was er besagt, auch anders formulieren könne. Andererseits gibt es eine eigentümliche Resistenz auch verstandener Worte, ihren Gehalt einfach in neue Formen umzugießen - es gibt zumal im poetischen Text eine Verschmelzung von Evidenz und Einzigkeit, und zwar auch für den Verfasser eines solchen Textes. Nicht ohne Grund scheidet man die "intentio auctoris" von der "intentio operis", gerade am eigenen Text ist dieses Sich-Entziehen des Wortes vielleicht sogar am drastischsten und geradezu bestürzendsten zu sehen.
Die Neuen Kriege seit dem Epochenbruch von 1989 sind Thema der Gegenwartsliteratur geworden, und sie sucht im Raum der Fiktion eine eigene Anschaulichkeit und spezifische Vorstellungen vom Charakter dieser neuen Konflikte zu erzeugen. Zugleich sind diese Neuen Kriege ein Gegenstand der disziplinär erfaßten Diskurse der Wssenschaften, die nach den kurzen Friedenserwartungen im Anschluß an 1989/90 eine Theorie der Kriege im Zeichen einer neuen Globalisierung verstärkt diskutieren. Wenn das gegenwärtige Denken des Krieges literarisch und außerliterarisch seine Kontur gewinnt, erscheint die Relationierung beider Felder geboten, wie in einem neueren literaturwissenschaftlichen Forschungszweig nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen bzw. von literarischen Texten und wissensehaftlichen Diskursen gefragt wird. Das Thema Neue Kriege läßt sich jedoch hier aus zwei Gründen nicht umstandslos einreihen. Der eine Grund ist theoretisch-methodischer Art. Nur die Dualität von disziplinär verfaßten historisch-politischen Diskursen und literarischem Text in den Blick zu nehmen ist zu wenig differenziert. Es ist nötig, sie um eine dritte Dimension zu erweitern: den Komplex der Medien, die als Wissensgeber vom Krieg, als eigene Kriegsmittel und als Gegenspieler der Literatur fungieren.
Beim Nachdenken über die Logik des Nachs im modernen Diskurs drängen sich [...] eine Reihe offener Fragen auf, die uns gegebenenfalls in die Lage versetzen, das Nachdenken über das Nach als eine Art von Nach-Denken aufzufassen. Um zu diesem Bindestrich zu gelangen, könnte zunächst gefragt werden, was es wohl bedeuten möge, wenn es heißt, daß etwas einem anderen "folge". Was hieße es demnach, einem Nach nachzudenken? Markiert das Folgende einen klaren Bruch mit dem Vorausgegangenen, oder schreibt es vielmehr das ihm Vorausgehende in gewisser Weise fort, weil es unausweichlich den Begriffen und Bedingungen dessen verhaftet bleibt, von dem es geglaubt hatte, Abschied genommen zu haben? Ja, ist nicht gerade die Abkehr und das auf sie Folgende eine Art und Weise, nachträglich eben jenes zu stärken und gar zu konnstruieren, desen Verabschiedung die Bewegung des Folgen ja erst ins Leben gerufen hatte?
Aus einem ultranationalistischen Blickwinkel skizzierte Kuffner auf 32 Seiten und fünf beigefügten Karten die aus seiner Sicht notwendige territoriale Neuordnung Europas, die sowohl die allslawische Frage "od Šumavy až po Bajkal či Tichý Oceán" [vom Böhmerwald bis zum Baikalsee bzw. Pazifik] lösen als auch einen dauerhaften Frieden garantieren sollte. Die Hauptrolle dabei hatte er einem neu zu formierenden Staat zugedacht, dem er zwar den Namen "Čechy" (Böhmen) gab, der jedoch nicht nur die historischen Grenzen des Königreichs, sondern auch diejenigen der 1918 gegründeten ČSR deutlich überschritt. [...] Mit dieser überzogenen Denkschrift sollte Kuffer (unbeabsichtigt) einer antitschechischen Propaganda dies- und jenseits der 1919 sanktionierten Grenzen für 20 Jahre Dauermunition liefern: Binnen weniger Jahre avancierte sie zum meistzitierten tschechischen Werk im völkisch-deutschnationalen Schrifttum der 1920er und 1930er Jahre. Man glaubte in Kuffners Schrift "das heimliche Grundkonzept des tschechischen Imperialismus" aufgedeckt zu haben.
Die deutschsprachige Literatur Ungarns (früher des Königreichs Ungarn) blickt auf eine jahrhundertelange Geschichte zurück. Ihre Entwicklung wurde jedoch immer wieder durch Zäsuren geprägt. Die größten Umbrüche wurden zweifelsohne durch den Zweiten Weltkrieg bzw. nach 1945 durch die anschließende Vertreibung und Verschleppung der ungarndeutschen Minderheit unter dem Vorwand der Kollektivschuld verursacht. Die literarische Produktion des Ungarndeutschtums wurde zum Stillstand gebracht; von einem "Neuanfang" kann man erst ab den 1970er Jahren sprechen: Dank der Preisausschreibung der Neuen Zeitung unter dem Titel "Greift zur Feder!" (1972), gelang es allerdings, die zu dieser Zeit "verstummte" ungarndeutsche Minderheit zum Schreiben zu motivieren. Der vorliegende Beitrag reflektiert das Thema "Gewalt und Sprache" vor allem hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen (Staats)Gewalt, der Sprachverwendung und der literarischen Tätigkeit einer ethnischen Minderheit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Nationalitäten- und Sprach(en)politik im kommunistischen Ungarn. Hiermit wird der Frage nachgegangen, unter welchen national-, sprach- bzw. kulturpolitischen Bedingungen sich diese Literaturszene nach dem Zweiten Weltkrieg (neu) gestalten konnte bzw. was die wesentlichen Charakterzüge der literarischen Tätigkeit der sog. Gründergeneration bzw. der sog. "älteren" Generation waren. Daneben sollen die Gründe sichtbar gemacht werden, warum sich manche Autoren für das Schreiben auf Ungarisch oder für die Zweisprachigkeit entschieden haben. Abschließend wird die in der Fachliteratur umstrittene Frage der Rezeption der ungarndeutschen Literaturszene angesprochen. Diese Fragestellung ist besonders relevant, da die Werke ungarndeutscher Autoren oft als Vorzeigeobjekte der sich als mustergültig präsentierenden ungarischen Nationalitätenpolitik rezipiert worden sind. Im vorliegenden Beitrag werden Autorenbiographien näher analysiert, um den "sprachlichen" Hintergrund der ausgewählten Autoren wie Georg Fath (1910–1999), Franz Zeltner (1911–1992), Josef Mikonya (1928–2006), Engelbert Rittinger (1929–2000), Ludwig Fischer (1929–2012), Franz Sziebert (geb. 1929), Márton Kalász (geb. 1934) oder Erika Áts (geb. 1934) zu veranschaulichen.
Geschichts- und Literaturwissenschaft, verstanden als Spezialdiskurse, stehen, so die an dieser Stelle vertretene These, in einem wechselseitig-kommunikativen Verhältnis, das sich sowohl im außerwissenschaftlichen Interdiskurs Literatur als auch im Interdiskurs Geschichtserzählung niederschlägt. Die interdiskursive Konstruiertheit beider Erzähltextformen zeigt sich nicht nur inhaltlich an referentiellen Bezügen, sondern oftmals auch an (gemeinsamen) Erzählformen oder an paratextuellen Elementen. In den nachfolgenden Überlegungen werden die Interferenzen von Geschichtserzählungen und historischen Romanen in den Blick genommen, um an geeigneten Beispielen die konkrete Überführung von Spezialwissen in einen Interdiskurs aufzuzeigen und zu diskutieren. Zugleich soll ein Vergleichsrahmen eröffnet werden, der die Interdiskursivität beziehungsweise interdiskursive Konstruiertheit von Historiografie und Literatur einander gegenübergestellt. Dabei müssen diskursanalytische und narratologische Ansätze miteinander verbunden werden, um der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes gerecht werden zu können. Die zu berücksichtigende Textauswahl beschränkt sich auf die zwei Romane "Imperium" und "Der Komet" und den geschichtswissenschaftlichen Text "The Boy", die in unterschiedlicher Weise interdiskursiv konstruiert sind. Beide Romane, und das ist neben einem allgemein historischen Sujet eines der wenigen inhaltlich verbindenden Elemente, verweisen in der fiktionalen Erzählung an verschiedenen Stellen auf Adolf Hitler und den Nationalsozialismus, und auch die faktuale Erzählung "The Boy" – erkennbar bereits am Untertitel "A Holocaust Story" – setzt sich mit dem Nationalsozialismus auseinander.
[...] ich [möchte] zeigen, wie Barbara Frischmuths Text "Die Entschlüsselung" die Unlesbarkeit von Texten vorführt, indem er zahlreiche unterschiedliche (Wissenschafts-)Diskurse (Genderstudies, Theologie, Kultur-, Literatur- und Geschichtswissenschaft) zu Wort kommen lässt. Frischmuths Text exekutiert, wenn man so will, de Mans Konzept der Unlesbarkeit, ja er erweitert dieses noch, indem er die, in allen Texten angelegte Unlesbarkeit "taktisch verstärkt". Damit wird "Die Entschlüsselung" – wie im Übrigen die meisten von Frischmuths Texten – als ein avantgardistisches Werk lesbar.
Im vorliegenden Themenschwerpunkt wird die zentrale Frage aufgeworfen, wie Literatur in interdiskursiven Formationen durch ihre spezifischen Mittel das Wissen von verschiedener (hauptsächlich jedoch wissenschaftlicher) Provenienz kommuniziert. In den Beiträgen wird auch explizit auf die Problematik der theoretisch-methodologischen Erfassung des Zusammenhangs von Literatur und Wissen eingegangen und die jeweilige Art und Weise der Reflexion des konstruktiven Charakters der Literatur als Interdiskurs modelliert. Dadurch wird auf die Funktion der Literatur fokussiert, von der wir annehmen, dass sie die Spur der interdiskursiven Kommunikation in sich trägt. In dieser Perspektive lassen sich entsprechende Transformationsstrategien und Strukturen herausarbeiten, durch die wir uns in der Regel identifizieren und die Tragsäulen unseres Weltbildes darstellen. Im Wesentlichen jedoch wird der Blick auf die Frage gerichtet, was genau geschieht, wenn Wissensbestände über die Grenzen der Spezialdiskurse hinausgehen, oder genauer, in welchem Verhältnis das Wissen der Spezialdiskurse zu ihrer literarischen Kommunikation steht. Der zuletzt angesprochene Aspekt betrifft auch Fragen der Rezeptionsästhetik. Mit der Fokussierung der Besonderheiten der literarischen Kommunikation, also der Integration und der Darstellung des Wissens der Spezialdiskurse im Spektrum der literarischen Mittel wird ein Bereich betreten, der für die Literaturwissenschaft eine Herausforderung darstellt. Diese Neuperspektivierung rekurriert auf Foucaults Postulat von der Entprivilegierung des Wissens der Spezialdiskurse durch Interdiskurse wie Literatur (korrelierende und kompensierende Funktion von Interdiskursen), indem sie Wissen in Zusammenhänge bringt, die für den gegebenen Spezialdiskurs unzugänglich oder vielmehr unzulässig sind. Das Themenheft versammelt eine Serie von Aufsätzen, die jeweils ganz spezifische Perspektiven auf die aufgestellte Problematik eröffnen.
In meinem Plädoyer für eine Geschichte der deutschen Konversation möchte ich einige Argumente für die Erforschung der historischen Entwicklung dieses flüchtigen Phänomens (also nicht nur seiner Theorie) im deutschen Kulturraum vorstellen und anhand von einigen Beispielen die Möglichkeiten einer Geschichte der deutschen Konversation zur Diskussion stellen. Man könnte fragen: Wozu eine Geschichte der Konversation, dieser ephemeren Erscheinung, die einen beträchtlichen Teil der menschlichen Kommunikation ausmacht und - von welcher Materialbasis kann so eine Geschichte ausgehen? Erst dank der Konversationsanalyse, die es seit den 1960er Jahren gibt (als zum ersten Mal übertragbare Tonbandgeräte eingesetzt werden konnten), besitzen wir akustische Aufnahmen der freien Gespräche und auch die entsprechenden analytischen Mittel, mit denen auf der Mikroebene linguistische Besonderheiten informeller Gespräche exakt erfasst werden können. Diese Mittel können leider nicht bei der Beschäftigung mit längst vergangenen Gesprächen eingesetzt werden. Die historische Erfassung solcher Konversationen erscheint uns dennoch wichtig.
Das theoretisch-psychologisch sowie kulturwissenschaftlich relevante Thema "Gewalt", ist aus der Literatur nicht wegzudenken, hierbei gilt es jedoch zu beachten, dass sich gewisse Strömungen oder Epochen als besonders gewaltaffin erwiesen haben. Der Literatur wohnt die Fähigkeit inne, Gewalt zu erzeugen, zu inszenieren sowie zu gestalten. Diese sollte zugleich als ein Medium begriffen werden, in das kulturelle Codes einfließen, die dann entweder kritisch oder affirmativ reflektiert werden. Peter Henischs Roman "Schwarzer Peter" schreibt sich in den Diskurs über Multikulturalität bzw. über die mangelnde Akzeptanz dieser in Österreich der Nachkriegsjahre ein, wobei man dem Plot eine gewisse zeitlose Aktualität nicht absprechen kann. Der Autor geht auf ein eminentes politisches Thema ein, unternimmt jedoch keinen Versuch, die Repressionen, denen die titelgebende Hauptfigur ausgesetzt ist, zu plausibilisieren oder Legitimationsmuster für diese zu entwerfen. Vielmehr ist sein Roman als eine kritische Stimme in der Debatte über Minoritäten bzw. als ein Versuch zu sehen, im Namen dieser, die marginalisiert werden, das Wort zu ergreifen. Dies überrascht nicht angesichts der Tatsache, dass Henisch mehrmals öffentlich seine Besorgnis ausgedrückt hat, dass die österreichische Identität durch die unbewältigte Nazi-Vergangenheit konstituiert wurde und die Notwendigkeit der Aufarbeitung dieser betonte.
In der österreichischen Literatur entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhundertskeine literarische Bewegung, die mit der deutschen Romantik vergleichbar wäre. Der Aufenthalt und ausgedehnte Tätigkeiten vieler deutscher Romantiker in Wien jedoch hatten Auswirkungen auf das geistig-kulturelle und literarische Leben in Österreich und führten zu heftigen Debatten und wortgewaltigen Polemiken in der literarischen und journalistischen Szene. Die Aufklärungspostulate hatten in Wien Prämissen gesetzt, die das kulturelle Leben der österreichischen Länder bis weit in das 19. Jahrhundert hinein stark beeinflussten.
Zwar hatte Loos seinen Feldzug gegen das Ornament schon um 1900 begonnen, doch entwickelte keiner seiner scharfzüngig formulierten Essays eine größere Sprengkraft als der 1908 erschienene Aufsatz "Ornament und Verbrechen", dessen Hauptthesen er zugleich erfolgreich in wirkungsvollen Vorträgen popularisierte. Er wandte sich darin gegen den historistischen Fassadenstil der Wiener Ringstraßenästhetik und gegen die Formensprache sezessionistischer Strömungen, propagierte eine an Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit orientierte Baukunst und verteufelte die seiner Meinung nach überflüssige Dekorationswut, die aus der Verbindung zwischen Kunst und Kunsthandwerk im Gefolge der Arts-and-Craft-Bewegung hervorgegangen war. Trotz oder wegen der kontroversen zeitgenössischen Aufnahme hatten die kämpferischen Thesen eine vielfältige Wirkungsgeschichte. Sie beeinflussten nicht nur nachhaltig die architektonische Praxis bei der Herausbildung des internationalen Funktionalismus, sondern auch puristische und elementaristische Strömungen in der bildenden Kunst sowie allgemeine ästhetische Theorien und hinterließen bis ins 21. Jahrhundert hinein Reflexe in literarischen Texten.
Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) foi um dos dramaturgos mais importantes da história do teatro da Áustria. Ator e autor aclamado durante seu tempo, é também nome de referência e enorme influência para muitos escritores austríacos canônicos do século XX e do começo do XXI, que até hoje se definem como devedores de sua poética dramatúrgica (por exemplo, Karl Kraus ou Elfriede Jelinek). Este artigo, além de destacar o papel do dramaturgo com "ancestral" para uma parte da literatura austríaca, lança um olhar sobre a única tradução de uma peça de Nestroy disponível no Brasil ("Cacique Vento-da-Tarde ou O festim do horror", publicada em 1990), com o intuito de colocar em questão a visão recorrente da obra de Nestroy como "intraduzível".
Der Artikel behandelt eine Tendenz in der jüngsten österreichischen Literatur, die dem Hassen ungebremst und umfangreich Raum gibt, und zwar nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form. Das ist wesentlich eine antikulturelle Entscheidung, insofern das Grundverständnis unserer Kultur vielfach ein humanistisches ist. Wegbereiter für freies Hassen sind natürlich auch die sogenannten Sozialen Medien. Bemerkenswert: Es sind vor allem junge Frauen, die hassen. Insofern hat das literarische Hassen auch eine feministische Komponente. Der Artikel will nicht nur das Hassen als einen erstklassigen literarischen Schreibanlass rechtfertigen (wie andere Gefühle auch, Liebe, Trauer, Angst, Sehnsucht), sondern auch darauf aufmerksam machen, dass das literarische Hassen in unserer Kultur Tradition hat: Elfriede Jelinek, Ernst Jandl und Werner Schwab sind daher eigene Abschnitte gewidmet. Sie laufen auf den Nachweis hinaus, dass eine elende Existenz/Welt nicht nur die Schreibinhalte bestimmt, sondern die Sprache selbst deformiert, bis ihre Form so aussieht wie die Inhalte, d.h. höhere Authentizität erreicht ist.
Formalização estética e história na Áustria: anotações sobre Ingeborg Bachmann e Thomas Bernhard
(2021)
Neste artigo, partimos de um momento representativo da história austríaca, no final dos anos 1950, marcado por alguns desenvolvimentos no plano da vida social que buscavam parceria e harmonia, sem lidar com seu passado em relação ao nazismo. Contra essa situação se insurgem alguns autores fundamentais para a literatura austríaca, buscando formalizações estéticas que efetivam uma localização histórica crítica, que deve muito à perspectiva do materialista histórico benjaminiano. O recorte desse artigo recai sobre duas obras: o conto "Unter Mördern und Irren" (escrito em 1956-7, publicado em 1961), de Ingeborg Bachmann e o romance "Auslöschung" (1986), de Thomas Bernhard.
Der Aufsatz nimmt die literarisch-publizistischen Lebenswelten der österreichischen Exilanten Leopold von Andrian, Paul Frischauer und Otto Maria Carpeaux in den Blick. Sie hatten ähnliche politische Sozialisationen im Österreich der Zwischenkriegszeit, mussten aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihres politischen Engagements Österreich verlassen und lebten in oder nahe Rio de Janeiro. Was Carpeaux, Frischauer und Andrian von Tausenden anderer Flüchtlinge unterschied, waren ihr Status und ihre politischen Kontakte. Sie waren materiell privilegierter, der harte Überlebenskampf vieler anderer blieb ihnen erspart; trotzdem waren sie Vertriebene und Heimatlose. Frischauer und Andrian kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über Umwege in ihre Heimatländer zurück, Carpeaux blieb, wurde zum Brasilianer und hinterließ ein starkes Vermächtnis. Dieser Aufsatz beleuchtet ihre Haltung, ihre Rollen und Arbeiten im brasilianischen Exil kritisch und analytisch. Er bietet und verknüpft drei biographische Erzählungen. Während der Monarchist Leopold von Andrian an der Restauration der Habsburgermonarchie festhielt, öffnete sich der jüngere, opportunistische Flüchtling Paul Frischauer als Biograph des Diktators Vargas Türen zur Macht. Otto Maria Carpeaux hingegen, der wie Andrian ein Theoretiker des autoritären österreichischen Ständestaats gewesen war, transformierte sich zum Brasilianer, zum heimischen Literaturpapst und transatlantischen Brückenbauer.
Este artigo propõe-se a mapear, por meio de seus registros literários, alguns momentos da longa e ambivalente história do processo de integração e assimilação dos judeus à cultura austro-alemã - uma história que se inicia já nos últimos anos do século XVIII, e cujos reflexos literários reverberam século XXI adentro. A contraposição entre uma visão essencialista de cultura e outra fundamentada no conceito alemão de 'Bildung' é o princípio fundamental que opera nos diferentes desdobramentos desta história aqui analisados, e gera dúvidas e perplexidades ainda hoje significativas para o estudo da literatura austro-judaica.
Dieses thematische Dossier, das von zwei brasilianischen Universitätsprofessoren österreichischer Herkunft organisiert wurde, und dessen Beiträge Österreich und seine Literatur in Brasilien und aller Welt behandeln, versammelt 15 Artikel österreichischer, deutscher und brasilianischer ForscherInnen der verschiedensten Disziplinen der Geistes- und Sprachwissenschaften als auch der Philosophie und Geschichte. Es ist in erster Linie eine Hommage an die kürzlich gegründete Österreichsammlung der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ), die sich auf brasilianischem Boden als Referenz- und Angelpunkt in Sache österreichische Kultur, Geschichte und Literatur versteht als auch als Sprachrohr für diesbezügliche Kurse, Veranstaltungen, Ausstellungen und Projekte.
Este dossiê temático - organizado por dois professores universitários brasileiros de nascimento austríaco - cujas contribuições abordam a Áustria e sua literatura no Brasil e no mundo, reune quinze artigos de pesquisadores austríacos, alemães e brasileiros das mais várias áreas de Letras além de Filosofia e de História. A motivação pela sua organização é homenagear a recentemente fundada Coleção Austríaca da Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ) que se entende como ponto de referência em assuntos de cultura, história e literatura austríacas em solo brasileiro e como porta-voz de cursos, eventos, exposições e projetos relacionados às mesmas.
Die Übersetzung, insbesondere die literarische, ist vor allem eine Art Kulturübertragung. Neben der Beherrschung der Sprachen setzt sie die Kenntnis des Allgemeinen und Besonderen des Landes wie Kultur, Tradition, Glauben, geschichtliche und gesellschaftliche Begebenheiten und auch soziale Strukturen voraus. Wenn die Sprachen und Kulturen tiefgreifend wahrgenommen werden, können die übersetzten Texte die Adressaten erreichen, d.h., dass die Ausgangssprache und -kultur für die Zielrezipienten verständlich sein können. So wird der Übersetzer als Kulturträger angenommen. Cornelius Bischoff ist beispielsweise ein wohlbekannter Name für den deutschen und türkischen Literaturkreis. Er ist vor allem bekannt als "der deutscheste Türke und der türkischste Deutsche" sowie als eine Brücke zwischen Deutschland und der Türkei. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Cornelius Bischoff, einen Kulturträger zwischen der deutschen und türkischen Übersetzung, zu behandeln. Als ein "Haymatloser" fand er in der Türkei die Möglichkeit, die türkische Sprache und Kultur wesentlich kennenzulernen und viele türkische Werke ins Deutsche zu übersetzen. Als ein Übersetzer trug er zuallererst dazu bei, die türkische Literatur, die bedeutenden türkischen Schriftsteller, die türkische Kultur und Tradition sowie den türkischen Sprachgebrauch in Deutschland bekannt zu machen. In der vorliegenden Arbeit wird die Besonderheit Bischoffs in der Übersetzungswelt im Hinblick auf drei Aspekte diskutiert: zuerst im Hinblick auf den Zusammenhang seiner Wurzeln in der Türkei und im Türkischen - schon in seinen Wurzeln, besonders mütterlicherseits, wurde das Türkische verinnerlicht -, dann auf die in der Türkei verbrachten Jahre - die Jahre, in denen er "haymatlos" genannt wurde - und zuletzt auf die Wahrnehmung und Aneignung der türkischen Sprache, Kultur und Gesellschaft - was auf ihn lebenslang einwirkte. In diesem Kontext wird versucht, sein Leben, seine Werke und seine Wirkung im Rahmen der übersetzerischen Tätigkeit zu analysieren.
El presente artículo propone estudiar a una figura destacada del movimiento expresionista alemán poco conocido en lengua española: Georg Heym. Notorio especialmente por su poesía y la fuerte influencia que ejerció en el desarrollo de la lírica en la Alemania del siglo XX, el estudio busca explorar la faceta menos conocida del autor: sus 'Novellen'. A través de este género, el autor radicaliza sus exploraciones estéticas, al mismo tiempo que expone las formaciones ideológicas de la burguesía del Imperio Alemán. En este sentido, el presente trabajo también ofrece una lectura política y las consecuencias de la creación artística expresionista en la configuración espiritual del nacionalsocialismo y la identidad alemana. Para indagar a profundidad dichas relaciones entre filosofía, política y literatura en la Alemania guillermina, se toma en consideración una selección de las 'Novellen' más emblemáticas del autor. Teniendo en cuenta esto, el artículo presenta una lectura renovada de un autor fundamental en la historia de la literatura alemana.
Filipe Melanchthon é uma das figuras proeminentes na Reforma e no Humanismo renascentista alemães, embora no Brasil esta segunda característica não seja muito bem conhecida. Sua obra como um todo tem uma base teológica com a qual ele pretendia também favorecer os estudos acadêmicos, principalmente, mas não só, no que hoje é chamado de Ciências Humanas. O presente texto mostra como ele utilizou a distinção teológica entre lei e evangelho para configurar o espaço das então assim chamadas 'artes' na universidade pré-moderna alemã tardia. A ênfase aqui está nos estudos literários e linguísticos e na abordagem ética deles, favorecida por ele.
Analisando menções ao mito de Orfeu feitas por Heiner Müller, principalmente o poema em prosa "Orpheus gepflügt" e a peça "Der Bau", inquire-se em que medida e como a exposição desse mito pode relacionar-se com uma caracterização do poeta que serve de referência ao autor e, porventura, até justificar elementos de sua poesia e poética. Como resultado dessas investigações, indica-se que, no contexto de "Orpheus gepflügt", distinguem-se objeções à figura de Orfeu. Não obstante, a representação de seu mito conforma uma justificativa para o fazer do poeta em H. Müller. Em "Der Bau", ele é inicialmente uma figura repelida, da qual se distancia e até se escarnece, contudo, delineiam-se, por fim, convergências e mesmo uma identificação entre o poeta que se apresenta na peça e Orfeu. Considera-se que, com essas designações do mito de Orfeu, H. Müller expõe um tipo de defesa e legitimação do seu "trabalho com mitos" na própria poesia. Ao longo deste escrito, a articulação de fontes antigas para a representação do mito por H. Müller é perscrutada.
Este artigo explora a noção de extemporaneidade tomada como um traço distintivo do modelo temporal adotado pelos classicistas de Weimar, por Goethe em particular. Concebe o "extemporâneo" como um preceito e uma prática que supõe um movimento de dissociação do tempo presente e da pessoa do autor. Com base no ensaio "Sansculottismo literário" e na tradução da "Vida" de Benvenuto Cellini, publicadas originalmente no periódico "As Horas" ("Die Horen"), procuro esboçar o elo entre a resposta à Revolução Francesa e a reflexão sobre autoria, e discutir os limites da "extemporaneidade" de Goethe como meio de implementar a autonomia artística.
Das Kanon-Motiv "Der Wanderer" im Denkraum Sarmatien, ausgehend von Johannes Bobrowskis Gedicht
(2015)
Nach Bobrowskis Statement ist auch der Kanon eine "Vorstellung", die "zuende" geht, dennoch liegt in diesem klaren Eingeständnis gleichzeitig für ihn die Verpflichtung zu einer "Überschau", zur Darstellung von "Bindungen" in einem 'tiefen Verständnis', zu einer Allgemein-'Gültigkeit' trotz vergangener und zukünftiger Verlusterfahrungen. Wenn Kanon, dann in diesem neuen Sinne, im Bewusstsein einer Herkunft und eines Weiterziehens in eine andere, fremde Zukunft, in der offenen Beweglichkeit von Lebensräumen im Plural, in einer Bereitschaft zum Gehen im Spannungsfeld der Beobachtung von 'Vergehendem' und 'Noch-nicht-ganz-Vergangen-Sein'. [...] der Kanon [erweist sich] in Form des Motivs "Wanderer" als gattungsübergreifendes – hier Lyrik und Prosa – Narrativ in klarer chronologisch-topographisch-logischer Struktur. Das Wandern als Bewegung in Zeit und Raum ist Modell für eine Wandlungsbereitschaft, die erst Orientierung für das Leben in der Zukunft bietet.
Ao analisar o drama "Os bandoleiros" (1781), de Friedrich Schiller, este artigo defende a tese segundo a qual o pensamento antropológico desenvolvido à época do iluminismo tardio alemão serve de fundamento não apenas para os discursos médico e historiográfico, mas também para uma parcela significativa da produção literária do período. Para tanto, na primeira seção deste artigo, investigam-se as bases de formação da cultura letrada e, particularmente, da cultura médica alemã na segunda metade do século XVIII, bem como as discussões à época vigentes em torno do conceito de antropologia. Na segunda e na terceira seções, discutem-se as tendências da pesquisa contemporânea que exploram os pontos de contato entre o conhecimento histórico, o pensamento antropológico e a produção literária no século das Luzes. Esses passos fundamentam a tese aqui defendida e segundo a qual o modo de representação literária operado por Schiller em "Os bandoleiros" é expressão direta do projeto de compreensão - em termos antropológicos - das totalidades integradas do homem e da história da humanidade.
Este artigo tem como objetivo apresentar e discutir a tradução do texto "Die Lesung" (In: HELMINGER, Guy, 2001, p. 84 a 95), que esteve dentre os contos traduzidos pela autora na prática de "Estágio Supervisionado do Alemão I". Guy Helminger, o escritor traduzido, é luxemburguês de nascença e cosmopolita de profissão. De suas viagens e estadas pelo mundo, publicou, entre outras obras, "Die Allee der Zähne: Aufzeichnungen und Fotos aus Iran" (2018) e "Die Lehmbauten des Lichts: Aufzeichnungen und Fotos aus dem Jemen" (2019). "Rost", um de seus livros de contos, teve a primeira edição publicada em 2001, agraciada pelo Prix Servais em 2002, e a reedição publicada em 2016 (CAPYBARABOOKS e CONTER E JACOBY (200[2?])). "Die Lesung" ("A sessão de leitura") compõe a segunda parte do livro, que é dividido em três. O conto narra em onze agoniantes páginas as peripécias enfrentadas por Robert Fritzen em uma sessão de 'leitura de obra pelo próprio autor'. Impressionado pelo estofamento das cadeiras ou distraído por tossidas e fios de cabelo, Fritzen é engolido por neuras. Se o texto deve qualquer parte do seu valor estético à irritação que pode/tenta causar no leitor, traduzi-lo esteve, pelo contrário, longe de ser irritante: Helminger apresenta um texto desfrutável, mesmo sem contar com nenhum acontecimento trágico (como nos demais textos do livro). Dentre as dificuldades de tradução, se destaca o desfio de manter a linguagem realista, como caracteriza Weidner (2002), na descrição de eventos que beiram o surrealismo - ou a loucura.
Este artigo tem o intuito de investigar conceitos atuais que designam a escrita de autores migrantes, sobretudo, os refugiados cuja escrita ultrapassa os limites biográficos e nacionais, ausente a possibilidade de alocação de suas escritas em qualquer classificatória. Apesar de esforços ao longo da história dos estudos literários de desagregar os escritos desses autores à sua origem, na tentativa de retirar um crivo nacional, vê-se em historiografias literárias recentes certo apego ao ideário constitutivo da nação na denominação das literaturas escritas por migrantes. Como exemplo dos escritores outrora refugiados na Alemanha e sua recente produção, este artigo propõe a ideia mundialização desses escritos, em uma espécie de nova 'Weltliteratur'.
Experiências migrantes, embora distintas, são geralmente acompanhadas de uma sensação de exílio e ainda que seja comum pensar o exílio como uma condição político-geográfica, na qual o sujeito é ou se vê obrigado a permanecer distante do seu lar e das suas origens, ele pode, na verdade, assumir outras formas. Entre estas, é possível citar o exílio físico - quando o sujeito, independente da sua localização espacial, sente-se exilado em função do seu gênero ou da sua etnia, por exemplo. Outra forma de exílio é o exílio linguístico - quando o sujeito se encontra em uma situação na qual escolhe - ou, por alguma razão, precisa - produzir e se comunicar em uma língua que não a sua primeira. Comum a todas as formas de exílio está a estreita ligação que estabelecem com a noção de hospitalidade e também com a noção de exofonia, que se relaciona à escrita de autores que vêm de todas as partes do mundo e, ao mesmo tempo, não pertencem a lugar nenhum e que são levados a escrever em outras línguas, além da sua primeira. A escrita exofônica evidencia um deslocamento que é sim político e geográfico, mas é ainda ‒ ou ainda mais que isso ‒ linguístico, textual, identitário, inserindo esses autores no que Ottmar Ette (2005) denomina literatura sem morada fixa ['Literatur ohne festen Wohnsitz']. A partir da análise do conto "Ein Gast" ["Um hóspede"] - obra de Yoko Tawada, na qual a protagonista japonesa vivencia uma série de estranhamentos em relação ao outro alemão, evidenciando o caráter central das noções de exílio e hospitalidade -, serão analisadas e discutidas a íntima relação entre essas noções bem como a centralidade do papel que a exofonia desempenha nessa dinâmica. Essa análise será realizada com base as reflexões teóricas de Jacques Derrida e da própria Yoko Tawada, entre outras.
Das pathetische Diktum von den drei Kränkungen des Menschen durch Kopernikus, Darwin und Freud antwortet auf die zunehmend komplexer werdende wissenschaftliche Modellierung des Bildes vom Menschen. In der Tat wird der, wie Derrida und andere mit guten Gründen betonen, letztlich metaphysische Entwurf des zu Vernunft und Sprache begabten menschlichen Subjekts im 20. Jahrhundert durch Physiologie und Psychoanalyse, aber auch durch Diskurs- und Medientheorie systematisch infrage gestellt. Rolf G. Renner skizziert zunächst kursorisch einige Aspekte dieser wissenschaftlichen Neukonstruktionen des Menschen, bevor er sich ihrem Reflex in literarischen Texten zuwendet. Als verbindenden Bezugspunkt zwischen dem wissenschaftlichen und dem literarischen Diskurs wählt Renner die Sprache als Charakteristikum des Menschen und seiner Individualität.
"Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt",ein 1906 als Privatdruck in Wien anonym veröffentlichter Roman, ist gekennzeichnet durch zahlreiche Anknüpfungen an die literarische Tradition: und zwar nicht nur an die pornografische, sondern auch ausdrücklich an die hochliterarische Tradition. Die Frage, wie diese Traditionsbezüge vom Text aufgerufen werden, steht im Zentrum der vorliegenden Ausführungen. Dabei sollen Überlegungen zu den Gattungsverhandlungen des in den Blick genommenen Romans, der auch als Schelmenroman und als Persiflage und Parodie des Bildungsromans daherkommt, genauso thematisiert werden wie die Verhandlungen und Inszenierungen des Pornografischen. "Josefine Mutzenbacher", so die These, bedient die Muster des pornografischen Genres und stellt sie gleichzeitig metareflexiv aus. Dem Roman lässt sich ein kritischer Impetus also nicht absprechen; und zwar gerade in Bezug auf die gesellschaftlichen Institutionen, die das Pornografische vorgeblich verdammen, obwohl - oder weil - es doch tatsächlich, um mit Slavoj Žižek zu sprechen, ihre obszöne Unterseite darstellt. Berichtet zwar in der Erzählfiktion die gealterte Protagonistin von ihrer Lebensgeschichte, so ist dennoch der Blick der Ich-Erzählerin auf das Erlebte ein für alles Neue und Interessante offener Kinderblick. Diese spezifische kindliche Froschperspektive, aus der die fiktive Autobiografie erzählt wird, stellt sich als Beobachtungsanordnung heraus, in der das Feld mit quasi-ethnografischem Zugriff vermessen wird, innerhalb dessen sich Josefine bewegt.
Der Dualismus von Körperästhetik und Moral, der die abendländische Kultur seit der Antike bestimmt hatte, bricht in der schönen Literatur erst im 20. Jahrhundert - im Gefolge psychologisierter anthropologischer Konzeptionen - endgültig auseinander. Es entstehen neue, komplexe Relationen von Körper und Psyche, in denen unterschiedliche Normenkomplexe und Machtstrukturen wirksam sind - soziale, geschlechtsspezifische, sexuelle. Demgegenüber scheint sich in den literarischen Zeugnissen der Gegenwart ein neues Paradigma anzudeuten. Die jüngsten Variationen der Konfrontation von Schönheit und Häßlichkeit, die Verwechslungen, Vertauschungen, Verwandlungen und Umkehrungen beider Zustände entstehen erkennbar vor dem Hintergrund avancierter technologischer Möglichkeiten zur Herstellung von Körperschönheit, einer Schönheitsindustrie und Medizin, die das Bewußtsein von der technischen Produzierbarkeit von Schönheit, vom Sieg über Alterungsprozesse vermitteln. Die Gegenwartsliteratur spiegelt eine neue Objekthaftigkeit von Schönheit und Häßlichkeit, ihren Warencharakter. Schönheit kann, wie bei Bruckner, enteignet werden, sie kann gekauft und gestohlen werden wie bei Kureishi, mit ihrem häßlichen Gegenteil verwechselt wie bei Brasme und sie kann mit diesem - zur kontrastiven und kommerziellen Überhöhung ihrer Eigenart -vorübergehend vertauscht werden wie bei Nothomb. Der Objekt- und Warencharakter von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit führt dazu, daß die Dichotomien zusammenrücken und austauschbar werden, weil sie kein metaphysisches, moralisches oder gedankliches Substrat mehr besitzen, sondern zunehmend vom marktwirtschaftlichen Prinzip bestimmt sind. Auf einem totalitären Markt der Schönheit kann plötzlich auch Häßlichkeit kommerziell und sexuell attraktiv werden, in einem faschistoiden Schönheitssystem ist sie die einzige Möglichkeit der individuellen Nicht-Anpassung.
Seit dem frühen Tode von Parry und der posthumen Herausgabe seiner Schriften durch seinen Sohn (mit einer langen Einleitung, die die außergewöhnliche Leistung des Vaters unterstrich) bewegt sich die Literatur über Parry in der Spannung zwischen zwei Polen: auf der einen Seite steht die Idee, Parry habe die Forschung über Homer und über mündliche Poesie revolutioniert; auf der anderen die Vorstellung, Parry müsse vor allem als Träger und Weiterführer vieler Forschungstraditionen – der deutschen Philologie, der russischen und jugoslawischen Epenforschung, der amerikanischen Anthropologie und Folkloristik, der französischen Linguistik und Anthropologie – gelten. Uns interessiert hier weniger, ob Parry als Entdecker des wahren Homers oder als der "Darwin der Homer-Forschung" angesehen werden kann, sondern inwiefern wir seinen Forschungen etwas für die heutigen Diskussionen um Literatur und Anthropologie entnehmen können.
Am 9. und 10. Mai 2019 fand die internationale Tagung des Germanistischen Instituts der Universität Pécs statt. Die Tagung wurde durch die Förderung von der Konrad-Adenauer-Stiftung, vom Österreichischen Kulturforum Budapest, von Grawe Életbiztosító Zrt., von Herrn Lorenz Kerner, Vorsitzendem des Kulturvereins Nikolaus Lenau und von der Universität Pécs durchgeführt. Die Konferenz hat sich die Untersuchung der Frage der Freiheit des Geistes in der deutschen Literatur im Laufe der europäischen Geschichte zum Thema gemacht. Rund 30 Teilnehmende aus acht Ländern diskutierten darüber, wie Geistesfreiheit in der deutschen Literatur zwischen Autonomie und Fremdbestimmung zum Vorschein kommt oder eben nicht. Die Vorträge umfassten einen Zeitraum von beinahe 300 Jahren. Die Liste der behandelten Autoren ist ebenfalls lang, von Lessing und Goethe bis zu den Schriftstellern und Journalisten unserer Zeit.
Franz Kafka Almanca yazılan edebiyat içinde dünyada en çok okunan ve eserleri en çok yorumlanan yazarlardan biridir. Farklı dillere çevrilerek uluslararası büyük yankı bulan Kafka'nın eserlerinin Türkçe'ye çevrilmesi Türkiye'de 1950'li yıllarda başlar. Türkiye'deki Kafka alımlanmasının temelini oluşturan bu çevirilerin aynı zamanda Türk Edebiyatı ve entelektüel dünyanın gelişimini devamlı etkilediği görülür. Türkiye, kültürel ve toplumsal yapısı itibarıyla Franz Kafka'nın doğup büyüdüğü ve sosyalleştiği ortamdan birçok açıdan farklılık gösterir. Bu farklılığa bağlı olarak ortaya çıkan alımlanma şartları Kafka ve eserlerini anlama ve yorumlamada da farklılıkları beraberinde getirir. Bu kapsamda bu makalede amaç Franz Kafka ve eserlerinin Türkiye'deki alımlanmasını, alımlanma süreci ile birlikte Kafka'nın eserlerinin Türk okuyucusu ve Modern Türk Edebiyatı üzerine etkisi, ülkenin tarihsel, kültürel, toplumsal ve siyasi gelişimleri de dikkate alınarak incelemektir.
Obwohl der Antisemitismus als Begriff im Jahre 1860 zum ersten Mal von dem österreichischen jüdischen Wissenschaftler Moritz Steinschneider benutzt und 1879 von Wilhelm Marr verbreitet wurde, beruht das Phänomen des Antisemitismus auf Tausenden von Jahren. Diese Feindseligkeit tauchte von Zeit zu Zeit mit zunehmender Stärke auf. Obwohl unter den Ursachen dieser Kräftigung die Auswirkung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Faktoren ist, kann die Rolle der Literatur nicht bestritten werden. Ebenso gibt es literarische Werke gegen den Antisemitismus. Das Ziel dieser Arbeit ist, den Einfluss des Antisemitismus auf die Literatur zu bestimmen, die in Frankreich und Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Man wird gleichzeitig versuchen, den Einfluss der Literatur auf den Antisemitismus zu bestimmen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde vor allem die Geschichte des Antisemitismus und die Entstehung des Antisemitismus-Konzeptes in Europa erforscht. Danach wurden die zwei Ereignisse, die den Antisemitismus am meisten in der Neuzeit anheizten, der Dreyfus-Fall und die Dolchstoßlegende, im literarischen Hintergrund erforscht. Eine reziproke Beziehung zwischen Literatur und Antisemitismus wurde in der Studie des Dokuments gefunden. Demnach entstehen gleichzeitig literarische Werke infolge der Judenfeindlichkeit, während die Judenfeindlichkeit infolge der Literatur entsteht. Einige dieser literarischen Werke - wie das berühmte Werk von Emile Zola, "J'accuse" - sind gegen die Judenfeindlichkeit entstanden. Es wird festgestellt, dass die Reaktion der beiden Gesellschaften auf Antisemitismus in dieser Hinsicht anders ist, wenn der politische Hintergrund berücksichtigt wird. Darüber hinaus kann man nach den Ergebnissen der durchgeführten Forschung feststellen, dass die Macht der literarischen Werke auch einer der Faktoren ist, der die Kräftigung oder den Rückgang des Phänomens Antisemitismus beeinflusst. Daher wird der Einfluss der Literatur auf die Gesellschaft betont.
In Gedenken an seinen 100. Geburtstag widmet sich die vorliegende Arbeit einem bedeutenden Lyriker und Erzähler der deutschen Nachkriegsliteratur. Wolfdietrich Schnurre wies in seinen Werken auf die Schuldproblematik der Nachkriegsgesellschaft hin. Seine Erzählungen schildern die Verhältnisse der NS-Zeit sowie deren Auswirkungen auf die autoritäre Gesellschaft. Er leistete mit seinen Werken einen großen Beitrag sowohl bei der Demokratisierung als auch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Auch in seinem autobiografischen Roman "Als Vaters Bart noch rot war - Ein Roman in Geschichten" befasste sich Schnurre mit der Nachkriegsgesellschaft und ihren Problematiken. Den Schwierigkeiten der Zeit und den politischen sowie sozialen Veränderungen sind Vater und Sohn ausgesetzt, die sie zusammen zu bewältigen versuchen. Die Vater-Sohn-Beziehung in ausgewählten Geschichten des Romans ist Untersuchungsgegenstand der Arbeit. Anhand der hermeneutischen und werkimmanenten Methode soll aufgezeigt werden, welche Problematiken Schnurre in seinen Geschichten anspricht und wie er diese bewältigt, in dem er Vater und Sohn zusammen agieren lässt. Merkmalspezifische Handlungsweisen von Vater und Sohn sollen aus pädagogischem Blickwinkel betrachtet werden, um im Anschluss zwischen den Handlungsweisen und der damaligen autoritären Gesellschaft einen Bogen spannen zu können.
The article presents the image of Count Albert Joseph Hoditz (1706–1778) as depicted in European literature. The emphasis is not primarily on German-language literature; the study foregrounds the image of Count Hoditz in other European literatures. The investigation spans the period from the 19th century to the beginning of the 21st century.
Der literarische Horizont des Vormärz ist gezeichnet von den Spannungen zwischen Nationalismus und Universalismus (oder Patriotismus und Kosmopolitismus), die sich vielfach auf das Verhältnis zur Sprache, der eigenen wie die der anderen, ausgewirkt haben. Auch Börnes schriftstellerische Biographie spiegelt den Reflex dieser Spannungen und bestimmt nicht zuletzt sein Verhältnis zum Geschäft des Übersetzens. Es geht also um einen besonderen Aspekt des Kulturtransfers, genauer gesagt um eine funktionelle Methode kultureller Interaktion. Gerade in diesem Bereich ist Börne in verschiedener Weise hervorgetreten: als Sprach-, Literatur- und Übersetzungskritiker ebenso wie als eigentlicher Übersetzer. Man wird ausgehen müssen vom Problem der Sprache überhaupt, Sprache im kulturellen wie im nationalen Kontext. Börnes kritischer Massstab erweist sich als flexibel je nach Textsorte und Zielpublikum. Da die Schwerpunkte seiner schriftstellerischen Vita wesentlich von den Wechselfällen der politischen Geschichte im engen regionalen wie im weltgeschichtlichen Umfeld abhängig waren, wird auch im Folgenden der Schwerpunktwechsel zu berücksichtigen sein.
Es handelt sich beim kulturellen Transfer um ein höchst komplexes Feld von Interaktionen, die keineswegs in linear-einsinniger Weise beschreibbar sind, sondern eingebunden bleiben in gesellschaftliche Dynamiken und deshalb historisch variabel sind. Eine solche historische Variable, die Einfluss auch auf die Transferprozesse zwischen Deutschland und Frankreich nimmt, ist die zu verschiedenen historischen Zeitpunkten jeweils unterschiedliche Wahrnehmung der französischen Gegenwartsliteratur. Einige Aspekte dieser Wahrnehmung im deutschen Vormärz untersucht Bernd Kortländer im Folgenden.
Vorwort
(2008)
Die historische Übersetzungsforschung ist eine Disziplin, die sich noch ziemlich in den Anfängen befindet. Es fehlen wichtige Dinge sowohl hinsichtlich der bibliographischen Aufarbeitung (wenngleich die Bibliographie von Hans Fromm aus den 1950er Jahren hier immer noch gute Dienste leistet), besonders aber hinsichtlich der Personen der Übersetzer, über die häufig gar nichts bekannt ist. Zu vielen sehr unbedeutenden und gar nicht gelesenen Schriftstellern der Zeit liegen mehr Informationen vor als zu Übersetzern, die eine ganze Fülle von Werken vor ein deutsches Massenpublikum gebracht haben. Dabei kann man aus der Untersuchung von historischen Übersetzungen eine Menge lernen. Nicht nur, was die praktische Übersetzungsarbeit angeht, sondern vor allem in Blick auf unsere eigene Kultur- und Literaturgeschichte.
The flâneur has been depicted in several different ways in 19th as well as 20th and 21st century literature and criticism. The focus of this brief paper will be on the roles given him in English writings from or around the time of the 1848 revolutions in France and Germany, in which the flâneur comes to represent not only a street idler, but also a critical traveller to, and observer of, the continental city and its revolutionary activities.
Christoph Schmitt-Maaß beschreibt, dass vor dem Hintergrund der Ideen der historischen Rechtsschule und der Studien der Brüder Grimm eine spezifische Poetologie im Gefüge von Rechtsgeschichte, Sprachwissenschaft und Nationalliteratur entsteht, die für die Herausbildung der 'Kulturnation' eine wichtige Bedeutung zukomme. Die Durchdringung von Rechts-, Wissenschafts- und Dichtersprache erweise sich an einem Kulminationspunkt der deutschen Geschichte als bewusstseinsstiftend, insofern sich noch viele Vormärzschriftsteller im Kontext von Recht, Sprache und Poesie auf von Savigny bezögen und dessen Poetologie fortschrieben, auch wenn sie längst zur Chiffre geworden sei. Schmitt-Maaß illustriert diese Wirkungsgeschichte von Savignys und der Brüder Grimm am Beispiel von Heinrich Heine und Hoffmann von Fallersleben. Während Heine eine kritische Distanz zu den rechtshistorischen Positionen der historischen Rechtsschule einnehme, begreife Hoffmann von Fallersleben, dessen liberale Auffassungen eng mit der mittelalterlichen Literatur, etwa Walthers von der Vogelweide, in Verbindung gesetzt würden, die Aufgabe von Dichtung als Politik, die sich aus der Gemeinsamkeit von Recht und Poesie im 'germanischen' Altertum ergebe. Schmitt-Maaß weist nach, wie Literatur, Literaturgeschichtsschreibung und Jurisprudenz im Vormärz zusammentreten.
Vom 15. bis 16. November 2018 fand in Prag die erste internationale Fachtagung mit dem Titel "Wie schreibt man transkulturelle Literaturgeschichte?" statt. Veranstaltet wurde sie von der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik anlässlich der Gründung der Germano-bohemistischen Forschungsgruppe 2017.
Vom 23. bis zum 25. Mai 2018 fand im Forschungszentrum NTIS an der Westböhmischen Universität in Pilsen die biennale Konferenz des Tschechischen Germanistenverbandes unter dem Titel "Experimentierräume: Herausforderungen und Tendenzen" statt. Organisiert und operativ durchgeführt wurde sie diesmal vom Lehrstuhl für deutsche Sprache der Pädagogischen Fakultät sowie dem Lehrstuhl für Germanistik und Slawistik der Philosophischen Fakultät der Westböhmischen Universität in Pilsen. Die Konferenz war international ausgerichtet und konnte insgesamt ca. 130 Teilnehmer/innen aus fast 15 verschiedenen Ländern begrüßen.
Obwohl man also schon allein mit der Leistung der Beiträge zufrieden sein kann, Material für eine phänomenal und medial unterbestimmte Theoriedebatte beizubringen, möchte diese Einführung sie mit der Skizze einer haltbaren Theorieoption begleiten. An einer solchen Theoretisierung scheint es, trotz einschlägiger Kontroversen, nach wie vor zu mangeln. Die Forschung ist darin weit weniger vorangekommen, als es die aufgeregten Debatten zwischen kulturwissenschaftlicher Wissenspoetik auf der einen Seite und robuster Axiomatik der analytischen Literaturwissenschaft auf der anderen vermuten lassen.
Katerina Karakassi beleuchtet am Beispiel des Briefromans "Leandros" von Panagiotis Soutsos, wie in Griechenland selbst die politischen Wirren und die Belastung durch den Krieg literarisch ihren Niederschlag finden. Das Werk von Panagiotis Soutsos ist in der Hinsicht nicht nur ein Zeugnis der politischen Irrungen und Wirrungen seiner Zeit, sondern auch ein Exemplum der intellektuellen Bemühungen, anhand von abendländischem Gedankengut das Bewusstsein der jungen Nation zu untermauern. Dass dies kein leichtes Unternehmen war, zeigt auch der Briefroman "Leandros", den Panagiotis Soutsos 1834 veröffentlichte und dem dieser Beitrag gewidmet ist. Die Lektüre des Romans, die Karakassi hier vorschlägt, geht davon aus, dass das Werk nicht nur gewissermaßen als Manifest für die Gattung Roman fungieren sollte und somit auf den "modernen Bürger" samt seinen Neurosen als ein bedeutendes Sujet hinwies, sondern auch ein neues "nationales Subjekt" nach den Prämissen der politischen Romantik - wie Carl Schmitt sie später skizzierte - zu konzipieren suchte. Die immanenten Widersprüche der politischen Romantik sind jedoch auch im Roman von Panagiotis Soutsos sichtbar: Sie äußern sich als antinomische Ideologeme, als politischer Opportunismus, als intellektuelle und affektive Ambiguität gegenüber der Zukunft und der Vergangenheit der Nation. Dabei wird der neu gegründete Nationalstaat im Text transzendiert und der leitenden staatstheoretischen Metapher dieser Ära folgend, als eine organische Einheit jenseits des aktuellen politischen Treibens imaginiert. Dass dies letztlich nur eine Fiktion ist, suggeriert nicht nur der Selbstmord des Helden. Der Text verzichtet nämlich gänzlich auf eine Herausgeberfiktion und benennt somit implizit den Ort, in dem die nationale Identität gesichert werden kann: in der Imagination, in der Literatur, in der Kunst.
Unter dem Aspekt der universellen Kommodifizierung der modernisierten Herrschafts- und Geschlechterverhältnisse im Fabriksystem beschäftigt sich Mirjana Vukovic in ihrem Beitrag "Ich lasse mich nicht verhandeln gegen schnödes Geld" mit dem emanzipatorischen Lebensentwurf der Protagonistin in Louise Astons Roman "Aus dem Leben einer Frau" (1847). Johanna, Tochter eines verbitterten Pfarrers aus ärmlichen Verhältnissen, wird an den reichen Fabrikanten Oburn verheiratet, erkennt aber schließlich, dass sie lediglich als Handelsobjekt zwischen Vater und Ehemann fungieren solle. Sie verwertet die Schmuckgeschenke ihres Ehemannes, um die entmenschlicht gezeichneten Hungergestalten in Oburns Fabrik zu einem menschenwürdigen Lohn zu verhelfen. Gegen die klassische Autonomie-Ästhetik schreibe Louise Aston sich in ein Literatur- und Kunstkonzept ein, in dem die fragmentarisierte Wirklichkeit in "Form und Inhalt der Fiktion einfließen" solle; ihre Legitimation bezieht diese Auffassung aus den obsessiven Revolten, die nahezu das gesamte 19. Jahrhundert prägen. In dieser Perspektive lässt "Aus dem Leben einer Frau" sich gegen die letztlich erfolgreichen Kanonisierungsbestrebungen Fontanes als politische Geschichte weiblicher Emanzipation aus der Allmacht des Geldes lesen, die größere wissenschaftliche Beachtung verdient hätte.
Der Aufsatz sieht in Freuds Begriff des Unheimlichen einen Schlüssel zu seiner Poetik. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bietet allerdings nicht seine bekannte Interpretation des Textes von E.T.A. Hoffmann, sondern die narrativen Elemente des Textes, in denen er auf indirekte Weise Aufschluss über seinen Begriff der Psychoanalyse gibt. Als Theorie und Praxis der Dichtung ist Freuds Aufsatz über Das Unheimliche nicht nur eine Theorie ein wichtiger Bestandteil seiner Poetik.
Ich spreche im Folgenden über ein Thema, das 'Hermeneutik nach Luther' heißen soll. Als Hermeneutik verstehe ich dabei im Anschluss an Friedrich Schleiermacher - also im Anschluss an einen protestantischen Theologen, der seine eigene Hermeneutikkonzeption vorwiegend mit Bezug auf die Auslegung des Neuen Testamentes entwickelt hat, das heißt in einem dezidiert christlichen und zugleich mehrfachen, noch näher zu klärenden nach-Luther'schen Sinn - die "Kunst des Verstehens". Die Bestimmung verdeutlicht, dass das Verstehen nichts Selbstverständliches ist. Verstehen versteht sich nicht von selbst. Es muss selbst verstanden werden. Hermeneutik bezeichnet nach diesem Verständnis eine Aufgabe, und zwar, wie Schleiermacher zu betonen nicht müde wird, eine niemals abgeschlossene, immer weiter fortzusetzende Aufgabe.
Die künstliche Außenweltbeleuchtung ist keine neutrale Helligkeit, die die Sichtbarkeit der von ihr bestrahlten Umgebung unmodifiziert über die Dämmerungsgrenze hinweg in die Nacht hinein weiterdauern lässt. Sie hat in aller Regel einen intrusiven Aspekt und schafft ein spezifisches, vom Tagesanblick deutlich unterschiedenes Erscheinungsbild. Meistens erzeugt sie zum Beispiel Wahrnehmungsbilder, die mit fast allen Formen von gemalten Abbildungen und mit narrativen Darstellungen gemeinsam haben, 'Unbestimmtheitsstellen' zu enthalten.
Die Wahrnehmungsgeschichte der künstlich erleuchteten Stadtzentren ist von der Komplexität geprägt, die auch das Verhältnis von Kunstlicht und Raum charakterisiert. Im Verlauf der Epoche, die mit der Aufstellung der ersten Gaslaternen zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann und die mit der Einführung der elektrischen Glühbirnen, der Neon-Röhren und schließlich der LED-Dioden ihre Fortsetzung fand, hat das von diesen Lichtern erzeugte Raumerlebnis mehrfach qualitative Veränderungen erfahren. Die folgenden Ausführungen kontrastieren vier historisch aufeinander folgende Typen von Wahrnehmungsbildern der erleuchteten Innenstädte: 1.) Reaktionen aus der ‚Pionierzeit‘ der Straßenbeleuchtung (bis Ende des 19. Jahrhunderts); 2.) Reaktionen aus der Zeit der Einführung der elektrischen Beleuchtung; 3.) die avantgardistische Kunstlichtwahrnehmung der 1920er Jahre; 4.) Wahrnehmungsbilder, wie sie aktuell angewendete Beleuchtungspraktiken nahelegen. Die beobachteten Wandlungen im Erleben der beleuchteten Stadtszenerien werden mit Tendenzen, die für die jeweiligen Stadtgesellschaften typisch sind, in Zusammenhang gebracht.
Wer durch eine Stadt wie Venedig geht, sieht, dass die Zeit überall ihre Spuren hinterlässt. Der britische Kunsthistoriker John Ruskin nennt diese Spuren in seinem 1851 bis 1853 publizierten Reisebericht 'The Stones of Venice' "time stains" und macht darin eindrücklich darauf aufmerksam, dass Spuren der Zeit ästhetisch betrachtet werden können, obwohl sie kein Produkt des Menschen, sondern zunächst einmal eines der Zeit sind. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern die Zeit als Gestalterin ästhetischer Objekte begriffen werden kann und wie sie dieses Potenzial in Konkurrenz zu kulturellen Gestaltungsabsichten erfüllt.
Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich die im Kontext der Ruinenästhetik geführten Diskussionen und das seit einigen Jahren zu verzeichnende neue Interesse am Naturschönen folgendermaßen verbinden und zuspitzen: Die Zeit muss als gegenkulturelle Gestalterin der Lebenswelt genauer ins Visier und als ästhetisches Subjekt ernst genommen werden. Der Beitrag reiht sich damit in die seit einigen Jahren Konjunktur verzeichnende ästhetische Auseinandersetzung mit der Zeit ein. Dort ist bislang versäumt worden, dezidiert nach der ästhetischen Gestaltungskraft von Zeit zu fragen, während man die kulturelle Gestaltbarkeit von Zeit betont hat.
Eine neue Veröffentlichung der seit über 30 Jahren existierenden Kinderkrimireihe Die 'Drei ???' verdrängt noch länger wirkende und mit jeder Veröffentlichung auf geradezu enervierende Weise den Status quo bestätigende Bands wie etwa AC/DC von den ersten Plätzen der Bestsellerlisten; dem Marvel-Universum zugehörige Serien wie Daredevil und Jennifer Jones oder das aus Versatzstücken der Horror-Kultur komponierte Penny Dreadful werden von der Streaming-Plattform Netflix höchst erfolgreich und in direkter Konkurrenz zum allerneuesten Sherlock-Holmes-Pastiche produziert: Neue Helden sind rar geworden, weshalb man lieber sattsam bekannte durch neue Abenteuer laviert, wobei auch hier Variationen zwar grundsätzlich erlaubt sind, aber nur in bestimmten, eng definierten und zudem von Fans rigoros kontrollierten Grenzen, die den ursprünglichen Gehalt der Vorlage stetig zementieren sollen. Zweifellos durchwirkt gegenwärtig ein Phänomen die Kultur, sinnig Retromania genannt, infolgedessen es die jetzige Generation wie wohl keine zuvor vermag, so vehement die Helden der eigenen Jugend zu konservieren; andererseits gelingt es keiner Generation wie dieser so wenig, sich von den Helden ihrer Kindheit, ja von ihrer Kindheit ganz allgemein zu trennen. Da passt es dann, wenn zeitgleich die Literatur in Werken von Karl Ove Knausgård oder Andreas Maier eben diese Kindheit als naiven Zustand ursprünglicher Naivität zelebriert.
0. Wenn man als Anarchisten jemanden versteht, der davon überzeugt ist, dass es den Menschen möglich ist, ihr Zusammenleben so zu organisieren, dass Herrschaft in jeglicher Form verzichtbar ist, dann war Grabbe ganz sicher keiner. Auch gibt es in allem, was schriftlich von ihm überliefert ist, keinen einzigen Hinweis darauf, dass er sich jemals zustimmend zum Ideal der Herrschaftslosigkeit geäußert hätte. Wenn Grabbe m.E. dennoch zum Kontext des Themas Anarchismus im Vormärz gehört, so hat das andere Gründe.
1. Negativer Anarchismus
Das Programm, mit dem sich der noch ganz junge, 1801 geborene literarische Debütant mit seiner Tragödie 'Herzog Theodor von Gothland' (entstanden zwischen 1819 und 1822) von dem das literarische Feld seiner Zeit bestimmenden klassisch-idealistischen Diskurs in radikalster Weise abgrenzen will, ist das eines Frontalangriffs auf alle ihm zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Deutungsmuster. Die hehren Ideale des klassisch-humanistischen Projekts (das Wahre, Gute und Schöne als zugleich Mittel und Ziel der menschlichen Veredelung durch einen umfassenden Bildungsprozess) werden im Gothland ebenso rigoros als nicht mit der Wirklichkeit kompatibel zurückgewiesen wie die aufklärerische Grundannahme der Perfektibilität des Menschen und die christliche Überzeugung von einem guten Gott, der die Geschicke im Sinne der an ihn Glaubenden und ihm Vertrauenden lenkt. Nach Grabbe ist so gut wie in jeder Hinsicht das Gegenteil der Fall.
Seit der (Wieder-)Entdeckung Amerikas 1492 fungierte die Neue Welt immer wieder als Projektionsfläche und Gegenfolie zu den als dekadent empfundenen ethischen und soziopolitischen Verhältnissen in Europa. Dies ist insbesondere auch für die Autoren der Vor- und Nachmärzliteratur gültig, die, gespeist aus den enttäuschten Erfahrungen in der Zeit um die Revolution von 1848/49, in der transatlantischen Welt respektive den Vereinigten Staaten von Amerika eine Plattform zur Verwirklichung ihrer Ideale erkannten.
Sinnbild für den Antagonismus von Alter und Neuer Welt waren für zahlreiche Beobachter die beeindruckenden, ganz oder weitgehend unberührten Landstriche im Westen der Vereinigten Staaten, die eine für sie in Europa untergangene Ursprünglichkeit und Authentizität verkörperten. In Karl Wilhelm Theodor Frenzels (1827-1914) dreibändigem historischem Roman Freier Boden (1868) wird beispielsweise über Amerika berichtet: "Die Arbeit des Menschen hat hier noch nicht das ursprüngliche Anlitz [sic] der Natur geändert; aus der Erde dampft noch die alte Urkraft zu ihm empor."
Musik einer Erinnerungspoetik : Fallstudie über deutschsprachige und hebräische Literatur nach 1945
(2004)
Nach 1945 trägt die Literatur eine neue Last. Die Frage der Repräsentation ist nun mit einer Katastrophe verbunden. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit den Gegenständen der Erinnerung und des Vergessens, in der sich die Fragen der Sprache selbst - die Fragen nach dem Sinn des Schreibens, der Darstellung und der Dokumentation - neu erschließen lassen. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Poetik einer Erinnerungsarbeit in der deutschen, österreichischen und hebräischen Literatur nach 1945 zu rekonstruieren, indem die Verwendungsweise musikalischer Diskurse als Grundlage einer Erzählkunst exemplarischer Texte geprüft wird. Der Aufsatz widmet sich den folgenden Romanen: Die 'Blechtrommel' (1959) von Günter Grass, 'Malina' (1971) von Ingeborg Bachmann, 'Beton' (1982) und 'Auslöschung' (1986) von Thomas Bernhard, 'Rosendorf Quartett' (1987) und 'Der Schatten von Rosendorf' (2001) von Nathan Shacham, 'Vom Wasser' (1998) von John von Düffel und 'Die Katze und der Schmetterling' (2001) von Yoel Hoffmann.
Es sind Texte von Autoren, die den Versuch unternommen haben, sowohl die semiotischen Elemente der musikalischen Sprache als auch einen spezifischen Diskurs über Musik in die literarischen Arbeiten zu übertragen, um eine Art von poetischem Gedächtnis zu rekonstruieren. Es sind poetische Räume der Wiederholungen, in denen verdrängte und verlorene Geschichten aufgedeckt und reflektiert werden. Es ist letztlich jedoch eine infragestellende Poetik der Spuren und Anspielungen, eine Literatur der Dissonanzen, die die Katastrophe der Vergangenheit zu Wort zu bringen versucht.
Erinnerungen an ein menschenleeres Paradies : Urszenen literarischer Modernität im 19. Jahrhundert
(2012)
An der Schwelle zum 19. Jahrhundert stößt ein Aspekt des Kontinuums, in dem 'der Mensch' "seine Positivität bildet und bildet", an seine Grenze. Das romantische Büchermachen als Erbe einer religiös legitimierten eigentlichen Natur wird seiner Redundanz gewahr; die Ordnungen des Wissens beginnen in ihrer Form als Riesenbibliotheken zu ängstigen. In dieser Situation eröffnet die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Physiologie des Gehirns und der Nervenbahnen, mit dem, was Aufschluss über die organischen Bedingtheiten des "Menschseins" allgemein zu liefern verspricht, aus anderer Warte eine Möglichkeit, "das im gedruckten Gehirn der Gemeinschaft erstarrte Denken" auf eine neue Stufe zu heben. Die Vorrang- und Vorreiterposition der französischen Psychiatrie im 19. Jahrhundert hat Robert Castel in die Formel 'L'Âge d'or de l'aliénisme' gefasst. Nietzsche hat diese "wissenschaftliche Lust des Menschen an sich selber" als "Lust am Ausnahmefall" denunziert, und konsequenterweise wandte sie sich auch dem zu, was noch unter dem schillernden Wort Genie firmierte, spezieller sogar dem 'génie im Medium der langue'.
Für die beiden Gründerväter der klinischen Psychiatrie Philippe Pinel und Jean Etienne Dominique Esquirol hatten in der Tradition der jüngeren Vergangenheit schon die Hypertrophien der Imagination allgemein zum eisernen prognostischen Bestand der Psychopathologie gehört; zu nennen wären hier als Anreger der berühmte William Cullen, der den folgenreichen Begriff Neurose prägte, sowie der englische Irrenarzt Sir Alexander Crichton, der als erster die damals revolutionäre These vertrat, dass die einzelnen Fähigkeiten der Seele, z.B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteilskraft, Imagination etc., jede für sich allein erkranken könnten. Pinels Schüler Victor Broussais widmete in seinem Hauptwerk 'De l’irritation et de la folie' von 1828 einen langen Abschnitt der 'valeur des signes', in welchem er die Gültigkeit von sprachlichen Zeichen zur Selbstbeschreibung von psychischen Phänomenen untersucht. Sein Urteil: Begriffe wie 'moi', 'intelligence', 'imagination' seien nur der unvollkommene, laienhafte Versuch, die wechselnden physiologischen Zustände des Nervensystems unter eine chimärische Einheit zu zwingen, die selbst Züge des Wahnhaften trüge.
Der Wandel der Satire : über die Verschärfung literarischer Ironie in der deutsch-jüdischen Moderne
(2011)
In diesem Essay soll das Phänomen des Sarkasmus untersucht werden, und zwar unter der Voraussetzung einer durchaus gewagten These. Der Essay geht davon aus, daß ein genuin literarischer Sarkasmus in der deutschsprachigen Literatur erst mit dem Auftreten Heinrich Heines und Ludwig Börnes, also im 19. Jahrhundert entstand. Zwar kannte die Epoche der Aufklärung den Witz und die Romantik die Ironie. Aber erst mit Autoren wie Börne, Heine oder Moritz Saphir, Daniel Spitzer oder Alfred Kerr, Maximilian Harden oder Karl Kraus, Walter Mehring oder Kurt Tucholsky, Carl Einstein oder Alfred Döblin, Elias Canetti oder Albert Drach entwickelte sich ein literarischer Sarkasmus. Vorab möchte ich betonen, daß diese Art der Verschärfung der Ironie nicht verstanden werden kann ohne den Hintergrund der Stereotypisierung jüdischer Intelligenz im 19. Jahrhundert. Sarkastisch wird die Literatur Heinrich Heines oder Moritz Saphirs, Karl Kraus' oder Kurt Tucholskys, Alfred Kerrs oder Maximilian Hardens nicht aus sich selbst heraus. Vielmehr sind es die in der Romantik so populäre Mär vom "ewigen Juden" sowie das seit dem Auftreten Heines vor allem in Bayern und Preußen sich häufende Ressentiment gegenüber dem sogenannten "Judenwitz", aus denen der Sarkasmus hervorging. Ich möchte dies anhand zweier Zitate vorab verdeutlichen. Das erste ist eines der übelsten Dokumente antisemitischer Polemik des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Titel 'Neueste Wanderungen, Umtriebe und Abenteuer des Ewigen Juden unter den Namen Börne, Heine, Saphir u.a.' Es stammt aus der Feder des Germanisten Heinrich von der Hagen, der im Jahre 1835 in den Werken der im Titel genannten Autoren folgendes erkannte: "[...] dieselbe freche Gotteslästerung, dieselbe Verhöhnung und Misshandlung des Weltheilands am Kreuze und seiner Diener, dieselbe Anbetung des Fürsten dieser Welt in der Gestalt des goldenen Kalbes, dieselbe bodenlose Verwirrung der göttlichen Weltordnung, dieselbe giftige Verhetzung gegen die Könige und Obrigkeiten und dabei hündische Feigheit, dieselbe Lebensentwürdigung und schmähliche Todesfurcht, dieselbe Gottvergessene Beschönigung der Zügellosigkeit, Unzucht und Lüge, derselbe boshafte, alles berechnende und verneinende Witz, derselbe ruchlose Missbrauch oder Besudelung aller heiligen und verehrten Namen und Worte."
Begegnungen unter den Linden : der etwa tausendste Versuch zum Thema Christa Wolf und die Romantik
(2006)
"Ich bin überzeugt, daß es mit zum Erdenleben gehört, daß jeder in dem gekränkt werde, was ihm das Empfindlichste, das Unleidlichste ist: Wie er da herauskommt, ist das Wesentliche." - Diese Sentenz von Rahel Varnhagen steht als Motto über Christa Wolfs Erzählung 'Unter den Linden'. Entstanden um 1969 und parallel zu Nachdenken über Christa T., gehört sie zu den ersten Texten, an denen die Forschung Wolfs Hinwendung zur romantischen Tradition ausgemacht hat. Später schreibt sie literarische Essays über Bettine, Günderrode, Kleist und macht sie zu Protagonisten ihrer Erzählung. Und doch geht es bei solch expliziter Namensnennung durchaus nicht nur um eine Identifikation mit früheren Dichterschicksalen oder der viel beschworenen "Künstlerproblematik", und es geht auch um mehr als schlicht die Wiederaufnahme und Weiterführung romantischer Themen. Denn hier wird Ästhetik verhandelt, im breitmöglichsten Sinne geht es darum, wie man sich schreibend zu seiner Welt in Beziehung setzt. Es ist die Erfahrung vergleichbarer historischer Konstellationen, die zur Auseinandersetzung mit und zur Wiederaufnahme und Erneuerung von früheren ästhetischen Programmen führt.
Seit der griechischen Antike schreibt sich bis in die heutige Zeit ein medialer Faszinationstyp fort, der in der Theorie mit Begriffen wie Nachahmung (mimesis) und Realismus, den Konzepten des Bildes bzw. des ikonischen Zeichens sowie der Illusion bezeichnet wird. Diese Theoriestränge lassen sich locker den Grundelementen der kommunikativen Urszene, in der eine 'virtuelle Realität' entsteht, zuordnen: Ein Sender ahmt nach beziehungsweise stellt dar, das mediale Substrat seiner nachahmenden Mitteilung ist das anschauliche Zeichen (Ikon), durch welches der Empfänger 'getäuscht' beziehungsweise illudiert wird.
Was ist der theoretische Kern dieser drei Aspekte? Sie alle kursieren um das Gravitationszentrum der Ähnlichkeit: Eine Konstruktion, demzufolge Texte, Zeichen, Medien ihren Signifikaten ähnlich werden können. Der Begriff Simulation, abgeleitet aus ‚similis‘, 'ähnlich', weist dieses Fundament noch aus; und um es schon einmal zuzuspitzen: Die Ähnlichkeit ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit von Nachahmung, Bild, Realismus und Illusion.
In der diskursiven Konfiguration von Darstellung, Ikonizität und Illusion erzeugt die Ähnlichkeit das Phantasma einer Überschreitung der Medialität: Dem Modell nach akkumuliert das Zeichen Ähnlichkeiten und nähert sich dabei dem Referenten so lange, bis es idealerweise mit diesem konvergiert, seine eigene Zeichenhaftigkeit durchstreicht und die Illusion der Präsenz hervorruft. Das heißt: Die Rezipienten - so jedenfalls die innere Logik der Simulation - fallen für einen bestimmten Zeitraum auf die Illusion der virtuellen Wirklichkeit herein. Die Rezeptionsweise wird eigentlich seit der Antike bis in die Neuzeit immer wieder gleich beschrieben: Das Medium 'stellt vor Augen', das Zeichen wird in Richtung auf das Bezeichnete 'durchsichtig', der Rezipient verfällt der Illusion und verwechselt das Artefakt mit der Wirklichkeit.
Auf der Grundlage einer Textauswahl von 110 Werken der einschlägigen Literatur wird versucht, das okkulte Schrifttum des 18. Jahrhunderts zu ordnen und die einzelnen Genres, die sich herausstellen lassen, durch exemplarisch zu verstehende Texte zu charakterisieren. Eine Ausnahme bilden die alchemistischen und theosophischen Veröffentlichungen, die lediglich erwähnt werden.
Die ältere Bezeichnung "okkult", das "Okkulte", wird beibehalten und den Begriffen "Esoterik" und "esoterisch" vorgezogen. "Okkultismus", zu sehr an die entsprechenden Bestrebungen des 19. Jahrhunderts gebunden, wird nur in diesem spezifischen Sinne gebraucht. "Esoterik bzw. esoterisch" haben sich zwar als Begriffe in der neueren Aufklärungsforschung eingebürgert - man vergleiche dazu die Veröffentlichungen der letzten Jahre -, doch erscheinen mir diese neuen Bezeichnungen noch schwammiger als die alten. Sie lassen gegenwärtig die heterogensten Elemente im Begriffsfeld zu. Ein Ausweg wird gesucht, indem man - wie in einem Ausstellungskatalog - die Begriffe ganz eng auf geheime Gesellschaften einschränkt, so wie auch in den genannten Beiträgen der Germanistik das Schwergewicht auf Logen und geheimen Verbünden liegt. Das Dilemma beschreibt Antoine Faivre und sucht festen Boden zu gewinnen, indem er "Esoterik" als "Denkform" mit vier, bzw. sechs "Komponenten" beschreibt und auf inhaltliche Abgrenzungen verzichtet. Diese Komponenten sind auch auf den Begriff "okkult" anwendbar. Sie sind Definitionen wie der folgenden: "Okkultismus ist das Sammelwort für die Fülle der geheimnisvollen Kräfte und Beziehungen, die im Bereich der Seele, im Haushalt der Natur und zwischen diesen beiden wirken" insofern überlegen, als sie das Wesen des "Geheimnisvollen" und "Dunklen" mit begrifflich faßbaren Sachverhalten beschreiben.
Im Folgenden werde ich über den Naturalismus als eine literarische Bewegung sprechen, von der es in der Forschung immer wieder heißt, sie habe ihre ästhetische Programmatik zwar publizistisch wirksam in Szene gesetzt, nicht aber auch in ihrem Anspruch entsprechende literarische Werke umsetzen können. Dem ist zunächst einmal zuzustimmen; zumal sich die hervorragenden literarischen Texte des Naturalismus nicht gerade als naturalistische auszeichnen lassen. Zugleich stellt sich die Frage, wodurch diese Disproportion zu erklären ist; in welchem Verhältnis steht die Insuffizienz der Leistungen in der literarischen Praxis zur ästhetischen Theorie? Ich möchte zeigen, daß es vor allem die Theoriedefizite in 'aestheticis' selbst waren und nicht so sehr kontingente Probleme der literarischen Umsetzung, die das rasche Abflauen des Naturalismus nach seinem kaum erreichten Höhepunkt 1890 bewirkten. Dieser fällt zusammen mit dem Beginn der literarischen Moderne im engeren Sinne. Aber beginnt diese 'erste' Moderne mit einem gescheiterten Versuch 'modern' zu sein?
Mein Aufsatz widmet sich einigen Gedichten des 20. Jahrhunderts, in denen Wahrnehmungserfahrungen in Städten bzw. Großstädten wie etwa Paris, Tübingen, New York, Köln oder Rom formuliert und lyrisch aufbereitet sind. Dabei geht es mir um eine kritische Prüfung des in den Literaturwissenschaften stark dominierenden Verständnisses von Großstadtlyrik. Diese kritische Prüfung vollzieht sich im Folgenden anhand der Kategorie der Stimmung. Mit dieser Kategorie verbindet sich ein in der Forschung zur modernen Großstadtlyrik bisher kaum entwickelter theoretischer Zugriff, der vorab in aller Kürze mit dem Schlagwort 'Neue Phänomenologie' zu bezeichnen ist. Ich werde also für einen theoretischen Paradigmenwechsel plädieren und den Vorschlag machen, über Großstadtlyrik neu und anders nachzudenken, als dies die germanistische und vor allem komparatistische Forschung im Grunde bis heute tut. Bisher waren und sind die einschlägigen Arbeiten zu dieser Thematik stark beeinflusst von den Baudelaire-Studien Walter Benjamins, genauer gesagt von der von Benjamin an Baudelaire untersuchten Wahrnehmungskrise als einem vermeintlichen Signum moderner Großstadterfahrung. Bekanntlich sah Benjamin in den Paris-Gedichten Baudelaires eine sogenannte Choc-Erfahrung angelegt, die vor allem in Baudelaires berühmtem Gedicht 'A une passante' artikuliert sei. Der Tenor der Forschung zur Großstadtlyrik liegt seither auf der Deutung moderner Lyrik als Ausdruck einer Wahrnehmungskrise, die insbesondere durch die Arbeiten Silvio Viettas geradezu kanonisch wurde.
Aus der Sicht der Literatur, im Rahmen literarischer Schreibweisen, erscheint das Tagebuch als besonders 'unmittelbare' Form. Das kann Verschiedenes bedeuten, etwa, dass es eigentlich gar keine Form ist, dass das Schreiben von Tagebüchern keiner besonderen Vorgabe folgt und dass man auf alle möglichen Weisen Tagebuch schreiben könne. Historisch ist das tatsächlich der Fall, wie die Vielfalt überlieferter Tagebücher zeigt: Sie können umfassend und sehr begrenzt sein, ein Leben oder auch nur eine Woche umfassen, und man kann sie mit fast allen möglichen Schreibmaterialien produzieren. alleine, zu zweit, oder auch als Gruppe. Daher haben Tagebücher für die Literaturwissenschaft lange als formlose Gebrauchstexte außerhalb der 'eigentlichen' Literatur gegolten, die allenfalls als Quelle biographischer oder historischer Informationen interessant sein könnten. Als die Forschung begann, sich mit ihnen zu beschäftigen, geschah das aus diesem biographischen, meist psychologischen Interesse heraus. Dabei wurde die 'Unmittelbarkeit' noch anders verstanden, nämlich dass es sich beim Tagebuch um eine 'authentische' Form handelt, sei es, dass das Berichtete hier direkter als sonst beschrieben wird, sei es, dass der Berichtende hier besonders unverstellt zu Wort kommt. Gerade weil ihm die Vermittlung einer besonderen literarischen Form fehle, komme das Schreibende oder das Geschriebene unmittelbarer als anderswo zum Ausdruck. Dazu gehört auch, dass das Tagebuch eines Autors zum Ort werden kann, wo schreibend über das eigene Schreiben reflektiert wird, wo sich das Schreiben gewissermaßen selbst berührt.
In den Jahren von 1993 bis 2004 veröffentlichte Walter Kempowski den Zyklus 'Das Echolot. Ein Kollektives Tagebuch'. In zehn Bänden wurden mit Hilfe von Zitaten aus Dokumenten von Zeitzeugen entscheidende Phasen des Zweiten Weltkriegs wie die Invasion der UdSSR und die Schlacht um Stalingrad dargestellt. Abschnitte aus Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen, Reden, Militärberichten und Radiosendungen wurden nach den Tagen angeordnet, an denen sie entstanden waren oder auf die sie sich bezogen (im Fall der Erinnerungen); sie bildeten so eine kollektive Darstellung des Krieges, die sich aus den Perspektiven von Personen verschiedener Gesellschaftsschichten zusammensetzt: Politiker, Militärs, Intellektuelle, deutsche Zivilisten, Juden und andere Opfer. Obwohl eine beträchtliche Anzahl von Texten aus bereits publizierten Büchern verwendet wurde, ohne die es kaum möglich gewesen wäre, ein vollständiges Bild des Zweiten Weltkrieges zu zeichnen, stammt annähernd die Hälfte der Zitate aus dem Archiv für unveröffentlichte Biographien, dessen Bestände der Autor im Laufe von mehr als zwei Jahrzehnten zusammengestellt hatte, indem er auf Flohmärkten und in Antiquariaten sowie durch Anzeigen nach Tagebüchern und Briefen aus der Zeit von 1900 bis 1950 suchte.
Die zehn Bände, die das kollektive Tagebuch 'Das Echolot' ausmachen, bilden vom ästhetischen Gesichtspunkt gesehen eine gigantische Montage von Zitaten ohne inhaltliche Texte des "Autors" in Form von Kommentaren oder verbindenden Erzählungen. Diese formalen Eigenschaften wurden sowohl von Carla Damiano in ihrer Dissertation Walter Kempowski's "Das Echolot" als auch von Kai Sina in Sühnewerk und Opferleben untersucht, aber beide beziehen sich vor allem auf die vier ersten Bände, Das Echolot '43. Die Form der Montage von Fremdtexten mit ihren Verfasserangaben erweckt beim Leser den Eindruck, dass Kempowskis Rolle sich auf die des Herausgebers oder "Kompilators" beschränkt, was z.B. von Holger Helbig vertreten wird. Mit Ausnahme der Vorworte ist in dem gesamten Zyklus die Stimme Kempowskis abwesend. Dieser Eindruck soll im vorliegenden Artikel korrigiert werden, indem die Tätigkeit des Autors bei der Auswahl und Kürzung seines Materials sichtbar gemacht wird.
Am 19. Juni 1787 erhielt der gebürtige Ire Robert Barker in Edinburgh ein Patent auf seine Maltechnik "nature at a glance" bzw. "la nature à coup d’oeil", das ihn in den darauffolgenden Jahren weltberühmt machen sollte. Sein erstes Rundbild, das diesem Konzept entsprechend fertig gestellt worden war, präsentierte er am 31. Januar 1788 in Edinburgh. Damals kannte noch niemand das Wort "Panorama", und kaum jemand ahnte wohl, dass diese Erfindung die Art und Weise der Wahrnehmung im ausgehenden 18. Jahrhundert grundlegend verändern sollte. Die Verleihung des Patents erlaubt eine Datierung - was äußerst wichtig ist im Streit darüber, wer als wirklicher Erfinder des Panoramas angesehen werden kann, denn in Deutschland beanspruchte Johann Adam Breysig diese Innovation für sich. Bemerkenswert dabei ist, wie Stephan Oettermann in seiner Monographie zu diesem Thema hervorhebt, dass die Zeitgenossen hier "eine Kunstform für eine technisch-naturwissenschaftliche Neuerung" hielten. Zwar war Robert Barker der Schöpfer des Malkonzepts, doch fehlte ihm noch der passende Name für seine Erfindung. Der Begriff "Panorama" tauchte dann zum ersten Mal in einer Werbeanzeige der Times vom 10. Januar 1791 aus Anlass von Barkers zweitem Rundbild auf, welches er gemeinsam mit seinem Sohn vollendet hatte. In einer Zeit technischer Neuschöpfungen war dieser Begriff nicht der einzige, der dem Griechischen entlehnt wurde, obwohl das Bezeichnete völlig neuartig war - andere Beispiele sind "Diorama" und "Pleorama", wie später dann "Telephon" und "Telegramm".