940 Geschichte Europas
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Vor nicht so langer Zeit waren die oft sehr langfristigen Editionsprojekte der Akademien und wissenschaftlichen Institute wegen ihrer Dauer in die öffentliche Kritik gekommen. Die Wellen der Erregung haben sich inzwischen gelegt. Zu den ältesten Institutionen dieser Art gehören die Monumenta Germaniae Historica, kurz MGH. Für den im Mittelalter arbeitenden Rechtshistoriker ist unentbehrlich nicht nur die Reihe der Leges, sondern auch der Diplomata der deutschen Könige und Kaiser. Gerade in ihr ist in den letzten Jahrzehnten eine Herkulesarbeit an Materialbewältigung und Präzision mit der Edition der Diplome Friedrich I. Barbarossas in vier gewichtigen Bänden unter der Leitung von Heinrich Appelt bis 1990 geleistet worden. Begleitende Studien haben die Diplomatik bereichert und verfeinert, aber auch die Rolle des römischen Rechts genauer beleuchtet. Wichtige seither erschienene Monographien zu Barbarossa wären ohne diese Edition der Diplomata nicht denkbar gewesen. In der Reihe der Constitutiones liegt seit 1996 eine kritische Edition u. a. der Konstitutionen von Melfi Friedrichs II. vor, begleitet von einer zweibändigen Monographie des Herausgebers Wolfgang Stürner. ...
Im Abstand von 10 Jahren zu Band I legt Hermann Lange, dieses Mal unter Mitautorschaft von Maximiliane Kriechbaum, den zweiten, den Kommentatoren gewidmeten Band seiner auf eine Anregung von Franz Wieacker zurückgehenden Darstellung des "Römischen Rechts im Mittelalter" vor. Der Titel des Gesamtwerkes mit den Begriffen "Römisches Recht" und "Mittelalter" muss mit Einschränkungen gelesen werden, bedarf aber auch der Ergänzung. Was die Ergänzung anbelangt, so verdeutlicht der Titel des Werkes nicht genügend, welch große Bedeutung das kanonische Recht und andere, in die Wissenschaft der Kommentatoren miteinbezogene Rechte in diesem Werk haben. ...
Die Französische Revolution ist bekanntlich ein fruchtbarer Gegenstand der Forschung. Auf dem von Skadi Krause bearbeiteten Feld kreuzen sich Forschungslinien sowohl der Politik- und der Rechtswissenschaft als auch der Rechtsgeschichte. Es geht um den Bruch im politischen Denken, der sich 1788–1789 in den Debatten der Nationalversammlung vollzog. Durch die ganze Arbeit hindurch kann man feststellen, inwieweit Politik- und Rechtsverständnis im verfassungsgebenden Moment verknüpft waren. Anhand einer topisch gegliederten Untersuchung zeigt die Autorin pointiert, dass die Schaffung einer nationalen Repräsentation zur Delegitimierung monarchischer Herrschaft – so der Untertitel des Buches – beitrug. Zugleich spielten aber die herkömmlichen Leitbilder der Einheit und Unteilbarkeit der Souveränität und des politischen Willens eine wichtige Rolle bei der Etablierung der neuen politischen Ordnung. Die reiche, um den Begriff der nationalen Souveränität zentrierte Forschung weist auf diese Besonderheit der politischen Rhetorik der Französischen Revolution hin. ...
Im Folgenden werden einige Autoren wie Johannes Althusius, Henning Arnisaeus, Samuel Pufendorf und Michael Christoph Hanov vorgestellt, die in sehr unterschiedlicher Weise Anerkennung in der politischen Ideengeschichte genießen. Es geht vor allem darum, sie in ihren Vorstellungen zur Staatsform der Demokratie genauer zu betrachten. ...
Zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Rechtsgeschichte zählt die zivile Besatzungsjustiz Nazideutschlands in Osteuropa. "Dunkel" ist hier in zweifacher Hinsicht zu verstehen: Zum einen war die Justiz durch die Involvierung in die Besatzungspolitik an der Unterdrückung und Ausplünderung der besetzten Gebiete und ihrer Bevölkerung beteiligt und trug durch die Verfolgung des Widerstandes und der "normalen" (Kriegs-)Kriminalität maßgeblich zur Stabilisierung der deutschen Herrschaft bei. Zum anderen ist dieser Aspekt nationalsozialistischer Rechtsund Justizgeschichte in der deutschen Forschung bislang wenig beachtet worden, was vor allem den Sprachbarrieren, den lange Zeit nur schwer zugänglichen osteuropäischen Archiven und ideologischen Hemmnissen in der Zeit des Kalten Krieges geschuldet ist. ...
Zum Gegenstand der Polizeiwissenschaft gehörte – jedenfalls unter der Herrschaft eines weiten Polizeibegriffs – auch die staatliche Sorge für die Wirtschaft. Die Herausbildung der Wirtschaft als eines eigenständigen gesellschaftlichen Teilsystems, also eines sozialen Bereichs, für den die Geltung von Leitprinzipien eigener Art beansprucht wird, fällt auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Am Beginn der nachhaltigen Durchsetzung eines staatsunabhängigen wirtschaftlichen Denkens steht das Werk von Adam Smith, der die klassische Nationalökonomie begründete. Die Polizeiwissenschaft traf nun auf einen Gegenstand, für den eine überaus mächtige Theorie die Erklärungshoheit beanspruchte. Welche Konsequenzen ergaben sich daraus? Dieser Frage soll am Beispiel der staatlichen Kapitalhilfen für Unternehmen nachgegangen werden. ...
1832 schrieb der Heidelberger Rechtsprofessor Karl Salomo Zachariä im fünften Band seiner Vierzig Bücher vom Staat: "Der Staatsmann, der mit der […] Wirtschaftslehre unbekannt ist, gleicht einem Schiffer, der sich ohne Kompass auf die hohe See wagt." Für den Gießener Staatsrechtslehrer Friedrich Schmitthenner waren ökonomische Kenntnisse "vollends für den Staatsmann unentbehrlich". Als Verfassungshistoriker neigt man dazu, solche oder ähnliche Aussagen im Staatsrecht des Vormärz zu relativieren: Zum einen waren staatsphilosophische Aussagen über Ökonomie und Staatswirtschaft schon lange vor dem 19. Jahrhundert üblich, zum anderen geht es in der Verfassungsgeschichte ohnehin – wie es Dietmar Willoweit3 formuliert hat – um die rechtlichen Regeln und Strukturen, die die politische Ordnung prägen. Staatliche Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaft scheinen für die politische Ordnung dagegen nur eine Nebenrolle zu spielen, zumal das Staatsrecht im Vormärz für die Ausbildung des modernen Rechts- und Verfassungsstaates ohnehin zentrale Bedeutung hatte. ...
Aus Anlass der achthundertsten Jahrestage des Todes Eleonores von Aquitanien und des Verlusts der Normandie durch Johann Ohneland fand im Mai 2004 eine gemeinsame Tagung der Forschungszentren CESCM (Poitiers) und HIRES (Angers) statt, deren Vorträge nun im Druck vorgelegt werden. Die magistrale Einleitung von Martin Aurell (Introduction. Pourquoi la débâcle de 1204?, S. 3–14) betont zwar die Schlüsselrolle Eleonores, deren Ehe mit Heinrich II. jenes angevinische Reich entstehen ließ, das im Jahr ihres Todes zusammenbrach, hebt aber stärker auf die Zurücksetzung der Normandie gegenüber den englischen Eliten seit 1154 ab, auf geradezu xenophobische Züge in der wechselseitigen Einschätzung des Adels diesseits und jenseits des Kanals. Große der Normandie hatten kein materielles Interesse mehr daran, sich für einen König zu schlagen, der die Gewinne seinem insularen Entourage würde zukommen lassen; die Lehnsabhängigkeit der angevinischen Könige von den Kapetingern hielt diese in der Position der Herren gegenüber ungetreuen Vasallen, deren gesamter Kontinentalbesitz französisches Krongut blieb. Der kontinentale Adel nutzte das nach Kräften, Insistieren auf karolingische Tradition stützte die Unabhängigkeit der Kirchen und Klöster vom englischen König und seinen Beauftragten, während der intellektuelle Hofklerus Heinrichs II. und seiner Söhne verstört am Becket-Mord litt und seinem alten Studienort Paris nostalgische Sympathie entgegenbrachte. Unter solchen Voraussetzungen lag es nicht nur an der militärischen und politischen Unfähigkeit Johanns, wenn die französische Position der Plantagenêt in der Krise des Krieges schnell dahinschmolz. ...
Muss man eine Geschichte der Ritterschaft bei den Germanen des Tacitus beginnen? Man muss, wenn man wie Dominique Barthélemy davon überzeugt ist, dass die gegenwärtig noch herrschende Theorie von der "Erfindung der Ritterschaft" ("l’invention de la chevalerie") um 1100 in Frankreich allzu sehr von Nationalstolz und ideologischen Interessen genährt worden sei, um als historische Wahrheit akzeptiert zu werden. ...
Solche Bücher gab es vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland auch: Prachtwerke zur nationalen Erbauung eines seiner selbst nicht mehr ganz sicheren Publikums, das ein unüberhörbares Mahlen des Zahns der Zeit doch tapfer ignorieren wollte. Wer den Band aufschlägt und in der vorangestellten "Liste d’honneur des souscripteurs" als erläuterndes Prädikat hinter einem Namen "catholique et royaliste" liest, hat rasch Gewissheit: Mit Wissenschaft hat das teure Produkt nichts zu tun, viel dagegen mit Fragen wie der, "que notre Louis IX est bien nommé saint Louis, et non Saint Louis selon une mode universitaire qui se répand depuis quelques années" […]. J’écris donc comme dans les livres de ma religion, […]. De même, pour le héros de ce livre, et suivant la mode des anciens, j’écris Roi avec majuscule quand je parle de lui, car c’est le Roi par excellence, […]« (S. 14). In diesem Stil sprechen vier umfangreiche Kapitel über den König, königliche Symbolik, seine Umgebung und die Heraldik der Kapetinger; opulent illustriert mit Reproduktionen aus Handschriften des 13.–16. Jahrhunderts (darunter aus dem um 1250 entstandenen Krönungsordo BnF lat. 1246), schönen Faksimiles der Bulle Papst Gregors IX. für Ludwig IX. von 1239, der Gründungsurkunde der Sainte-Chapelle (1246), einer zur Unlesbarkeit verkleinerten Frankreichkarte aus dem 19. Jahrhundert, Photos der Sainte-Chapelle, Beispielen der Chartreser Glasfenster, Siegeln (u. a. des Königs, seiner Mutter, Margarethes von Provence, Peters II. von Courtenay, Rudolfs II. von Vermandois, Odos III. von Burgund, des Reimser Domkapitels), Münzen, der sog. "Cassette de St-Louis" (um 1236), Fotos erhaltener Teile des Krönungsornats (Sporen, Schwert Karls des Großen), Reproduktionen verlorener Stücke nach der "Collection Gaignières" und anderer gelehrter Werke des 17. und 18. Jahrhunderts (u. a. Félibien), Historiengemälden des 17. und 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt zahlreichen Malereien von Claude de Gallo in der Art von Kinderbuchillustrationen (Ludwig IX. im Krönungsornat und zu Pferd, Blanche von Kastilien und Margarethe von Provence, Robert I. von Artois, Karl von Anjou und viele mehr) und einer bonbonfarbenen "Reconstitution de la sainte couronne ou couronne de S. Louis" von Jörg Mauriange. ...
Der Band ist das Ergebnis einer Tagung, die vom 22. bis 24. Juni 2006 in Trient abgehalten worden ist. Einleitend weisen Diego Quaglioni und Gerhard Dilcher auf den Nutzen des Austauschs zwischen italienischer und deutscher Geschichtswissenschaft auf dem Feld der kaiserlichen Gesetzgebung der Staufer hin, insbesondere in Bezug auf die roncalische Gesetzgebung. Dilcher verweist auf die komplizierte Überlieferung und den ambivalenten Charakter der einzelnen roncalischen Gesetze, in denen sich mittelalterliche und deutsche Rechtstraditionen mit römisch-justinianischen Traditionen unter einem neuen Ordnungs- und Gesetzgebungswillen des Herrschers vermischten. ...
The Kaiserchronik is generically puzzling. In essence it is a spiritual world chronicle, but it lacks the usual historiographical systematisations of its theological content. However it does have three disputations, an unusual feature in a chronicle which has to date not been adequately explained. This essay argues, on the basis of comparisons with works in other literary forms, that these passages function as key expressions of the controlling idea of the entire work, namely the progress of the Gospel from the heathen to the Christian Empire, and that they are strategically located within the chronicle at the turning points in the success of Christian mission.
Das Unsichtbare hat Konjunktur. Dies spiegeln nicht nur akademische Diskurse, sondern auch populärkulturelle Erzeugnisse wider. Die Aktualität des Themas scheint hierbei mit Neudefinitionen des Wissens, mit veränderten medialen Möglichkeiten und dadurch erschlossenen epistemischen Feldern, mit neuen ways of seeing und den damit einhergehenden Verunsicherungen zu tun zu haben. Idee der Tagung war es daher, den Blick zurück ans Ende des 19. bzw. den Beginn des 20. Jahrhunderts lenken, auf einen historischen Moment, der ebenfalls von einer Krise der Wahrnehmung geprägt ist. In der Medialisierung des "Unsichtbaren" treffen sich hier technischer Optimismus und phantasmatisches Begehren, die Verfahren der wissenschaftlichen Visualisierung und die entpragmatisierten Spiel-Räume der Kunst. ...
Les rapports du politique et de la religion et leur transformation au temps de et par la Réforme, dans le Saint Empire, la France et l’Angleterre, tels sont les objets des six articles de ce recueil. La Réforme fut-elle un mouvement populaire ou une initiative des princes, et dans ce dernier cas, comment le souverain parvint-il à vaincre les résistances, d’autant plus que l’espace du politique ne se bornait pas à l’État, les élites intellectuelles et sociales, théologiens et juristes de la bourgeoisie citadine allemande, gentry anglaise, nobles et bourgeois en France étant elles aussi des acteurs très présents? Si, d’un côté, il y eut désacralisation du monde et une relative autonomisation du politique, de l’autre la théologie politique fut renouvelée par les spirituels réformés qui reposèrent, entre tradition et innovation, la question de la légitimité du pouvoir et du partage de la souveraineté dans le cadre de la théorie des trois états, qui parfois allèrent même jusqu’à revendiquer, comme en Angleterre, un droit d’examen du politique, et justifier le droit de résistance. La circulation des idées dans l’Europe de la Renaissance, servie par l’universalité du latin, créa un univers intellectuel commun, mais néanmoins la diversité de destin des États fut patente: dans ce XVI e siècle des réformes, l’Allemagne et l’Angleterre parvinrent à des compromis, certes très différents, la paix d’Augsbourg (1555) et l’anglicanisme d’Élisabeth, tandis que la France fut déchirée par les guerres de religion. ...
In der Forschung zum 18. und 19. Jahrhundert gelten Vereine - zumal in Deutschland - meist immer noch als zentrale Bereiche einer im Prinzip liberalen und zukunftweisenden "Zivilgesellschaft", in der frei von repressivem staatlichem Einfluss und fern von überlebten korporativen Traditionen politische Aushandlungsprozesse im Rahmen einer liberalen Bürgergesellschaft erprobt werden konnten. Das Bild hat freilich einige Risse bekommen [1], die aber bislang eher als ehrwürdige Patina zu fungieren scheinen denn als Anzeichen für grundlegenden Restaurierungsbedarf. Die Arbeit von Stefanie Harrecker lenkt den Blick nun auf eine andere Art Verein, der in vielem wirkungsmächtiger war als die intensiv untersuchten stadtzentrierten liberalen Assoziationen. Der Landwirtschaftliche Verein in Bayern, der 1810 seine Tätigkeit aufnahm, war zwar formal ein privater Verein, wies aber von Anfang an enge personelle und finanzielle Beziehungen zum Staat auf, die sich im Laufe der Zeit eher intensivierten als abschwächten. Ziel des Vereins war einerseits die Produktionssteigerung der Landwirtschaft, etwa durch die Popularisierung neuer Anbaumethoden; andererseits verstand sich der Verein auch als Lobby der Landwirtschaft gegenüber der Regierung, und zwar sowohl im Parlament als auch im öffentlichen Raum, in dem er mit unterschiedlichen Publikationen präsent war. Der Verein hatte regionale Zweigstellen, engagierte sich im Bereich der landwirtschaftlichen Ausbildung, und richtete Feste und Feierlichkeiten aus (darunter das Oktoberfest), in deren Rahmen beispielsweise Vieh gezeigt und prämiert wurde. Angesichts der spannungsreichen Beziehungen zwischen Regierung und Parlament, Staat und Öffentlichkeit im Bayern des 19. Jahrhunderts war klar, dass auch der Landwirtschaftliche Verein keinen ganz stabilen Platz in der informellen Landesverfassung haben konnte. Anfang des 19. Jahrhunderts dominierte die Autonomie, die moderate oppositionelle Tendenzen (die freilich zum guten Teil aus der Verwaltung kamen) einschließen konnte. Das galt vor allem im Rahmen der Diskussion über die Abschaffung des 'Feudalsystems', also die Veränderung der Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse in ländlichen Regionen. Nach intensiver Verwicklung in die politischen Intrigen der frühen 1830er Jahre geriet der Verein, der damals unter Mitgliederschwund litt, unter stärkere staatliche Aufsicht. Diese trug mit dazu bei, dass der Verein 1848/49 die Chance verpasste, zum Sprachrohr der Veränderung zu werden; stattdessen fügte er sich in das Programm der Stärkung eines partikularen Profils Bayerns, das Maximilian II. verfolgte. Selbst Ludwig II. interessierte sich noch hinreichend für den Verein und seine öffentliche Wirkung, so dass er sich für eine Präsentation von preisgekrönten Tieren vor allen Festbesuchern, nicht nur vor den Fachleuten, einsetzte. Die Reichsgründung von 1870 bedeutete zwar nicht das Ende des Landwirtschaftlichen Vereins, wohl aber das seiner herausragenden Bedeutung; die Integration in ein deutsches Netzwerk landwirtschaftlicher Vereine endete mit weitgehendem Relevanzverlust. Die Frage, ob der Verein seinen selbst gesteckten hohen Zielen gerecht wurde, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die Publikationen, die populär waren, waren selten die innovativsten. Überhaupt gab es immer wieder Gelegenheit, über Sinn und Aufgaben des Vereins zu streiten, etwa wenn es darum ging, die Rolle von Festen und Fachmessen abzuwägen. Manche spektakuläre Aktionen (so der Plan, Seidenraupen in Bayern anzusiedeln) gehörten in ihrer praktischen Wirkung nicht gerade zu den Sternstunden der Agrarökonomie. Dagegen spielte der Verein eine erhebliche Rolle bei der Etablierung landwirtschaftlicher Forschungs- und Lehreinrichtungen und bei der Mobilisierung staatlicher Zuschüsse für solche Zwecke. Er engagierte sich für die Belange der bäuerlichen Bevölkerung und bemühte sich - trotz einer erkennbaren München-Fixierung - um eine flächendeckende Versorgung des Landes mit Bibliotheken und lokalen Vereinen. Stefanie Harreckers Buch liefert einen mustergültig recherchierten, abgewogenen Einblick in das Leben eines nicht ganz dem konventionellen Bild entsprechenden Vereins, der zwischen privatem Klub, wissenschaftlicher Gesellschaft und Lobby angesiedelt war. Dabei kommen sowohl die kleinen Vereinsquerelen zur Sprache als auch die Rolle des Vereins im Kontext der landwirtschaftlichen Entwicklung - insofern handelt es sich bei diesem sehr lesenswerten Buch um einen herausragenden Beitrag zur Vernetzung der allgemeinen mit der viel zu stark vernachlässigten Agrargeschichte. Anmerkung: [1] Etwa durch Eckhart Trox: Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und "Militärpartei" in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
Die Suche nach der Frau, ihrem Ort, ihrer Rolle sowie ihren Handlungsbereichen und Tätigkeitsfeldern im Dritten Reich markieren verschiedene Stationen der historischen Frauenforschung zum Nationalsozialismus der letzten dreißig Jahre. Während sie in den 1970er-Jahren Frauen im privaten Bereich des NS-Systems verortete, betonten Untersuchungen der 1990er-Jahre die ambivalente Stellung der Frau im nationalsozialistischen Staat. Wenngleich die NS-Rhetorik sowie die sozialpolitischen Maßnahmen des Regimes auf eine Stärkung patriarchaler Strukturen zielten, erweiterten sich dennoch im Dritten Reich die Tätigkeitsfelder und Handlungsmöglichkeiten von Frauen. Trotzdem gilt der nationalsozialistische Staat nach wie vor in der historischen Forschung als eine "Männergesellschaft". ...
Que doit nous apporter une histoire culturelle (Kulturgeschichte) du politique ? Elle ne doit pas se laisser réduire à une science sectorielle, découpée sur le modèle du camembert statistique, mais nous ouvrir, au contraire, une perspective vers le global. Ce « global », que l’on peut assimiler de façon assez vague au politique, elle ne doit pas seulement le présenter sous un autre éclairage, mais aussi l’expliquer de façon plus satisfaisante que les approches conventionnelles. Et elle devrait s’aventurer dans les domaines plus « durs » de l’histoire politique et de l’histoire constitutionnelle, c’est-à-dire des processus macro. C’est à un tel processus macro-historique, qui appartient de surcroît aux thèmes classiques de l’histoire politique et de l’histoire constitutionnelle, que je m’intéresserai : à la formation de l’État, plus exactement, à la formation de l’État au niveau provincial, et particulièrement à ce que l’on pourrait appeler l’intégration territoriale, soit l’annexion de territoires nouvellement acquis. Cette intégration territoriale est un processus fondamental dans une histoire marquée par la régression du nombre d’États en Europe à l’époque moderne : des plus de 500 entités politiques indépendantes que comptait l’Europe au début de l’époque moderne, il n’en restait plus que 25 en 19001. Les autres, soit tout de même quelques centaines d’États, ont été « avalés » par les vainqueurs dans cette course à la résorption étatique : tout d’abord prise de possession par mariage, héritage ou conquête, puis intégration dans les structures du système de domination existant. Mais le fonctionnement de cette intégration n’a guère été étudié pour le début de l’époque moderne. A fortiori, la littérature disponible sur ce thème ne propose aucun modèle permettant d’expliquer ces processus à leurs différents niveaux. La responsabilité en revient à un modèle micro-macro classique, que l’on ne peut résoudre, telle est ma thèse, que par une histoire culturelle du politique, plus exactement par l’élargissement de la recherche conventionnelle grâce au concept de culture politique. ...
Cette somme (722 pages!) est une double synthèse sur une double recherche, celle d’une source et celle d’une institution: les comptes de fabrique médiévaux. L’auteur prend bien soin, à bon droit, de ne pas dissocier son objet: il n’est point de fabrique sans comptes ni de comptes sans fabrique dans la paroisse médiévale. L’étude érige dès lors la fabrique en observatoire de trois phénomènes à la fois financiers, institutionnels, sociaux et spatiaux: l’administration même de l’église par la fabrique, son insertion dans le tissu et la société de la ville, les relations sociales et culturelles de ses membres non seulement entre eux mais aussi avec les autres communautés et regroupements de la cité. L’analyse progresse par cercle concentrique en partant d’abord de la source, constituée non en produit de l’activité des médiévaux ou en simple matériau pour les médiévistes, mais en témoin et facteur d’une construction sociale et culturelle; pour rejoindre le cercle des personnes de la fabrique en passant par son organisation d’abord, ses œuvres ensuite (tant monumentales que sacramentelles) et ses finances enfin. ...
Der Titel des Bandes macht zunächst einmal neugierig. Er scheint dem Leser ein weitgespanntes Spektrum von Beiträgen europäischer Dimension zu verheißen. Diese Erwartung wird nicht eingelöst. Die Ernüchterung des Rezensenten wäre sicherlich geringer gewesen, wenn man den Band "Beiträge zu einer Geschichte der Hofkultur in Frankreich und Burgund mit Ausblicken auf England" (o. ä.) genannt hätte. Das wäre zwar sperriger, aber zugleich ehrlicher gewesen, denn, wie Werner Paravicini treffend in seinem Geleitwort schreibt (S. 2), für diesen Band trugen "französische, belgische und deutsche Forscher, jüngere Leute, [...] Einzelstudien vor und nahmen ihren Stoff hier aus einem Roman, einer Chronik, einer besonderen Handschrift oder einer ganzen Büchersammlung, dort aus Skulptur, Malerei, Architektur und Musik". ...
Der Merkantilismus, ein Hauptgegenstand der älteren dogmenhistorischen Literatur, lässt sich inhaltlich nur schwer definieren. Der Begriff bezeichnet weder ein historisches Wirtschaftssystem, noch eine einheitliche zeitgenössische Wirtschaftstheorie. Es handelt sich vielmehr um ein retrospektives Konstrukt der ökonomischen Dogmengeschichtsschreibung, die ihren Ausgangspunkt in der Kritik Adam Smiths am "mercantile system" seiner Zeit fand. Merkantilismus ist zunächst eine Sammelbezeichnung für die ökonomischen Ideen und Vorstellungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Allerdings zeichnet sich das ökonomische Denken dieser Zeit durch eine außerordentliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit aus. Auch entstanden unterscheidbare nationale "Schulen", die, selbst wiederum uneinheitlich, starken Veränderungen unterlagen. Zu Recht wurden den spezifischen nationalen Ausprägungen sogar unterschiedliche Bezeichnungen verliehen. ...
"Si potrebbe credere, che i due concetti 'stato territoriale' e 'feudo' siano fino a un certo grado opposti": così Ernst Klebel introduce, aprendo nel 1956 Territorialstaat und Lehen, la contraddizione a suo avviso insita nell’accostare due forme tanto diverse di organizzazione politica, quali sono quella che fonda la propria autorità su un principio astratto di ordinamento territoriale e l’altra che afferma invece la propria superiorità attraverso legami personali come quelli vassallatici. ...
Die folgenden Überlegungen gelten dem Zusammenwachsen von räumlichen und rechtlichen Vorstellungen im frühmittelalterlichen Sachsen. Es soll dabei weniger um die Übertragung fränkischer Konzeptionen gehen als darum, wie die Sachsen selbst als Folge ihrer Integration in das christliche Reich eine Vorstellung entwickelten, den ihnen eigenen Raum mit einem Recht zu verbinden, das selbst Ergebnis dieser Niederlage war. Um diesen Prozess zu verfolgen, ist es nötig, auf die wichtigsten Interpretationen der Unterwerfung Sachsens durch die Historiographie des 9. Jahrhunderts zu schauen. ...
Der Wandel von Perspektiven, Deutungen, Methoden und Themen bestimmt den wissenschaftlichen Fortschritt. Deshalb zerbricht die Vorstellung sicheren Wissens über die Generationen hinweg, so dass sich die Vergangenheit in den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in immer neuen Methodenwenden verändert. Der moderne Mut, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktiv in die Subjektivität ihrer Perspektivierungen einzubauen, bringt die steuernde Macht des Erkenntnisinteresses und seiner Veränderungen vermehrt zur Geltung. Dabei geraten selbst traditionelle Kontrollinstanzen der historisch-kritischen Hermeneutik in die Debatte. Während heute die einen das Vetorecht der Quellen beschwören, stellen andere die beständig verformende Kraft des Gedächtnisses und damit die Relativität punktueller schriftlicher Fixierungen heraus. ...
Die gesammelten Briefe des Peter von Blois waren ein außerordentlich erfolgreiches Werk, in mehr als zweihundert Handschriften bis ins 15. Jh. weit verbreitet, 1519, 1600, 1667 gedruckt und in dieser letzten Fassung Vorlage für die bis heute einzige Gesamtausgabe im 207. Band von Mignes Patrologia latina . Diesem Briefwerk verdankt Peter seinen Ruf, und trotz moderner Kritik am unvollkommen und unsystematisch gebildeten, zum Plagiat neigenden Urheber sind sie doch eine erstrangige, äußerst vielseitige Quelle für die westeuropäische Geschichte der zweiten Hälfte des 12. Jhs., bieten nicht nur Material für die Bildungs- und Kulturgeschichte, für das Studium höfischen Lebens, für die Charakteristik der Monarchie Heinrichs II., sondern reflektieren eine ganze Welt mit ihren Veränderungen in den persönlichen Erfahrungen einer ehrgeizigen, an vielen Machtzentren mit Großen der Zeit verbundenen Hochbegabung, die in ihren Erwartungen jedoch oft enttäuscht worden ist. Peter von Blois war gewiss kein origineller Kopf, aber ein großer Vermittler der Wissenschaft seiner Zeit an die Höfe der Bischöfe und an alle, die lateinischen Ausdruck auf hohem Niveau beherrschen wollten, ein intellektueller Repräsentant seiner Epoche, dem wir das beste zeitgenössische Porträt König Heinrichs II. verdanken und die kulturgeschichtlich überaus wertvolle Hofkritik (hier Nr. 49). ...
Diese monumentale Darstellung des Lebens und der Wirksamkeit Adelas von Blois will das gesamte historische Umfeld der Protagonistin mit deren Augen sehen und bewerten anstatt sie konventionell-allgemeinen Fragestellung wie etwa der nach der Rolle adliger Frauen in ihrer Zeit und Gesellschaft auszusetzen. Als Grundlage dient eine möglichst vollständige Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte und der politischen Aktivitäten, aus der sich dann die Biographie einer französischen Fürstin in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ergeben soll. ...
Auch Erdbeben haben ihre Geschichte. Obgleich Erdbeben nur kurze Ereignisse sind, die Erdstöße oft nicht länger als ein paar Sekunden dauern, haben sie eine lange Geschichte ihrer Deutung. Sie geht den Beben voraus und folgt ihnen noch lange nach. Von einer solchen Geschichte der Deutung handelt dieser Beitrag. Er nimmt ein Ereignis zur Vorlage, das wie kaum ein zweites Erdbeben in der Geschichte Europas Epoche gemacht hat: das Erdbeben von Lissabon 1755. Von dieser Katastrophe gibt es fast nur Deutungen, kaum Augenzeugenberichte, die nicht schon von den philosophischen und theologischen Diskursen überschrieben wären.
In ihrer klar und konsequent gegliederten Studie nimmt sich Th. Brero des zeremoniellen Ablaufs fürstlicher Tauffeiern am herzoglichen Hof von Savoyen im 15. und 16. Jh. an. Sie kann damit zum Versuch beitragen, eine Lücke in der existierenden Forschungsliteratur zu schließen, deren Existenz erstaunen muss, angesichts des regen Interesses, das den rituellen und zeremoniellen Aspekten der spätmittelalterlichen Adelskultur in den letzten Jahren entgegengebracht wird. Trotz der im Titel anklingenden vergleichenden Perspektive, die in allen Teilkapiteln immer wieder aufscheint, bilden das eigentliche Zentrum der Studie die Feierlichkeiten zu den Taufen Adrians, Emmanuel-Philiberts und Charles-Emmanuels I. von Savoyen in den Jahren 1522, 1528 und 1567. Die hierzu vorliegenden Texte, vor allem die von Antonino Dal Pozzo stammende Beschreibung der Taufe Adrians ( Adrianeo ), deren erstes Buch die Autorin im Anhang mitsamt einer Übersetzung in das moderne Französisch wiedergibt, sowie die Beschreibung der Taufe Emmanuel-Philiberts durch den Herold "Bonnes Nouvelles", die ebenfalls im Anhang ediert ist, bieten eine außergewöhnliche Basis: von keiner der früheren Taufen im savoyischen Umfeld sind derart reichhaltige Berichte überliefert, im deutschen Raum scheinen entsprechende Beispiele gänzlich zu fehlen. Auf dieser Grundlage und unter Beiziehung weiterer Texte aus dem französischen, burgundischen und englischen Milieu, unter denen die "Honneurs de la Cour" Éléonores von Poitiers, einer Hofdame der burgundischen Herzogin Isabella von Portugal, die prominenteste Stellung einnehmen, verfolgt Brero detailliert die einzelnen Etappen und Aspekte fürstlicher Tauffeiern. Ausgehend von den Umständen der Geburt und deren ritueller Rahmung, greift sie die Frage der Einrichtung des Zimmers der Mutter und des Kindes auf, der materiellen Vorbereitung der Taufprozessionen, der Anlage und Teilnehmerschaft der Prozessionen selbst, des Taufrituals sowie der abschließenden Feierlichkeiten. Abgerundet wird der sorgfältig ausgearbeitete Band von den erwähnten Texteditionen, einigen analytischen Tafeln zu den untersuchten Prozessionen und einem ausführlichen biographischen Katalog der erwähnten Personen, der vor allem einem in der savoyischen Geschichte weniger bewanderten Publikum den Zugang zur Thematik erleichtern dürfte. Ein Personen- und Ortsregister schließt den Band ab. ...
Trotz des enggefassten Titels bietet die vorl. Arbeit mehr als nur eine Untersuchung der angesprochenen "Waldenserprozesse", die in den Jahren 1459–60 die Einwohner von Arras und über die Stadt hinaus auch die umgebenden Territorien erschütterten. In einem breiten Panorama versucht der Autor eine Neudeutung der Häretiker- und Hexenprozesse, die über eine rein ideologiekritische Analyse materieller Interessen der Verfolger hinausgeht. In drei großen Abschnitten zum "Trugbild der Verfolgung", zum "Weg der burgundischen Herzöge zur Souveränität" und zur "Logik der Inquisition" werden Ablauf und Umfeld der Prozesse entwickelt, in denen 34 Personen verschiedenster sozialer Situierung eines Paktes mit dem Teufel beschuldigt und als Ketzer verurteilt wurden. Von besonderem Interesse mag hier die über weite Gebiete ausgreifende Entwicklung des Imaginaire eines "Hexensabbats" sein, welche den behandelten artesischen Raum mit den Randgebieten Savoyens verbindet, wo ebenfalls die Figur des magischen Flugs auf einem Stock und des Bündnisses mit dem Teufel früh präsent wird. Grundlage der Ausführungen zu Arras sind u. a. der jüngst neu edierte "Waldensertraktat" des Johannes Tinctorius sowie die bereits von Hansen publizierte Recollectio casus, status et condicionis Valdensium eines anonymen Autors, der Mitglied des Inquisitionstribunals war und vielleicht mit Jacques du Bois identifiziert werden kann, dem Dekan des Domkapitels von Arras. Wie aber lässt sich die frenetische Verfolgung von randständigen Personen ebenso wie von städtischen Honoratioren erklären, die der Stadt als ganzer massive Nachteile brachte, da die unsichere Situation ihren Ruf soweit schädigte, dass auswärtige Händler den Kontakt vermieden? Folgt man Mercier, so stand mehr im Hintergrund als eine spontane Aufwallung religiösen Fanatismus’ oder der Versuch, sich einzelner Personen unter einem unangreifbaren Vorwand zu entledigen. Detailliert geht er dem Prozessverlauf nach (soweit dies angesichts der großen Brandverluste des lokalen Archivs möglich ist), über weite Passagen anhand der chronikalischen Überlieferung Jacques du Clercqs. Diese Quelle zeigt in Verbindung mit der anonymen Recollectio den Weg zu einem geradezu entgrenzten juristischen Verfahren auf, in dessen Verlauf das Wort der Angeklagten immer mehr an Zeugniswert verlor und lediglich das gesuchte Eingeständnis der dämonischen Verbindung als vollwertige und wahrheitsgemäße Aussage akzeptiert wurde. Wenn hier die üblichen Schranken und Vorsichtsmaßnahmen beim Einsatz der Folter fallen, so ist dies in erster Linie mit dem Stellenwert zu erklären, den die Vorstellung der Majestätsbeleidigung, der "lèse-majesté", erhält. ...
Schillernde und problematische Gestalten stehen im Mittelpunkt dieser Publikation, mit der G. Lecuppre eine gekürzte Fassung seiner 2002 in Poitiers verteidigten Dissertation vorlegt. Die "falschen Fürsten" des Mittelalters haben schon mehrfach die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven: Während Tilman Struve die "falschen Friedriche" unter dem Paradigma der Fälschung anging, untersuchte Rainer C. Schwinges die "falschen Herrscher" des Spätmittelalters als Indikatoren einer durch Krisen geprägten Mentalität. Trotz solcher Einzelfallstudien fehlte bislang aber eine monographische Darstellung des Phämomens in breiterer und vergleichender Anlage. Lecuppres Arbeit befriedigt daher zweifellos ein Desiderat der Forschung. Ausgehend vom derzeit wieder stärker in den Vordergrund tretenden Problemfeld der Identität und der Identifikation, bemüht sich der Autor anhand von Beispielen des 12. bis 15. Jhs. um eine Typologie des politischen Hochstaplers und dessen Umfeld. Die Auswahl der exemplarischen Fälle konzentriert sich dabei auf Fürstenfiguren, so dass etwa die "falschen Jeanne d’Arcs" nur kurz in den Blick geraten (über das Register aber erschließbar sind). In vier Abschnitten widmet sich Lecuppre den kulturellen Parametern der Vorspiegelung falscher Herrscheridentitäten (Kap. 1–3), den Etappen und Praktiken des Verlaufs einer solchen Hochstapelei (Kap. 4–6), den gesellschaftlichen Hintergründen und den Reaktionen der in Frage gestellten Herrscher (Kap. 7–8) sowie der Verbindung der politischen Hochstapelei mit dem Phänomen des Messianismus (Kap. 9–10). Die strukturell orientierte Analyse zergliedert die jeweiligen Einzelfälle recht stark, so dass dem Leser nicht immer sofort ein eingehender Überblick gelingt: Das Exempel dient als Ansichtsmaterial für systematisierende Erwägungen. Zahlreiche Sprünge über Zeit und Raum hinweg, vom "falschen Balduin IX." in Flandern über den "falschen Waldemar II." von Brandenburg oder Giannino Baglione, den "falschen Johann I. von Frankreich", zu Perkin Warbeck, dem "falschen Richard von York" in England machen daher den Nachvollzug der einzelnen Geschichten im Detail nicht immer einfach. ...
Birgit Emich
(2008)
Birgit Emich ist Gastprofessorin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien Erfurt. 1999 promovierte sie an der Universität Freiburg mit einer Arbeit über Nepotismus und Behördenalltag. Politik, Verwaltung und Patronage unter Papst Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom. Mit der Arbeit Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, für die sie den Akademiepreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie den Jahrespreis der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg i.B. erhielt, habilitierte sie 2002. ...
Der byzantinische Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts ist ein unerschöpfliches Thema, das alljährlich mehrere Bücher und noch mehr Aufsätze generiert. Und gelegentlich schafft er es sogar – wenn auch nur en passant –, in den Feuilletons der großen Tageszeitungen Erwähnung zu finden. So etwa Anfang 2006, als (rechtslastige) Journalisten in Dänemark meinten, Muslime mit Muhammadkarikaturen provozieren zu müssen – was ihnen bekanntlich ja auch gelang. Allerdings diente der mittelalterliche Streit über die Berechtigung der Verehrung heiliger Bilder lediglich als pseudogelehrtes Ornament der geführten Debatte. Ob dies dazu führte, dass irgendjemand zu dem kurz zuvor erschienenen Band von Thümmel über die Synoden zur Bilderfrage im 7. und 8. Jh. griff, um sich weiter über diesen Themenkomplex zu informieren, vermag der Rezensent natürlich nicht zu sagen. Auszuschließen ist es nicht. Und sicher hätte man genügend Informationen gefunden, um sich ein Bild vom Bilderstreit zu machen. Man hätte erfahren können, dass dieser byzantinische Gelehrtenstreit – um einen solchen handelt es sich in erster Linie – nichts mit dem islamischen Bilderverbot zu tun hatte, wie man früher oft meinte. ...
Im Jahr 1921 kam ein 16-jähriger, ursprünglich aus der Ölstadt Baku stammender jüdischer Reisender namens Lev Nussimbaum in Konstantinopel an. Lev wurde 1905 als Sohn eines Ölunternehmers und einer Mutter mit bolschewistischen Neigungen geboren. 1917 ergriffen Lev und sein Vater – die Mutter war um 1911 gestorben, möglicherweise durch Selbstmord – die Flucht. Ihre Reise führte über Turkmenistan und Persien zunächst in die Türkei, dann nach Frankreich, schließlich in das Deutschland der Weimarer Republik. Dort entdeckte der fast mittellose Student einen Markt für Artikel und (ab 1929) Bücher über den Orient, den er als ›echter‹ Araber bediente. »Essad Bey«, wie er sich seit etwa 1924 nannte, erlangte mit einer Fülle von Publikationen, darunter Biographien Mohammeds und Stalins, internationale Bekanntheit, bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Lage prekär machte. Denn die falsche Familiengeschichte des Konstrukts Essad Bey, dessen Vater angeblich Mohammedaner und dessen Mutter angeblich eine christliche Adelige waren, wurde nun durch missgünstige Konkurrenten genau untersucht und drohte als Fälschung entlarvt zu werden. Während Nussimbaums jüdische Ehefrau nach Amerika auswanderte und sich dort scheiden ließ, ging er selbst zunächst nach Wien, wo er 1937 als »Kurban Said« das später in Aserbeidschan als Nationaldichtung betrachtete Buch »Ali und Nino« verfasste, dann nach Italien, wo er 1941 an einer Wundinfektion starb. ...
Vor der Neuzeit war das Empfinden für die Zeit ein anderes, das wissen wir seit den begriffsgeschichtlichen Untersuchungen Reinhart Kosellecks. Die Sattelzeit markiert den Übergang von einem zyklischen zu einem lineareren Zeitverständnis, so könnte man vielleicht einen verkürzten Merksatz seiner innovativen Forschungen formulieren. Erst aufgrund seiner Studien entdeckte die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte das Thema Zeit. Es sind die gelungenen Sprachbilder Kosellecks und seiner Nachfolger, die im Gedächtnis haften bleiben. In ihnen stehen mittelalterliche Mönche mit ihrer Aufzeichnung von Chroniken für ein auf die Ewigkeit gerichtetes Zeitverständnis, in dem so etwas wie Fortschritt oder individuelle Lebenszeitplanung keinen Platz hat. Für die beschleunigte Zeit unserer Tage stehen die Bilder von dampfenden Eisenbahnen, die zeitliche Distanzen radikal verkürzten, von Fließbändern der modernen, vertakteten Arbeitswelt und von Menschen, die sich in Tagebüchern und Autobiographien Rechenschaft über die eigene Lebenszeit ablegen. Versucht man diese Bilderfolge in eine zeitliche Ordnung zu bringen, so entsteht ein merkwürdiger Befund. Die mit dem alten Zeitverständnis verknüpften spielen im Mittelalter, die anderen debütieren im Vormärz. So betrachtet entsteht ein Vakuum von mehreren hundert Jahren. Dieser Eindruck entsteht nicht nur für den Verfasser dieser Zeilen. Bei den vielfältigen historischen Untersuchungen zur Zeit dominieren eindeutig solche zum Mittelalter und der Neuzeit. Wenn man den Gegensatz linear-zyklisch einmal gedanklich beiseite legt und nach den Akteuren bei der sozialen Konstruktion der Zeit fragt, dann entstehen andere Zäsuren. ...
"Nach wie vor lückenhaft ist auch die Analyse der Einflussfaktoren, die für die Entwicklung der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert maßgeblich waren." Dieser Befund Annika Boenterts in ihrem Buch über die "Kinderarbeit im Kaiserreich 1871–1914" erstaunt zunächst, trifft aber vollauf zu. Das "Preußische Regulativ zum Schutz jugendlicher Arbeiter" aus dem Jahr 1839 ist vielleicht die am besten erforschte preußische Verordnung des 19. Jahrhunderts. Das ist kein Verdienst der Rechtsgeschichte. Sie konzentriert sich in erster Linie auf die Privatrechtsgeschichte, meist in Form von Ideengeschichte, und in zweiter Linie auf die Verfassungsgeschichte. Die Geschichte des Straf- und Verwaltungsrechts, aber auch des Völkerrechts kommen dabei genauso zu kurz wie die Betrachtung der Wechsel- und Steuerungswirkungen von Recht und sozialen Prozessen. So haben sich vor allem die an der Geschichte der Arbeiterbewegung orientierten Sozialhistoriker der Geschichte der Kinderarbeit zugewandt. Die deutsche Historiographie zu dieser verwaltungsrechtlichen Vorschrift ist zudem die Geschichtsschreibung eines ehedem geteilten Landes. Im Westen waren es die Sozial-, Wirtschafts- und Technikhistoriker, die den Beginn der Fabrikschutzgesetzgebung in Deutschland erforschten. ...
Wissenschaftliche Literatur über Serbien zählt im Westen zur Mangelware. Auf dem Büchermarkt überwogen bis vor kurzem geschichtliche Abrisse von Journalisten und dilettierenden Historikern. Montenegro ist ein noch seltenerer Gegenstand wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Daher weckt ein Sammelband zur Gesellschafts-, Kultur-, Politik- und Staatsgeschichte, der von einem wissenschaftlichen Institut und ausgewiesenen Kennern der serbischen Geschichte herausgegeben wurde, hohe Erwartungen. ...
Extrait des Minutes de la Secrétairerie d’Etat au quartier imperial de St Polten, le 22 brumaire an 14 Napoléon Empereur des Français et Roi d’Italie Sur le rapport de notre ministre de l’interieur Nous avons décreté et décretons ce qui suit Dispositions Générales Art. 1er l’Ecole existante dans le local du ci devant Gymnase Laurentien à Cologne, Departement de la Roer, prendra à l’avenir le titre d’Ecole secondaire communale de premier dégré II. Independamment de cette école, il en sera établi une autre sous le nom d’Ecole secondaire communale de second dégré. Le batiment et dépendances du collège des Jesuites du ci-devant couvent de St. Maximin sont concédé à la Ville de Cologne pour l’usage de cette école III. Tous les biens capitaux et revenus des fondations et bourses d’études des ci-devant Gymnases, et tous les biens capitaux et revenus provenant des Jésuites supprimés spécialement et originairement affectés aux établissemens d’instruction publiques de Cologne sont destinés à l’entretien des écoles de premier et second dégré de cette Ville
Die Folgen der französischen Vorherrschaft in Westdeutschland um 1800 sind ganz unterschiedlich bewertet worden. Manchmal schien der Verlust ‚nationaler‘ Selbstbestimmung entscheidend, so dass sie als düstere Jahre der Unterdrückung beschrieben wurden; manchmal stand der Aufbruch im Vordergrund, den die Modernisierung von Recht, Verwaltung und Wirtschaft, das Ende korporativer Autonomien und der Zuwachs an individuellen Mobilitätschancen zu ermöglichen schien. Auch im Bildungsbereich tritt beides vor Augen. Der Ersatz der ‚alten‘ Universitäten auf dem linken Rheinufer in Mainz und Köln durch neue Schultypen, zunächst Zentralschule und, in Köln, Sekundärschule, später durch preußische Gymnasien, ging mit zukunftsweisenden Reformen des Lehrplans und dem partiellen Abbau von Standesschranken einher. Zudem verzichteten die französischen Behörden auf die Verstaatlichung des bislang für die Bildung vorgesehenen Vermögens, und ermöglichten somit die Konsolidierung einer in Köln bis heute selbständigen Stiftung. Diese Neuordnung war aber zugleich Teil einer besatzungsähnlichen Politik, welche die in mancherlei Hinsicht erreichte Öffnung des höheren Schulwesens wieder einschränkte. Sie führte in beiden Städten zu vielen Jahren, in denen die Bürgerschaft auf den Komfort und das Prestige einer eigenen Universität verzichten musste: in Köln war das bis nach dem Ersten, in Mainz bis nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall. ...
Hans von Hentig war ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte. Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Rechtsanwalts Otto Hentig geboren. Dieser hatte zunächst in Berlin praktiziert, bevor er als Spezialist für Wirtschaftsrecht 1893 zum Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg und 1900 zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha wurde; letzteres Amt brachte der Familie die Nobilitierung ein. ...
The period discussed in this work can be defined with absolute precision: it started on June 3, 1907, when the second Duma was dispersed, and ended on July 19, 1914 (August 1 in the Gregorian calendar), when the war against Germany and Austro-Hungary was proclaimed. This period followed right after the first Russian Revolution, which altered the regime: from unlimited autocracy it became half-parliamentary. Although the revolution was aborted and the tsarist government regained control, several important features characterized the period of 1907- 1914. First of all, there was the very existence of the State Duma – the elected lower house of the Parliament with legislative power; second, the establishment of voluntary associations was eased; third, preliminary censorship was abolished. Thus, public life was characterized by a degree of freedom, such as had never existed in Russia before 1905 and would not exist after October 1917. However, the freedom was relative and very narrow; the government tracked all oppositional or near-oppositional activities and did not hesitate to stop them. The basic tension and mutual suspicion between the authorities and society remained intact and eventually brought the collapse of the regime in 1917. But the revolution of February 1917 was not inevitable. In the period under discussion the interest in politics drastically declined, the Russian political forces became more moderate and the majority sought evolution, rather then revolution as the mechanism for change. ...
Die Kontakte des Fürsten Karl Alois Lichnowsky (23. 6. 1761 Wien – 15. 4. 1814 Wien) zu Johann Wolfgang Goethe sind mit der kulturellen Tätigkeit dieses Adligen am kaiserlichen Hof in Wien unter Franz II. verknüpft. Die Beziehung Karl Alois Lichnowskys zur Kunst eröffnet das künstlerische Mosaik der Familiengeschichte der Lichnowskys, das die kulturelle Atmosphäre des 18. und Anfang des 19. Jh. näher bringt. Die Studie über diese Thematik trägt nicht nur zur Vorstellung der kulturellen Betätigung Karl Alois Lichnowskys bei, sondern weist auch auf die in einigen nacheinander folgenden Generationen des Adelshauses Lichnowsky nachweisbare kulturelle Kontinuität hin. Die Geschichte der Adelsfamilie Lichnowsky ist so durch die Kontakte zu Ludwig van Beethoven, Franz Liszt, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Max Liebermann, August Scholtis etc. gekrönt. Die Darlegung der Korrespondenz und Skizzierung der persönlichen Treffen des Fürsten Karl Alois Lichnowsky mit Johann Wolfgang Goethe markiert sowohl die kulturelle Geschichte dieses Adelsgeschlechtes, als auch bringt sie Goethes Beziehung zu Böhmen und zum Wien der napoleonischen Zeit näher. Neben der Kontakte Karl Alois Lichnowskys zu Goethe werden einige seiner weiteren Kontakte angedeutet, die das kulturelle Engagement dieses Fürsten belegen.
Die Tagung "Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die 'Ökumene der Historiker' nach 1945 – Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz" fand am 5./6. Juli 2007 in den Räumen des Deutsches Historischen Instituts Paris statt. In drei Sektionen diskutierten die Teilnehmer Fragen nach der Beharrung und Wandlung in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (I.), der Reinstitutionalisierung und Neuorientierung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft (II.) und dem Historiker als transnationaler Akteur (III.). Zu analysieren galt es, welche inhaltlichen, personellen, methodologischen und epistemologischen Brüche und Kontinuitäten sich bei der Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die Ökumene der Historiker feststellen lassen.
Nach der Begrüßung durch den Direktor des Instituts, Herrn Werner Paravicini, begann die Tagung mit zwei einführenden Vorträgen. Zunächst gab Christoph CORNELISSEN (Kiel) einen Überblick über die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. ...
Charles Dickens wusste, was es bedeutet. Ihm selbst blieb dieses Schicksal zwar erspart, nicht aber seinem Vater. Der geriet in Schuldhaft (debtor’s prison), so wie der Vater von Little Dorit in Dickens’ gleichnamigem Roman. Von so etwas handelt Breßlers Buch. Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde die Aussage, jemand hafte (persönlich) für seine Schulden, sehr wörtlich genommen. Später haftete nicht mehr der Schuldner in Person, sondern nur sein Vermögen, und nach heutigem Recht ist Haft im Zusammenhang mit Schulden nur in Ausnahmefällen möglich. ...
Der Titel der von Wolfgang Form und Theo Schiller herausgegebenen zwei Bände "Politische NS-Justiz in Hessen" scheint auf eine Darstellung des justiziellen Systems im nationalsozialistischen Staat im formellen und materiellen Sinn zu verweisen. In einem totalitären Staat kann jedem Sachgebiet politischer Charakter zukommen; politisch ist – wie Ernst Fraenkel formuliert –, "was die politischen Instanzen für politisch erklären". Aufschluss über den Inhalt beider Bände gibt der Untertitel "Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933–1945 sowie der Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34)". Deutlich wird, dass Thema der außerordentlich umfangreichen Studie von 1230 Seiten die strafverfahrensrechtliche Organisation in Hessen während des Nationalsozialismus ist...
Wer kennt es nicht, das gute alte Vexierbild? Das Auge erlebt einen Spagat zwischen zwei Darstellungen im selben Bild, von denen, je nach Betrachtungsweise, mal die eine, mal die andere im Vordergrund steht. Ein ähnliches Gefühl stellt sich ein, wenn man den Titel des vorliegenden Sammelbandes betrachtet, der 15 Blicke deutscher und französischer Historiker, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Juristen bietet – auf den eigenen Staat, den des Nachbarn oder beide gleichzeitig. Der deutsche Titel kündet von den "Figurationen des Staates in Deutschland und Frankreich", Bezugszeitraum 1870 bis 1945. So weit, so gut. Der französische, nur eine Zeile weiter unten, spricht hingegen von "Les figures de l’État en Allemagne et en France". Ein Übersetzungsfehler? Mitnichten. Ein Programm. So wie sich die Beiträge des Bandes in der Sprachkombination aus Deutsch und Französisch erschließen, erschließt sich sein Titel aus der Zusammenschau: Figuren und Figurationen. ...
Was kann einem die Sicherheit verschaffen, vom Besonderen und nicht vom Sonderlichen auf das Allgemeine zu schließen? Da tat sich nach 1990 ein Aktenfund im Holzkeller eines vormaligen DDR-Gerichts auf; aber kann man mit Verfahrensakten eines Kreisgerichts (KG) eine Justizgeschichte für das ganze Land schreiben? Es blieb allerdings nicht bei den Verfahrensakten und auch Generalakten des KG "Lüritz". ...
Im ersten Teil (Die Strafverfolgung von NSVerbrechen in der SBZ/DDR 1945–1966) gibt Christian Dirks auf der Grundlage der neuesten Forschungen (z. B. von K.W. Fricke, A. Weinke, H.Wentker, F. Werkentin u. a.) einen zusammenfassenden Überblick über die sowjetischen Militärtribunale, deren flächendeckende Urteils- und Strafpraxis vor allem ab 1947 NS-Verbrecher in gleicher Weise wie Gegner und Oppositionelle des Regimes in der SBZ/DDR erfasste. Mit dem Befehl Nr. 201 der sowjetischen Militäradministration (August 1947) gingen die meisten Strafverfahren dann an ostdeutsche Gerichte über. Diese Verfahren widersprachen in der Regel eklatant rechtsstaatlichen Grundsätzen, zumal da nun die vielfach absolut grundlose Unterstellung "NS- und Kriegsverbrecher" mit der Enteignung von Oppositionellen oder auch, wie gerade an einem Fallbeispiel gezeigt wurde, von einem bereits in der Nazizeit "arisierten" deutsch-jüdischen Industriellen amalgamiert wurde. ...
Wir wissen nicht, was König Adolf von Schweden in seiner Satteltasche trug, als er im 30jährigen Krieg hoch zu Ross in die Schlacht zog. Angeblich soll es ein Exemplar des Buches "De iure belli ac pacis" gewesen sein, des völkerrechtlichen Hauptwerks von Hugo Grotius. Spätestens seit Louis Aubéry du Mauriers "Memoires pour servir a l’histoire de Hollande et des autres Provinces-unies" (1688) gehört diese Anekdote zum festen Bestandteil des Grotius- Mythos. Erzählt wird sie meist dann, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis im Völkerrecht und ihrer Geschichte geht. Umdiese Frage dreht es sich auch in dermit Spannung erwarteten Arbeit von Martine Julia van Ittersum über die Verstrickungen des jungen Grotius in die Überseepolitik des ebenfalls noch jungen niederländischen Staates. ...
Jonathan Parry kann man als Biografen des englischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts beschreiben, und zwar als einen Biografen, der sich seinem Gegenstand nicht chronologisch, sondern systematisch nähert. Das vorliegende Buch bildet den dritten Teil einer Trilogie, die mit einer Studie über Liberalismus und Religion begann und sich mit einer viel beachteten Diskussion von Ideologie und Praxis des regierenden Liberalismus fortsetzte. [1]. In seinem zweiten Werk hatte Parry die Vermutung geäußert, dass der britische Liberalismus zwar "superficially generous" gewirkt habe, im Kern aber "profoundly chauvinistic" gewesen sei. [2] In gewisser Weise ist sein drittes Buch der Ausführung und Differenzierung dieser These anhand außenpolitischer Debatten gewidmet. Wie es sich bei der Fortsetzung einer Reihe geziemt, die ein komplexes Argument präsentiert, beginnt das Werk mit einer ausführlichen Rekapitulation der ersten beiden 'Folgen' in zwei einleitenden Kapiteln, die der liberalen Verfassungsvorstellung einerseits, der Verbindung zwischen der spezifisch liberalen Vorstellung eines moralischen öffentlichen Lebens, einer britischen nationalen Identität und europäisch-globalen Mission andererseits gewidmet sind. Der Einleitungsmodus setzt sich zunächst im dritten Kapitel fort, das anhand einer Diskussion der in England behandelten außenpolitischen Themen der 1830er- und 1840er-Jahre den Rahmen der Debatte absteckt: dabei stehen zunächst nicht außenpolitische Fragen (wie etwa die Orientkrise) im Mittelpunkt, sondern prinzipielle Probleme der Wechselwirkung zwischen äußerer Politik und nationalen Angelegenheiten, wobei Irland und der Katholizismus, Freihandel, die Person Palmerston und Nonkonformismus breiten Raum einnehmen. Die folgenden vier Kapitel behandeln dann jeweils anhand entscheidender Episoden (der Revolution von 1848, der italienischen Nationalstaatsgründung, des deutsch-französischen Krieges und der orientalischen Frage) Kontinuitäten und Brüche, Schwerpunktsetzungen und Veränderungen des liberalen Diskurses. Dabei zeigt Parry, wie drei Themenkreise ineinander griffen: die außen- und verteidigungspolitische Haltung Großbritanniens, die in liberaler Sicht dazu dienen sollte, ein nach englischem Muster geformtes, durch Kern-Werte wie Freiheit und staatliche Zurückhaltung, aber auch Protestantismus und Moral geprägtes Verfassungssystem weltweit zu fördern; die innenpolitische Thematik der Ausgestaltung der Erziehung (protestantischer) britisch / englischer Staatsbürger vor dem Hintergrund internationaler (Bildungs-)Konkurrenz; schließlich die Folgen eventueller auswärtiger Engagements für das britische Staatsgefüge, vor allem für die Beziehung zwischen Monarchie, Regierung, Parlament und Öffentlichkeit. Parry argumentiert überzeugend, dass eine innenpolitische Interpretation des Siegeszugs des britischen Liberalismus zu kurz greife. Außenpolitische Debatten (oder besser gesagt, deren innenpolitische Deutung und Instrumentalisierung) hätten eine entscheidende Rolle in der breiteren Öffentlichkeit gespielt, und auch in diesem Bereich sei es Liberalen (fast) immer gelungen, überzeugendere Antworten zu bieten als ihre konservativen Gegner. Die große Ausnahme in dieser Hinsicht war der deutsch-französische Krieg von 1870; hier führte liberale außenpolitische Zurückhaltung zu einer entscheidenden Wahlniederlage. Ähnliches galt für das Dilemma der orientalischen und ägyptischen Verwicklungen der 1880er-Jahre, wo die Kritik allerdings weniger einhellig ausfiel und mit gewissen Auflösungserscheinungen der liberalen Hegemonie, die ihren Ausgang in der Innen- und Irlandpolitik nahmen, zusammenfiel. Das Buch, ein Werk stupender Gelehrsamkeit, das auf jeder Seite von einer souveränen Kenntnis der Schriften bekannter und weniger bekannter Autoren zeugt, lässt sich in unterschiedlichen Perspektiven lesen. Zunächst einmal bietet es den letzten, am weitesten ausgereiften Stand von Parrys Überlegungen zum spezifischen Charakter des britischen Liberalismus in seiner hegemonialen Phase. Weiterhin bietet es eine exemplarische Fallstudie zur Interaktion zwischen außenpolitischer Konkurrenzwahrnehmung und innenpolitischen Initiativen im 19. Jahrhundert. Schließlich bietet das Buch einen Leitfaden durch die britische Außenpolitik und ihre Motivation zwischen 1830 und 1890. Man sagt Biografen gelegentlich nach, dass sie mit der Zeit Eigenarten ihrer Subjekte übernehmen. Parry mag der Versuchung insoweit erlegen sein, als er sein Thema ganz im Rahmen des liberalen Paradigmas angeht, das er beschreibt: mit einem trotz des potenziell internationalen Themas klaren Fokus auf England (der sich in der beinahe exklusiven Rezeption englischsprachiger Forschung spiegelt) und mittels einer pragmatischen, flexiblen, aber nicht immer trennscharfen Definition dessen, was als liberale (im Gegensatz zu konservativen oder radikalen) Äußerungen gewertet werden kann. Das ist eine potenzielle Schwäche, zugleich aber auch eine potenzielle Stärke des Buches, denn nur so konnte ein zentrales Alleinstellungsmerkmal des britischen Liberalismus adäquat abgebildet werden. Parry macht deutlich, dass Chauvinismus im britischen Fall eine Verbindung zwischen Überlegenheitsgefühl und potenzieller Weltoffenheit bedeutete; ebenso, dass die unpräzisen Parteigrenzen es ermöglichten, gerade im Bereich der Außenpolitik eine Anziehungskraft zu entfalten, die über den Kernbereich einer im engeren Sinne liberalen Klientel weit hinausreichen konnte. Unabhängig davon, aus welcher Perspektive man es in der Hand nimmt: dies ist ein sehr lesenswertes, zudem sehr angenehm geschriebenes Buch. Anmerkungen: [1] Jonathan Parry: Democracy and Religion: Gladstone and the Liberal Party, Cambridge 1986. [2] Jonathan Parry: The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain, New Haven 1993. [3] Ebd., 16. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
Die politische Geschichte der Stadt London im 19. Jahrhundert ist in den letzten Jahren nicht besonders intensiv behandelt worden. Ähnlich wie die Geschichten anderer Metropolen in der Moderne legen neuere Überblicke und Spezialstudien [1] für diese Jahre den Schwerpunkt auf eine kultur- und gesellschaftshistorische Perspektive, die sich mit dem Ausbau städtischer Infrastruktur, der symbolischen Sprache bebauter Räume und der Stadterfahrung im weitesten Sinne beschäftigt. Das hat eine historiografische Lücke hinterlassen, zu deren Schließung der vorliegende Band einen gewichtigen Beitrag leistet. Die Politik Londons zu beschreiben setzt allerdings voraus, dass es gelingt, londonspezifische Strukturierungsprobleme zumindest in den Griff zu bekommen. Wie das englische politische System insgesamt, so war auch der politische Raum London durch eine gewisse Unübersichtlichkeit geprägt, die es schwer macht, eine politische Gesamtgeschichte zu identifizieren, geschweige denn, einfach so zu erzählen. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zerfiel London in die Parlamentswahlkreise Westminster, City of London, Southwark und Middlesex; der Einfluss der Metropole strahlte allerdings auch nach Kent und Essex aus. Die Wahlrechtsreform von 1832 erweiterte die Zahl der Londoner Wahlkreise erheblich. Mit den Reformen der Lokalverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts und dem weitestgehenden Übergang zu Ein-Mann-Wahlkreisen 1885 kamen neben den neuen Wahlbezirken eine Londoner Gesamtverwaltung, die Gemeinden innerhalb der Grenzen der Metropole (boroughs) und formal unabhängige Städte wie Walthamstow in Greater London hinzu, welche die bisherige Mischung aus Gemeindeverwaltung (vestries) und Gremien für spezifische Zwecke (vornehmlich das für die Infrastruktur zuständige Metropolitan Board of Works) ablösten. Jeder Wahlkreis und jede Institution der Lokalverwaltung hat eine eigene, komplexe Geschichte; gerade diese Vielfalt trug entscheidendes zur politischen Vitalität Londons bei und stellt daher auch eine unverzichtbare Facette des Gesamtbilds dar. Der Sammelband strebt vor diesem Hintergrund nicht an, eine politische Geschichte der Gesamtmetropole zu skizzieren, sondern liefert in zehn Artikeln, die von einer ausführlichen Einleitung und einem Schlusskapitel, in dem weitere Forschungsperspektiven skizziert werden, eingerahmt sind, erste methodische und inhaltliche Annährungen an zentrale Fragen, welche eine solche Gesamtgeschichte behandeln müsste. Ein großes Thema des Bandes sind die Eigenarten, der Aufstieg und der Niedergang des Londoner Radikalismus. Matthew McCormick argumentiert, dass es weniger Sinn mache, von einem kohärenten radikalen Programm zu sprechen, als von einer Rhetorik der "Unabhängigkeit", die sich (nur) in der Gegnerschaft gegenüber den Zumutungen des Staates überschnitt. David A. Campion widmet sich der Frage, wie die Metropolitan Police zu der relativ zivilen, auf Deeskalation von Konflikten eingestellte Polizeikraft werden konnte, als die sie sich im späteren 19. Jahrhundert zumeist präsentiert. Er stellt klar, dass dies zum Zeitpunkt der Gründung keineswegs feststand, sondern Folge der Untersuchung von Missbräuchen durch die parlamentarische und breitere Öffentlichkeit im Rahmen von zwei 1833 eingerichteten Untersuchungskommissionen war, welche die Polizei von eher autoritären Wurzeln aus liberalisierten. Drei Aufsätze beschäftigen sich mit der viel diskutierten Frage, ob und wenn ja warum der Londoner Radikalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts an Unterstützung verlor. Ben Weinstein dokumentiert, dass das Russel'sche Sozialreformprogramm in London durchaus auf breite Sympathie stieß. Anthony Taylor präsentiert die andauernde Vitalität Chartistischer Vereine in London nach 1848, während David Nash ein Panorama säkularistischer Vereine entwirft. Es scheint also, dass ein abschließendes Urteil in dieser Frage noch weiterer Forschungen bedarf. Eine globalere Perspektive zeichnet die Beiträge von Detlev Mares und Marc Baer aus. Mares diskutiert die Beziehungen und Spannungen zwischen der liberal-radikalen "Opposition" in London und der Provinz. Dabei werden die Gründe für die Vitalität der Opposition in London besonders deutlich, die sich auf ein breites Publikum, eine vitale Presse und symbolische Orte wie die königlichen Parks stützen konnte. Diese Vormachtstellung wurde zwar in der Provinz gelegentlich kritisiert, aber im Allgemeinen doch anerkannt. Baers Beitrag schildert die Londoner Wende zum Konservatismus am Beispiel des Wahlkreises Westminster in einer längeren Perspektive, die gewisse konservative potenziale bereits in Paradoxien des Radikalismus um 1800 angelegt sieht. Die abschließenden Beiträge widmen sich dem Konservatismus, der London im späten 19. Jahrhundert anerkanntermaßen weitgehend dominierte. Marc Brodies Studie des konservativen Wahlerfolgs in Londoner "Slums" macht deutlich, dass die konservativen Basen im East End eher durch relativ großen Wohlstand als durch Armut gezeichnet waren, und dass religiöse Bindungen oft die entscheidende, allerdings in ihrer parteipolitischen Ausrichtung von Bezirk zu Bezirk variierende, Rolle spielten. Alex Windscheffel beschäftigt sich anhand konkreter Beispiele mit der Rolle des Empire für konservative Wahlerfolge in London. Während er die spannende Wahl nicht-weißer, nicht in England geborener Parlamentsmitglieder in Londoner Wahlkreisen relativ kurz darstellt, er handelt er ausführlich von Wahlniederlage und Wahlsieg des Abenteurers und Entdeckers Henry Morton Stanley in Lambeth, die zeigen, wie umstritten das imperialistische Projekt auch in der Hauptstadt des Imperiums blieb. Timothy Cooper schließlich richtet den Blick noch einmal über die Stadtgrenzen hinaus, wenn er die politische Ausrichtung einer typischen Boom-Vorstadt wie Walthamstow in den Blick nimmt. Insgesamt handelt es sich bei dem Band um eine Sammlung konziser Aufsätze zu präzisen Themen der Londoner Stadtgeschichte (und darüber hinaus), welche die thematische und methodische Richtung - wie die entsprechenden Probleme - einer künftigen Londoner Politikgeschichte aufzeigen. Anmerkung: [1] Vgl. Francis Sheppard: London: A History. Oxford 1998; Peter Ackroyd: London: The Biography, London 2001; Jonathan Schneer: London 1900: The Imperial Metropolis, New Haven 2001. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
John Wilkes war eine der aufsehenerregendsten Figuren der englischen politischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 1725 wurde er als Sohn eines vom Nonkonformismus zum Anglikanismus konvertierten Londoner Unternehmers geboren. Es ist bezeichnend für das Streben der Familie nach sozialem Aufstieg, dass er zum Rechtsanwalt ausgebildet werden sollte; diesem Ziel diente auch ein Studienaufenthalt in Leiden. 1747 erwarb er durch die Heirat mit Mary Mead neben verstreutem Landbesitz ein Gut in Aylesbury, das ihm den Weg ins Parlament erleichterte, allerdings nicht verhindern konnte, dass er sich im Zuge des Wahlkampfs hoch verschuldete. Politisch stand er zunächst dem Kreis um William Pitt d. Ä. nahe, was dazu führte, dass er durch den Regierungswechsel, der Georgs III. Krönung folgte, Aussicht auf politische Ämter und das sich daraus ergebende Einkommen verlor. Stattdessen stellte er seine spitze Feder in den Dienst der Opposition, und seine Konflikte mit Regierung und Parlamentsmehrheit wurden bald zur Prinzipienfrage. Im Frühjahr 1763 wurde er wegen eines persönlichen Angriffs auf den ersten Minister des Königs, dem er ein Verhältnis mit der Königinmutter andichtete, erstmals verhaftet - was einen illegalen Eingriff in die parlamentarische Immunität darstellte, der Wilkes zunächst hohen Schadensersatz versprach. Im Herbst 1763 folgte allerdings eine formgerechte Anklage wegen Blasphemie, die sich auf einen pornographischen Text, den "Essay on Woman", bezog. Da seine Position aussichtslos schien, floh Wilkes nach Frankreich; seine Flucht zog die Ächtung nach sich, was wiederum bedeutete, dass er seine Schadensersatz-Forderungen vor Gericht nicht mehr geltend machen konnte. In Paris lebte Wilkes vor allem von mehr oder weniger geheimen Zuwendungen der wohlhabenden Mitglieder seiner 'Partei'. Die wachsende Schuldenlast und das Gefühl, von seinen Gönnern nicht hinreichend unterstützt zu werden, brachten Wilkes 1768 zurück nach England. Der Versuch, sich in den engeren Rat der Stadt London wählen zu lassen, scheiterte; allerdings gelang es Wilkes, sich - auch aus dem Gefängnis - drei Mal in Folge für den Wahlkreis Middlesex im Parlament wählen zu lassen. Die Wahl wurde dreimal annulliert, beim letzten Mal erkannte das Unterhaus den unterlegenen Kandidaten als rechtmäßig gewählt an. Vom unappetitlichen Propagandisten wurde Wilkes so zum Symbol für den Widerstand gegen die politische Willkürherrschaft einer parlamentarischen Oligarchie, die danach strebte, die Zusammensetzung des Parlaments durch Kooptation zu bestimmen. Die Kritik von Wilkes' Anhängern deckte sich in diesem Punkt in mehrfacher Hinsicht mit der Begründung amerikanischer Forderungen nach politischer Unabhängigkeit; ganz weitreichende Interpretationen weisen ihm sogar eine entscheidende Rolle für den Ausbruch der amerikanischen Revolution zu. [1] Wilkes wurde zum Liebling eines radikalen Londoner Kleinbürgertums. Er wurde Londoner Stadtrat, Bürgermeister, Kämmerer und setzte durch juristische Winkelzüge 1774 das Recht durch, über die Debatten eines Parlaments öffentlich berichten zu dürfen, dem er seit 1782 wieder angehörte. Die letzten Jahre seines Lebens sind weniger aufregend und weniger bekannt. In vielerlei Hinsicht wurde Wilkes zum gemäßigten Konservativen, der die Französische Revolution kritisch betrachtete und sogar ein einigermaßen vertrautes Verhältnis zu dem - allerdings nicht mehr ganz bei Verstand befindlichen - Georg III. aufbaute. Von den radikalen Forderungen der 1770er Jahre blieb vor allem die Unterstützung der religiösen Toleranz übrig. Wilkes starb 1797. Das Leben von John Wilkes ist seit George Rudés klassischer Darstellung der Gegenstand einer ganzen Reihe von Monographien gewesen; eine weitere ist angekündigt. [2] Vor diesem Hintergrund geht es Sainsbury weniger darum, noch eine Biographie zu schreiben, sondern Paradoxien der öffentlichen Wirkung von Wilkes zu entschlüsseln. Er fragt etwa danach, wie ein chronisch zahlungsunfähiger und -unwilliger Patron ausgerechnet zum Idol der kaufmännisch orientierten Londoner Bevölkerung werden konnte oder welche Rolle Wilkes sexuelle Ausschreitungen für seine Popularität spielten. Daraus ergibt sich der thematische Aufbau des Buches, das in sechs Teile gegliedert ist: Familie, Ehrgeiz, Sex, Religion, Klasse, Geld. Wilkes erscheint in (fast) allen diesen Bereichen als Grenzverletzer, dem es gelang, seine ungewöhnlichen Verhaltensweisen (Trennung von seiner Frau; aristokratische Ambitionen und Volksnähe) als kalkulierte Provokation gegenüber 'denen da oben' zu präsentieren. Eine solche Strategie war in vielem prekär, da sie auf subtilen Bedeutungsunterschieden beruhte. So versuchten Wilkes' Verteidiger seine sexuellen Ausschweifungen als Zeichen einer Potenz darzustellen, die sich von den verweichlichten, bisexuellen Praktiken einer perversen Aristokratie abhob - obgleich Wilkes diesen später von ihm kritisierten Zirkeln angehört hatte. Auf einer ähnlich spitzfindigen Argumentation beruhte die Unterscheidung zwischen den unvermeidbaren Schulden einer politischen Figur wie Wilkes und der Kaufleute bedrückenden Zahlungsverweigerung sozialer Eliten. Sainsburys sehr lesenswerte Interpretation der vielen Gesichter des John Wilkes beruht auf einer außerordentlichen Kenntnis der Briefe, Flugschriften und Karikaturen der Zeit. Was ihm allerdings auch nicht gelingt, ist, die Jahre nach 1774 stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Als es in der Öffentlichkeit Still um Wilkes wurde, verlor auch sein öffentliches Bild offenbar seine Konturen. Anmerkungen: [1] James Lander: A Tale of Two Hoaxes in Britain and France in 1775, in: Historical Journal 49, 2006, 995-1024. [2] Vgl. etwa George Rudé: Wilkes and Liberty: A Social Study of 1763 to 1774. Oxford 1962; Peter D. G. Thomas: John Wilkes: A Friend to Liberty. Oxford 1996; Arthur H. Cash: John Wilkes: The Scandalous Father of Modern Liberty. New Haven 2006.
Zur Vorbereitung des hundertjährigen Firmenjubiläums gegründet, hat das Historische Archiv Krupp 2005 nun selbst schon eine hundertjährige Geschichte hinter sich. Und so hat es auch eine Festschrift erhalten. Es ist keine gravitätische Erbauungsschrift geworden, sondern ein handlicher Band, reich bebildert, der anschaulich und gut lesbar vielerlei Aspekte dieser hundertjährigen Archivgeschichte mit Themen der Firmengeschichte von Krupp und der allgemeinen Geschichte verknüpft. Zugleich, eingeflochten in die Darstellung, gibt Ralf Stremmel, der das Krupp-Archiv seit 2003 leitet, einen Einblick in die Arbeit dieses Wirtschaftsarchivs. Wie kommen Akten ins Archiv? Was machen Archivare und Benutzer mit den Akten? Was leistet das Archiv rur das Unternehmen? ...
Ein Unsichtbarer posiert für das Erinnerungsfoto eines Ereignisses, das nicht stattgefunden hat: In der Ritterrüstung steckt Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Ehemann der Krupp -Erbin Bertha und Aufsichtsratsvorsitzender des größten deutschen Industrieunternehmens im Kaiserreich, des Stahlkonzerns und Waffenproduzenten Krupp. Er war einer der Teilnehmer an einem Historienspiel, das den Fortschritt, natürlich besonders denjenigen der Waffentechnik, dazu den Kaiser und Deutschland glorifizieren sollte. Die Handlung des Stückes war trivial, doch die Ausstattung mit Kostümen und Requisiten opulent. Die 314 Mitwirkenden waren leitende Angestellte des Unternehmens, ihre Frauen und Kinder. Sie hatte monatelang für das Spektakel geprobt, das im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der Firmengründung der Fried. Krupp AG und des Geburtsjahres von Alfred Krupp im Sommer 1912 aufgeführt werden sollte. Zum Abschluss des Besuches von Kaiser Wilhelm II., der am 8. und 9. August Essen und das KruppWerk besuchte, sollte die einzige geplante Aufführung nur für das Staatsoberhaupt und sein Gefolge stattfinden. Doch sie fiel aus, denn am Vormittag des 8. August hatte sich im benachbarten Bochum eines der schwersten Grubenunglücke des Ruhrgebietes ereignet, dem 112 Bergleute zum Opfer gefallen waren. ...
Was charakterisiert Universität? Welchen Leitbildern folgten – und folgen – Hochschulreformen? Unter diesen zentralen Fragestellungen den bundesrepublikanischen Diskurs im Spannungsfeld von universitärem Selbstverständnis und gesellschaftspolitischen Anforderungen näher zu beleuchten, seine Entwicklung zu dokumentieren und zu deuten, war Anliegen der Tagung „Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945“.[1] Die im Rahmen des Forschungskollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ von den Teilprojekten Soziologie und Neuere Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt vom 2. bis zum 4. März 2006 ausgerichtete Veranstaltung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt. ...
Dass in Bremen an einer Uferböschung des Flüßchens Ochtum ein alter – mit Stacheldraht bespannter – Schleppkahn als Konzentrationslager gedient hat, erfährt, wer den "Benz-Distel" aufschlägt. Drei Bände des großen Werkes über die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager liegen nun vor. Auf ursprünglich sieben, mittlerweile neun Bücher, die in halbjährlichem Abstand bis zum Frühjahr 2009 im Verlag C.H. Beck erscheinen werden, ist die Gesamtgeschichte der Lager angelegt, die Wolfgang Benz und Barbara Distel initiiert haben. Das mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Herausgeberteam der "Dachauer Hefte" treibt bereits seit Jahrzehnten die Forschung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern voran. Im Zentrum des schon wegen seines schieren Umfangs eindrucksvollen Projekts steht die Topografie der Lager, genauer: der Umstand, dass die Nationalsozialisten Deutschland und das gesamte besetzte Europa flächendeckend mit einem Netz von Haftstätten überzogen haben. "Der Ort des Terrors" heißt denn auch die mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes und des Auswärtigen Amtes geförderte Gesamtdarstellung der Lager. ...
Als allererste synthetische Darstellung der vollständigen Rechts- und Verfassungsgeschichte Osteuropas stellt Küppers Buch eine beachtenswerte Leistung dar, deren Stärke eine getreue Schilderung rechtshistorischer Fakten bildet. Hin und wieder gelingen Küpper aber auch tiefschürfende, obgleich nicht immer ganz neue, analytische Einsichten, etwa dass Ostmitteleuropas bis heute nachwirkende Rückständigkeit auf den sogenannten zweiten Feudalismus zurückgehe, in dessen Folge Böhmen, Ungarn und Polen im 16. – 18. Jahrhundert in verschiedenem Maße ihre Unabhängigkeit eingebüßt haben (24 f.). Die daraus entstandene "Staats- und Rechtsferne der Bevölkerung" gelte erst recht für das ein halbes Jahrtausend lang von den Osmanen beherrschte Südosteuropa (27), dem Küpper außerdem in der nachfolgenden Nationalstaatenperiode des 19. Jahrhunderts das starke Auseinanderklaffen des Modernisierten in den Städten und des Alten auf dem Lande treffend attestiert (368, 397). ...
Die Geschichte des Alters ist jung, jünger als die Geschichte der Jugend. Die historische Betrachtung einer Lebensphase hat Konjunkturen, die den gesellschaftlichen und demographischen Entwicklungen folgen. Stand die Geschichte der Jugend lange unter dem Vorzeichen einer als hochpolitisch begriffenen Generation vor und nach 1968, so wurden die gleichen geburtenstarken Jahrgänge in letzter Zeit eher als die erste konsumfreundlich alternde Kohorte ("best agers") von Werbefachleuten in den Blick genommen. Vor allem die demographische Entwicklung westeuropäischer Gesellschaften steht nun Pate für die Konjunktur der sozialgeschichtlichen Forschung zum Alter. Zwei methodische Ansätze können unterschieden werden. Ein Breitbandansatz sammelt Bilder, Märchen und Fabeln, betrachtet Theaterstücke und Bauernschwänke, vertieft sich in wichtige geistesgeschichtliche Dokumente und betrachtet die ökonomische Situation älterer Menschen. So entstehen oft reich bebilderte Werke wie etwa die Geschichte des Alters von Peter Borscheid oder die Kulturgeschichte des Alters von Pat Thane. Nach der Lektüre hat man einen guten Eindruck von der Aufladung der Altersbilder durch biblische Mahnungen, den immer wiederkehrenden Stereotypen von Weisheit und Verfall und den Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. ...
Thomas Horstmann und Heike Litzinger haben ein bemerkenswertes Buch mit dem – zunächst irritierend – weit gefassten Titel "An den Grenzen des Rechts" herausgegeben. Erst der Untertitel "Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen" konkretisiert das Thema. Es geht um die Frage der strafrechtlichen Behandlung von Systemunrecht: ob und inwieweit NS-Verbrechen mit rechtsstaatlichen Instrumentarien abgeurteilt werden können. ...
Die vorliegende Münchner historische Dissertation untersucht am Beispiel der letzten Generation der Reichskammergerichtsassessoren die Wahrnehmung und Verarbeitung der Auflösung des Alten Reiches und die Bewältigung dieses epochalen Umbruchs durch die ehemaligen Richter bis in die Zeit des Deutschen Bundes hinein. Es geht folglich um Auflösung und Transfer eines Rechtssystems, das Mader am Beispiel der Bewältigungsstrategien der rund 20 Kammerrichter und ihrer Nachkarrieren detailliert rekonstruiert. Zwar fällt die Kritik des Verfassers an der "Untergangsorientierung" der Forschung zu einseitig und pauschal aus – denn diese hat das Funktionieren der Reichsverfassung auch in ihrer letzten Phase differenziert herausgearbeitet. Zutreffend ist jedoch, dass Fortwirkung, Kontinuität und Transfer des Alten Reiches, seines Rechts, seiner Institutionen und seiner Funktionsträger noch stärker erforscht werden sollten. ...
The volume consists of eight essays with a precise focus: the study of the "dynamics of social exclusion" as reflected in data available for 1994 to 1996, when a detailed survey of a sample of households in EU countries, the "European Community Households Panel," was conducted. On the basis of these data, the authors document the extent and prevalence of poverty generally and specifically in regard to particular risk groups defined in terms of age, health and personal circumstances (young adults, lone parents, people with sickness or disability and retirees).[1] The analysis was carried out for five countries: Austria, Germany, Greece, Portugal and the United Kingdom, which were taken to be representative of the extremes of EU membership: north and south; wealthy and poor; large and small. The essays discuss income poverty (measured as incomes at 40, 50 or 60 percent of median incomes) as well as housing problems, access to basic necessities like food and utilities, access to consumer durables and social interactions. The essays document not only that the extent of poverty varies between countries--a well-known fact--but also that its causes and effects continue to differ even in an increasingly united western Europe. Austria had the lowest proportion of the population in poor households (17 percent--compared to 18 percent in Germany, 21 percent in the United Kingdom and Greece, and 24 percent in Portugal). While sickness and disability were likely to impoverish individuals in all the countries studied, this was particularly true of Austria, Germany and the United Kingdom (that is, northern Europe); retirement was more likely to result in income poverty in the south. The north-south divide was less relevant for parents; single income households with children were particularly likely to suffer from income poverty in the United Kingdom, Germany and Portugal. Poverty was more likely to be persistent than merely a brief phase in the life cycle. Persistence rates of income poverty were around 80 percent in Greece and Britain, above 70 percent in Portugal and above 60 percent in Germany and Austria. But the effects were rather different. In the United Kingdom, high persistence rates of income poverty coincided with low persistence rates (34 percent) of amenities deprivation, whereas the persistence of necessities deprivation was relatively low in Greece at 39 percent. The volume was conceived as a contribution to policy decision-making in the aftermath of the 2000 Lisbon Declaration, which focused (among other things) on poverty and encouraged member states to set more concrete targets for dealing with social exclusion. Some member states did so; Britain, for example--a country where income poverty was particularly likely to result in deprivation of basic necessities--vowed to abolish "poverty" by 2020. The volume is a treasure-trove of data and empirical analysis; it makes essential, though at times rather trying, reading for anyone interested in the extent of social exclusion, and the likelihood of falling into or escaping from it. It also provides ample proof--if any were needed--that governments seeking to combat social exclusion have to set different priorities, because they are not attacking the same phenomenon. Unfortunately, the empirical as well as the more conceptual contributions reveal some of the approach's and the book's shortcomings.[2] The book's very advantage--providing a precise research agenda--is also a drawback. With its focus on three years, and on the life-cycle rather than more stable factors such as ethnicity, occupation or regional origin, the volume presents a particular image of the risk (and duration) of deprivation, which may be more or less comprehensive for different countries. The narrow temporal focus makes one wonder whether measuring poverty's "persistence" of poverty makes much sense for such a relatively short time. Such doubt is enhanced when considering some of the oddities in the results: how did households that remained poor in the United Kingdom manage to get their hands on consumer durables? (The same question could be asked for the sudden increase in access to necessities in Greek households.) Illustrating the empirical findings with more concrete examples would have been helpful, particularly when they are counterintuitive, for instance the statement that patterns of poverty in eastern and western Germany were converging in spite of the continuing divergence in unemployment patterns. Another question--admittedly suggested by events of the last several years--is whether ethnicity, regional origins or occupations are not more important in determining the extent and duration of social exclusion than life cycle. These factors were not, and partly could not be, measured on the basis of the data used, but have moved to the center of policy debates today. This matter relates to another issue the book does not address: who is to blame for poverty, and what roles have governments and the European Union assumed in determining poverty patterns and trends? Have past policy choices--for instance, cutting benefits; increasing "flexibility" in labor markets; encouraging the emigration of jobs (such things the European Union is frequently accused of doing)--made a difference? Is combating poverty a serious policy agenda, or merely window-dressing to make the "reforms" that were key to the Lisbon agenda for modernizing the EU more palatable? Europe seems to be facing an internal contradiction between the agenda of competition and privatization (which results in higher access costs to essential services for "low value" customers) and the agenda of abolishing poverty. This contradiction is partly sustained by U.K. data. Which element is and should be more important to the European Union or national governments is hotly debated, but of course serious contributions to the debate require a comprehensive review of the present state of affairs through the type of careful studies of which this volume is an excellent example.
Im Mittelpunkt der Darstellung stehen zwei Angehörige der Familie Clough. Anne Jemima (Annie) Clough wurde 1820 in Charleston, North Carolina, geboren und starb 1892 im englischen Cambridge. Ihre Nichte Blanche Athena (Thena) Clough kam 1861 in Derbyshire auf die Welt und starb 1960 in London - das erklärt Anfangs- und Enddatum des Untertitels. Die Geschichte, die Gillian Sutherland in dieser lebendigen und materialreichen Familienbiografie erzählt, hat zwei Fluchtpunkte. Das Schicksal der Cloughs ist eng verflochten mit der Geschichte von Newnham College, Cambridge, wo Sutherland lehrt. Zudem geht es der Autorin um das Verhältnis zwischen bildungsbürgerlichen Berufen und 'gentility', d. h. einem finanziell abgesicherten und nach den Maßstäben der englischen Oberschicht respektablen Lebensstil. Annie Clough war die Tochter eines Kaufmanns, der mehrfach bei dem Versuch scheiterte, von Amerika oder England aus im Fernhandel oder Finanzwesen, vor allem im Handel mit Baumwolle, sein Glück zu machen und ein respektables Vermögen zu erwerben. Die Übersiedlung der Familie nach Amerika war Ausdruck der Hoffnung auf das Potenzial des Baumwollmarktes; die Rückkehr nach Liverpool ein erster Ausdruck des Scheiterns. Aber während die Bank von Annies Großvater nur einmal in Konkurs ging und mittelfristig alle Schulden tilgen konnte, machte das Handelshaus ihres Vaters zweimal bankrott. Die Notwendigkeit, zum Unterhalt der Familie beizutragen, brachte Annies Bruder, den in Oxford als Theologen ausgebildeten, Spezialisten als Dichter bekannten Arthur Clough dazu, sich zunächst als Vorsteher eines Studentenwohnheims des Londoner University College, dann als Beamter im 'Erziehungsministerium' zu versuchen - beides letztlich mit mäßigem Erfolg. Das lag freilich auch daran, dass Clough, den die Debatten im Umkreis des Oxford Movement zum Atheisten hatten werden lassen, als Lehrer in einem noch weitgehend theologisch geprägten Umfeld nur schwer tragbar schien; eine akademische Karriere in Oxford blieb ihm ebenso verschlossen wie die Aussicht auf eine Pfarrei. Annie Clough wählte ebenfalls den Weg in den Bildungsbereich. Freilich fehlte ihr eine formale Ausbildung, die über den Schulbesuch selbst hinausgegangen wäre. Mithin waren auch ihre Unternehmungen als Lehrerin und Schulleiterin eher provisorischer Natur; dazu kam der frühe Tod des Bruders und das Bedürfnis, mit für dessen Kinder zu sorgen. Annie Clough engagierte sich somit aus Überzeugung, aber auch aus ökonomischem Interesse für einen Ausbau der Frauenbildung. 1871 wurde sie Vorsteherin eines vor allem auf Betreiben Henry Sidgwicks gegründeten Wohnhauses für bildungswillige Frauen in Cambridge. Die Universität hatte soeben Vorlesungen für weibliches Publikum geöffnet und damit eine Kernforderung der akademischen Frauenbewegung erfüllt. Ähnliche Vorlesungen wurden bereits in anderen Teilen Englands angeboten. In Cambridge ergab sich aber das Problem, dass in der Stadt keine geeigneten Unterkünfte für alleinstehende Damen zur Verfügung standen. Das spätere Girton College befand sich damals noch in Hitchin; das Cambridger Modell sah zudem vor, dass Frauen ganze Vorlesungszyklen besuchen sollten, die sich vorwiegend an männliche Studenten "in residence" richteten, was wiederum die Begleitung durch eine Anstandsdame erforderte. 1875 wurde aus dem zunächst fünf Damen beherbergenden Wohnheim Newnham Hall, 1879 Newnham College, nach Girton das zweite Frauencollege der Universität. Die Autodidaktin Clough wurde von einer quasi-Hausdame zum College Principal. Auf diesem Posten folgte ihr Thena Clough, die zu den ersten Newnham Studentinnen gehört hatte. Der zweite Teil des Buches kreist um die Funktionsweise des Colleges, den langen Kampf um die Zulassung von Frauen zu Universitätsexamen und das intellektuelle Milieu Newnhams, ohne doch ganz zur breiten College Geschichte zu werden. So gerät freilich die These aus dem Blick, bildungsbürgerliche Aktivitäten seien finanzielle Rettungsanker der englischen Oberschicht gewesen, die es erlaubten, ohne großen Aufwand einen respektablen Lebensstil zu sichern (2 f.), der normalerweise auf Handelskapital oder Landbesitz gegründet gewesen wäre. Im Falle der männlichen Cloughs mag das so gewesen sein (auch Thenas Bruder machte eine eher wenig distinguierte Karriere im civil service), bei den Frauen der Familie wird aber bereits deutlich, dass die These kaum verallgemeinerbar ist. Zudem fehlen systematische und detaillierte Angaben zum Einkommen der Cloughs; über weite Strecken scheint ein Rest von Familienvermögen und ein dichtes Verwandtschaftsnetzwerk wichtiger gewesen zu sein als der Beruf. "The Power of Mind" passt da - auch mit Blick auf Annie Cloughs angeheiratete Cousine Florence Nightingale und andere Angehörige des weiteren Bekanntenkreises - als Erklärungsmodell schon besser.
The articles in this volume represent anthropological approaches to the study of external and internal boundaries in Europe. The authors raise fascinating methodological and empirical questions by approaching European societies from the perspective of a discipline usually working on the basis of greater cultural distance between scholars and the objects of their research. Moreover, the volume tackles a subject usually understood as a political project and a political problem, E.U. Europe, in an original non-political-science perspective. The volume's case studies are all based on bottom-up views of Europe, with fieldwork the methodology of choice. The first articles focus on institutions. Cris Shore and Daniela Baratieri's article focuses on the ambivalent results of attempts by European schools, which cater mainly to Eurocrats in Brussels and Luxemburg, to replace nationalism with a sense of European identity or nationhood, while Gregory Feldman discusses Estonian programs for the integration of Russian-speakers and Davide Però addresses the position of Italy's left-wing parties and public to the "new immigration." While these essays argue that "Europe" may not be as destructive to national (institutional) boundaries or the nation state as is often supposed, the next block of articles tackles migration across boundaries in a more conventional perspective, focusing on particular immigrant groups. Helen Kopnina discusses Russians in London and Amsterdam, while Christina Moutsou focuses upon immigrants in Brussels and Jacqueline Waldren examines Bosnians in Mallorca. To me, the case study of Turkish migrants in West Berlin by Sabine Mannitz is particularly intriguing, because it uses the peculiar experience of a lesson on Jews' fate in the Holocaust in which the teacher cast immigrants as permanent outsiders in Germany to explore pupils' sense of boundaries, and the East-German West-German divide appeared to loom much larger for immigrants than that between foreigners and Germans. The last section focuses on concrete and contested boundaries in European states and towns: William F. Kelleher, Jr. discusses Northern Ireland, Greek towns are the focus of Venetia Evergeti and Eleftheria Deltsou's article and South Tyrol is examined by Jaro Stacul. The volume makes for diverse and diversifying reading, and can only be highly recommended to anyone interested in innovative perspectives on the fate of the European project.
In recent publications Otto Hahn, last president of the Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, is charged with having favoured the Nazi regime, before World War II by politically purging institutes and suppressing Lise Meitner’s contribution to the discovery of nuclear fission, and during the war by contributing to the German war efforts, mainly to the development of nuclear weapons. These charges, however, which partly concern also the Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft and some of their institutes are based on ignorance or disregard of the historical sources.
Propagandafilme der NSDAP
(2005)
Dass dokumentarische Filme auch Propagandazwecken dienen können, war in den 20er und 30er Jahren international akzeptierter Konsens. Der nationalsozialistische Propagandafilm war, so gesehen, keine ausgesprochene dokumentarische Entgleisung. Wie die nationalsozialistische Partei und später der NS-Staat den Dokumentarfilm nutzten, um ihre Ideologie und Ziele zu verbreiten, untersucht Peter Zimmermann in diesem Beitrag. Er behandelt den nationalsozialistischen Propagandafilm von den Anfängen der Wahlwerbung über die Parteitagsfilme bis zur Verbreitung der arischen Rassenideologie. Besonderes Augenmerk legt er auf die Ästhetik der Riefenstahl-Filme mit ihrer idealisierenden Verklärung Hitlers und der NSDAP und auf die filmische Konstruktion von Feindbildern wie in Hipplers Propagandafilm "Der ewige Jude". Die einzelnen Kapitel sind Auszüge aus Band 3 des Sammelwerks "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland".
Im Sommer 1912 feierte die Essener Fried. Krupp AG das Doppeljubiläum des hundertsten Jahrestages der Firmengründung und des hundertsten Geburtstages von Alfred Krupp, der als Sohn des eigentlichen Firmengründers Friedrich Krupp das Unternehmen aus kleinsten Anfängen an die Weltspitze geführt hatte. Es war das in seiner Art erste und größte Industriejubiläum im Kaiserreich, das durch den zweitägigen Besuch Kaiser Wilhelms II. in Essen am 8. und 9. August 1912 zusätzlichen Glanz erhielt. Klaus Tenfelde beschreibt dieses Jubiläum zunächst als Ausdruck der herausgehobenen Stellung des größten deutschen Unternehmens, des "besonderen Großunternehmens" (9), das schon seit Jahrzehnten eine "gegenseitig machtstützende Verbindung" (7) mit dem preußischen Königshaus, seit der Reichsgründung dann mit dem deutschen Kaiserhaus verband. Tenfelde belässt es nicht beim Krupp-immanenten Blick, sondern erschließt das Ereignis über den unternehmensgeschichtlichen, über den wirtschaftsgeschichtlichen Fokus hinaus der Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Kaiserreiches. Er betrachtet das Jubiläum als einen Ausdruck der Festkultur des Kaiserreiches, das Einblicke in dessen Gesellschaft und ihr Selbstverständnis ermöglicht. Anhand der umfangreichen Quellen des Krupp-Archivs und vieler Bilder, die nicht nur illustrieren, sondern als Quelle ernst genommen werden, zeigt Tenfelde, wie sich die Struktur der wilhelminischen Gesellschaft in den Feierlichkeiten abbildet. ...
Mit dieser Publikation legt der Berliner Historiker und Bucharin-Spezialist Wladislaw Hedeler eine voluminöse, mit ausführlichen Dokumentenauszügen, Zitaten sowie Zahlen- und Faktenmaterial kombinierte Zeittafel über den sowjetkommunistischen Massenterror in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vor, an deren Zusammenstellung er seit über einem Jahrzehnt gearbeitet hat. [...]
Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wird seit dem letzten Jahr im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben. Der Wechsel von der Universität Mannheim nach Berlin war auch mit einem personellen Austausch im Herausgeberkollektiv verbunden. Nach dem Ausscheiden von Wissenschaftlern aus Mannheim kamen der Bochumer Historiker und stellvertretende Vorsitzende der Stiftung Aufarbeitung Bernd Faulenbach, der Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung der Bundesbeauftragten für die MfSUnterlagen, Ehrhart Neubert, und einer der beiden Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, Manfred Wilke neu hinzu.
Den Schwerpunkt der Ausgabe 2004 bilden Beiträge über die Geschichte der Komintern sowie der Sowjetunion und deren Führer. ...
Am 27. und 28. September 2005 tagten Historiker und Philosophen der Mathematik und Naturwissenschaften in Frankfurt a.M. im Gebäude des Physikalischen Vereins. Eine Besonderheit des Internationalen Symposiums war der Dialog mit Vertretern der aktuellen Grundlagendebatte der Basiswissenschaft Physik. In zwölf Vorträgen wurden an zwei Tagen Raum- und Zeitkonzeptionen bedeutender Naturphilosophen der letzten 400 Jahre vorgestellt. Naturwissenschaftshistoriker rekonstruierten die Entwürfe von Giordano Bruno, Marin Mersenne, René Descartes, Otto von Guericke, Baruch Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz, Isaac Newton und Leonhard Euler, während Grundlagentheoretiker der Physik einen Überblick über eigene Konzeptionen mit einem systematischen Anschluss an die Denktraditionen vorführten. Die Tagung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert sowie vom Förderverein des Frankfurter Institutes für Geschichte der Naturwissenschaften "Arbor Scientiarum" und dem Physikalischen Verein finanziell unterstützt. ...
Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes von 1945 haben sich die ehemaligen Kriegsgegner europaweit im Großen und Ganzen einträchtig ihrer Opfer erinnert. Ein solch harmonisches Bild ist nicht selbstverständlich und auch nicht allerorts gegeben. Die neuerlichen Aufregungen rund um das geplante Zentrum gegen Vertreibung bestätigen, dass im erinnerungspolitischen Bereich zwischen der Bundesrepublik und ihren westeuropäischen Nachbarn noch immer mehr Gemeinsamkeiten bestehen als mit den Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas. Denn über die Frage der Massenverbrechen der Nationalsozialisten hinaus ist noch der Streitherd von "Flucht und Vertreibung" zu klären. Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die strittigen Punkte im deutsch-tschechischen bzw. deutsch-slowakischen Verhältnis der letzten anderthalb Jahrhunderte zu erforschen – ihr verdanken wir den vorliegenden Sammelband. Die Herausgeber folgen dabei dem Programm einer "Europäisierung des historischen Gedächtnisses", also der Erarbeitung einer Erinnerungslandschaft im europäischen Kontext. Durch weitere Aufklärung über die konkreten Entwicklungen und Schwierigkeiten innerhalb der Erinnerungsgeschichte der letzten 50 Jahre soll der Band dafür Grundlagen schaffen und "vorläufige Ergebnisse zu ausgewählten Forschungsthemen" bieten (S. 16f.). ...
"Sehet her !" Auf dem Frontispiz des Ehrenbuches der Familie Fugger fordert die Figur des in prachtvollem Ornat gekleideten Hohepriesters Jesus Sirach den Betrachter und Lesenden mit direktem Blick und erhobenem Zeigefinger auf, dieser Familiengeschichte Respekt und Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Auf der folgenden Seite ist es ein Herold, der das Wappen der Fugger präsentierend an das Hinsehen appelliert: "Secht an das ist das Buch der Eern". Schon auf diesen ersten Seiten deutet sich an: es geht um Sehen und Gesehenwerden und um Selbst- und Fremdwahrnehmung in diesem "Ehrenbuch" der Familie mit dem größten Handelsund Bankimperium des 16. Jahrhunderts. Gregor Rohmann hat sich in einer zweibändigen, reich bebilderten Studie einer grundlegenden Untersuchung und Kommentierung des Fuggerschen Familienbuches aus dem 16. Jahrhundert gewidmet. Diese Studie ist bereits der zweite Teil von Rohmanns Dissertation: Wo der erste, 2001 veröffentlichte Teil über den Geschichtsschreiber Clemens Jäger die Historiographie des 16. Jh. thematisiert, beschäftigt sich dieser zweite mit den Prinzipien sozialer Mobilität, Memoria und gesellschaftlicher Legitimation, Herkunft, "Herkommen" und der Konstruktion einer Genealogie am konkreten "Fallbeispiel" des Ehrenbuches. Aufgeteilt ist das ambitionierte Werk in einen Textund einen Bildband. ...
Einmal zu einer Zeit, als der Krieg sich in Bosnien-Herzegowina fortzusetzen begann, bekam ich von einer deutschenWochenzeitung den Auftrag, einen Beitrag über das Profil des Krieg führenden jugoslawischen Personals zu schreiben. Was sind das für Offiziere, die auf Zivilbevölkerung, Städte, Kirchen, Moscheen schießen lassen, ganze Dörfer platt machen und Gegenden entvölkern – muss man sich gefragt haben. Während meiner Jugend war ich vielen Kindern und Jugendlichen begegnet, die aus Offiziersfamilien kamen, und kannte so auch eine Menge Geschichten mit Elementen, die mir als charakteristisch für diese besondere Mentalität erschienen. Aber die Idee, aus solchen erinnerten Erfahrungen so etwas wie ein Täterprofil zu skizzieren, gab ich bald auf. Obwohl es dabei eindeutige Hinweise gab – so war ich mit der Leidenserfahrung einer Schulkameradin vertraut, deren brutaler Vater nach dem Kasernenregiment zu Hause herrschte –, stand keine brauchbare Mentalitätsforschung zusätzlich zur Verfügung, die die eigene Beobachtung hätte untermauern können. Das andere unüberwindbare Problem war, dass es sich bei dieser Gruppe fast ausnahmslos um Serben handelte und eine Generalisierung Gefahr gelaufen wäre, als ethnizistisch einseitig missverstanden zu werden. ...
Der Titel dieses Buches könnte täuschen. Er lenkt unser Augenmerk mit dem in über 50 Jahren in der Bundesrepublik zum geflügelten Wort etablierten »Gang nach Karlsruhe« zunächst zwar unweigerlich auf das Bundesverfassungsgericht. So trocken daherkommend scheint er aber eher auf eine der üblichen juristischen Handreichungen hinzuweisen, die erläutern, was es alles rechtlich zu berücksichtigen gilt, wenn man sich mit einem Begehren an dieses Gericht wenden will – wären da nicht der Autor des Buches und der Untertitel, die beide Geschichtliches zum Bundesverfassungsgericht ankündigen und damit neugierig machen ...
Als vor mehr als zwanzig Jahren der erste Band von Harold J. Bermans Law and Revolution erschien, kam dies selbst einer Revolution gleich. Nicht mit der Renaissance nämlich, nicht mit dem Absolutismus und nicht mit 1789 setzte der Rechtshistoriker ausHarvard The Formation of theWestern Legal Tradition (1983; dt. 1995), also die Entstehung des modernen Staates, an, sondern mit dem Sieg der Papstkirche im Investiturstreit zwischen 1075 und 1122. Die entscheidenden Ergebnisse dieser Papal Revolution seien das kanonische Recht gewesen, das elaborierteste, umfassendste seiner Zeit, und eine professionelle Methode seiner Handhabung, die Scholastik. Mit ihrer Hilfe habe die römische Kirche die Bevormundung durch weltliche Mächte abgestreift, ihren Supremat über die Laien fest etabliert, eine hoch effiziente Hierarchie geistlicher Juristen und Gerichte aufgebaut und die bis heute gültigen Prinzipien westlichen Rechts geprägt ...
Verleger seien zu 51% Kaufleute - formulierte BERND F. LUNKEWITZ, Eigentümer des Aufbau-Verlages im Eingangsstatement der Podiumsdiskussion, die von MANFRED KÖHLER (FAZ) moderiert wurde. Köhler hatte die Frage an das Podium gerichtet, was eine gute Verlagsgeschichte ausmache und Lunkewitz in seiner Antwort mit dem Aspekt begonnen, der in den herkömmlichen Verlagsgeschichten zumeist vernachlässigt werde. Die gesamte Veranstaltung, der Workshop mit fünf Vorträgen zu einzelnen Verlagen und die abendliche Podiumsdiskussion, brachte letztlich zu Tage, dass ein Treffen der bislang fast hermetisch neben einander her forschenden Verlagshistoriker und Unternehmenshistoriker für beide Seiten ausgesprochen fruchtbar ist. So führten die Gespräche auf dem Podium immer wieder auf die Kernfrage zurück, ob denn Verlage und Medienunternehmen besondere Unternehmen seien, für die der Analyserahmen moderner Unternehmensgeschichte untauglich ist, oder ob es sich im Grunde um ganz normale Unternehmen handele, die eben nicht Waschmaschinen, Autos oder Salpetersäure produzierten, sondern Bücher. Dabei war es eben nicht nur eine Frage der Perspektive, wie man diese Frage beantwortet: Neben Lunkewitz saß mit KLAUS SAUR (Saur-Verlag, München) ein weiterer Verleger auf dem Podium, ergänzt durch zwei aus der Unternehmensgeschichte kommende Historiker, WERNER PLUMPE und JAN-OTMAR HESSE (beide Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) und zwei weitere aus der Verlags- und Buchhandelsgeschichte kommende Wissenschaftler, GEORG JAEGER (LMU München) und REINHARD WITTMANN (LMU München). ...
Wie kein anderer Ort ist Auschwitz zu einem Synonym für die nationalsozialistische Terrorpolitik geworden. Mit Majdanek teilt die Stadt das Schicksal, sowohl ein Konzentrations- als auch ein Vernichtungslager beherbergt zu haben. Mindestens 1,1, möglicherweise sogar anderthalb Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet, vor allem europäische Juden, aber auch nichtjüdische Polen, Sinti und Roma. Mit Monowitz und seinen Nebenlagern befand sich hier zudem "das erste von einem Privatunternehmen initiierte und finanzierte Konzentrationslager" (S. 43). Jenseits dieses dreiteiligen Lagerkomplexes sollte in Auschwitz eine deutsche Musterstadt entstehen. Auf den Reißbrettern nationalsozialistischer Visionäre avancierte die Stadt "zum Ideal ökonomischer Erschließung und rassischer Auslese, zum Zukunftsmodell der deutschen Herrschaft im eroberten Land" (S. 51). Kurzum: an keinem anderen Ort manifestierte sich die symbiotische Verbindung zwischen Lebensraum und Vernichtung deutlicher als in dieser im deutsch-polnischen Grenzgebiet gelegenen Stadt. Dies rechtfertigt es, Auschwitz eine Überblicksdarstellung in einer Reihe (C. H. Beck Wissen) zu widmen, deren historische Veröffentlichungen in der Regel größere Epochen behandeln, zumal über Auschwitz noch immer keine Monografie erschienen ist. ...
Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in den besetzten Gebieten haben im öffentlichen Bewusstsein der europäischen Nationen tiefe Spuren hinterlassen. Auschwitz - inzwischen als Symbol für die Ermordung der Juden verstanden - scheint zum negativen Referenzpunkt einer gesamteuropäischen Identität zu werden. Eine solche Globalisierung vergangenheitspolitischer Deutungsangebote verdeckt jedoch, dass die Mehrzahl fachwissenschaftlicher Studien zum kollektiven Erinnern und Gedenken immer noch in den nationalen Diskursen verankert ist. Oder positiv gewendet: Die Zeit globaler und international vergleichender Studien hat gerade erst begonnen. ...
In 1875, the Liebig Extract of Meat Company began to distribute a series of pictures printed on small (11 x 7 cm), colorful, collectible cardboard cards along with its main product, Fleischextrakt. While not the first to adopt this advertising technique, Liebig quickly became the best-known purveyor of Sammelbilder. ...
Denkt der Rechtshistoriker an etwas, das lange währte, fällt ihm neben anderem irgendwann das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein. Auch die Gerichte dieses Reiches brachten es auf eine ansehnliche Lebensdauer, und die Prozesse, die vor dem Reichskammergericht ausgefochten wurden, zählten häufig ebenfalls zu dem, was lange währte. Langjährige seitenfüllende Erörterungen sind in abertausenden dickleibigen Akten überliefert. Wer sollte das damals alles lesen und bearbeiten? Was waren das für Männer, die sich im 18. Jahrhundert, dem "tintenklecksenden Säkulum" (Friedrich Schiller), in Wetzlar durch solch monumentale Schriftsätze fraßen und im Namen von Kaiser und Reich Recht sprachen? Das umfangreichste Werk, das seit dem Ende des Alten Reiches über das Reichskammergericht geschrieben wurde, gibt darauf Antwort. ...
Im Jahre 2002 hat die Thüringer Landesregierung, damals noch von Bernhard Vogel geführt, die Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung ins Leben gerufen. Die Stiftung selbst führt dies auf einen Impuls zurück, den der Buchenwaldhäftling Jorge Semprún anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1994 gegeben habe.1 Die Verleihung erfolgte in Weimar, unweit des Ettersbergs mit seiner doppelten Lagertradition (KZ Buchenwald und Sowjetisches Speziallager Nr. 2). Die Stiftung ist der "vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert und ihrer demokratischen Transformation gewidmet". Die Erwartungen richten sich in besonderem Maße auf "prospektive Geschichtsforschung, die nicht nur Erinnerungsarbeit leistet, sondern darüber hinaus die nachfolgenden Generationen für die latenten Gefährdungen von Freiheit und Demokratie sensibilisiert". In diesem Sinne fühlt sich die Stiftung auch für die "kritische Analyse von Gegenwartsentwicklungen" zuständig. Sie wird von HansJoachim Veen geleitet, über viele Jahre ein führender Kopf des Forschungsinstituts der KonradAdenauer-Stiftung. Mit der Stiftung Ettersberg ist eine weitere zeithistorische Forschungseinrichtung ins Leben gerufen worden, die sich neben den bestehenden Spezialorganisationen in Dresden, München und Potsdam platzieren muss. Besonders in Hinblick auf das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine blanke Funktionsdublette handeln könnte. Natürlich ist eine solche wunderbare Kapazitätsvermehrung nach dem Modus der segmentären Differenzierung alles andere als unproblematisch und es mag allein der Glaube Trost spenden, dass Konkurrenz doch das Geschäft belebt. Jedenfalls wird man genau hinsehen müssen, ob die wissenschaftliche Praxis der kommenden Jahre das Engagement der öffentlichen Hände wirklich rechtfertigen kann. ...
Am anderen Ende derWelt, in einem argentinischen Städtchen im Bundesstaat Buenos Aires, versetzten die epochalen Ereignisse in Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs den Bürger Dinko Šakić in Entzücken. Fünfzig Jahre nachdem er aus seiner Heimat geflüchtet war, führten die tektonischen Umwälzungen nach dem Ende des Kommunismus und der europäischen Teilung sogar zur staatlichen Verselbständigung seiner einstigen Heimat Kroatien – zu einer jahrzehntelang nicht einmal im Traum denkbaren Entwicklung. Dinko Šakić setzte sich daraufhin öffentlich für seine frühere Heimat ein. Es fiel ihm gar nicht ein, dass ihn seine Vergangenheit einholen könnte. Wahrscheinlich weil er "ein gutes Gewissen" hatte, ein von ihm gern benutzter Ausdruck, oder weil er in der jungen Republik Kroatien eine Art Fortsetzung jenes Staatsgebildes sah, dem er in seiner Jugend "gedient" hatte (auch ein beliebter Ausdruck Šakićs). In der größten lateinamerikanischen Kroatengemeinde in Argentinien gab es wahrscheinlich nichts, was ihn zur Vorsicht hätte mahnen können. Er schien die Öffentlichkeit geradezu gesucht, womöglich sogar eine Anerkennung erwartet zu haben. Bei einem Empfang zu Ehren des kroatischen Präsidenten während dessen Staatsbesuchs in Argentinien wurde Šakić von Journalisten beobachtet, wie er Tudjman nicht von der Seite weichen wollte, was diesen sichtlich irritierte und zu Hause für Empörung sorgte. Šakić, der sich selbst bei mehreren Gelegenheiten als glühenden kroatischen Nationalisten schilderte, weshalb er schon als Jugendlicher Anhänger der Ustascha-Organisation geworden sei, ahnte offensichtlich nicht, dass seine Art der Heimatliebe dort Entsetzen hervorrufen würde. ...
Seit der Studie Otto Brunners ist der Fehde führende Adlige rechtshistorisch rehabilitiert. Anders steht es umdas Bild des seiner Herrschaft unterworfenen Bauern: Ihm als dem unter grundherrlichem "Schutz und Schirm" Stehenden war – wie auch dem Bürger – das "subsidiäre Rechtsmittel" angeblich nur in der Ausnahmeform von Blutrache und Totschlagsfehde erlaubt. Der "neutralere" Kontext einer regulären Interessenkollision zwischen Parteien, den die Konfliktforschung nahe legt, wird für bäuerliches Handeln nicht in Erwägung gezogen; einen aktiven Part bei der Durchsetzung eigener Ansprüche erkennt man dabei höchstens im kollektiven "Widerstand". Eindimensionale soziale Rollenzuschreibungen bestimmen den Forschungshorizont. Nie ist z. B. die Frage gestellt worden, ob ein mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Mensch tatsächlich der Waffenfähigkeit oder Waffen bedurfte, um eine Fehde zu führen. So weckt der "gemeine Mann" in der viel besprochenen Untersuchung von Gadi Algazi zwar erstmals überhaupt das nähere Interesse einer Untersuchung zum Fehdewesen, tritt jedoch auch da nur als Objekt einer sich sozial reproduzierenden "Herrengewalt" in Erscheinung. Algazis Ansatz hat allerdings Denkanstöße gegeben, ohne welche wohl gerade Christine Reinles Habilitationsschrift nicht jene konzeptionelle Konturschärfe gewonnen hätte, die sie kennzeichnet. Selbstredend setzt sich die Autorin darin nicht nur mit Algazi auseinander – auch wenn dieser mit Abstand ihrHauptgegner bleibt. Die zugegeben nicht sehr quellengesättigte These des Historikers steht auf einer Beobachtungslinie mit den Studien von Joseph Morsel und Hillay Zmora. Allen dreien geht es, grob gesagt, um die soziale statt die seit Brunner oft strapazierte rechtliche Funktion der Fehden – um die Beobachtung einer engen Verknüpfung dieser Konfliktpraxis mit sozialer Stratifikation und adliger Herrschaftsbildung. ...
Krieg, das haben wir von den Massenmedien gelernt, ist nur dort, wo jemand zusieht, das spectaculum bedarf des Mediums. Mediale Aufmerksamkeit bestimmt darüber, ob Kriege und ihre Folgen überhaupt noch von jemand anderem wahrgenommen werden als von den unmittelbar Betroffenen. Manipulationen über die Nachrichten vom Krieg sind so alt wie das Kriegswesen, nur tritt heute neben die Manipulation das Ringen um die knappe Währung Aufmerksamkeit. Längst haben wir uns an bizarre Mitteilungen wie die gewöhnt, der Afghanistan- Krieg sei der erste des neuen Jahrtausends gewesen, während dauerhaft schwelende Kriegsherde der Welt unbeachtet bleiben. Und längst ringen die Siegessicheren darum, dass sie ihren Krieg vor allem medial gewinnen – das andere ist gar nicht so wichtig. Um all dies geht es Thomas Scharff in seiner Habilitationsschrift eigentlich gar nicht. Eigentlich. Dennoch ist er mit seiner Analyse von Texten über den Krieg der Karolinger ganz nah dran am 21. Jahrhundert. Nicht warum Krieg geplant, geführt und wie er gewonnen wird, sondern das Schreiben der "Intellektuellen" über Krieg, der Krieg als Thema – das ist Scharffs erklärtes Vorhaben. Nach Politik und Sozialgeschichte soll nun die Historiographiegeschichte den Blick auf neue Facetten eröffnen. ...