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Es war eine heißer, schwüler Sommerabend, als John Rawls im Hörsaal H der Frankfurter Universität einen Vortrag hielt. Er sprach leise, fast schleppend, und er hatte sich vorgenommen, den Text in einer deutschen Übersetzung vorzulesen, was für einen amerikanischen Professor ungewöhnlich war und deshalb Bewunderung verdiente. Doch war die angespannte Konzentration spürbar, die Rawls aufbringen musste, um deutscheWorte mit so wenig amerikanischer Phonetik wiemöglich zu sprechen, und der Vortrag wurde dadurch noch langsamer, die Stimme noch leiser. Außerdem funktionierte das Mikrofon nicht richtig. Deshalb wurde es ihm von seinem Übersetzer, Wilfried Hinsch, mit ausgestrecktem Arm so nahe an denMund gehalten, dass wenigstens ein paar Worte zu verstehen waren. Nach kurzer Zeit verließen die ersten Zuhörer den Hörsaal. Der ausgestreckte Arm des Helfers wurde sichtbar schwerer; Anstrengung und Hitze ließen Schweißbäche rinnen und das Oberhemd nass werden.Der Vortragwar nicht einfach. Rawls machte, wie gewohnt, keinerlei Konzessionen, sondern diktierte einen komplexen Satz nach dem anderen. Wer etwas verstehen wollte, musste von der komischen Situation absehen, alle Kräfte gegen die von der schwülen Hitze geführten Ermüdungsattacken aufbieten und sich irgendwie konzentrieren. Der einzige, der sich davon nicht beirren ließ, sondern hartnäckig Satz für Satz in den schwülen Sommerabend hämmerte, war der kleine, schmächtige, blasse, sein Gesicht hinter einer riesigen Brille verbergende, aber Respekt heischende Professor Rawls. Wenn Geist so unmittelbar präsent ist, wird eben alles andere banal. ...
Die juristische Europakarte bestand bis vor kurzem aus dem common law, dem romanistischen civil law und dem sozialistischen Recht. Angesichts dessen Niedergangs und des Zusammenwachsens Westeuropas vereint man die beiden ersteren unter dem altsowjetologischen Schild der western legal tradition, wodurch das Ostrecht aus der europäischen Rechtsgeschichte ausgegrenzt wird. Coings Weitsicht, Osteuropa einschließlich Russlands mindestens teilweise in die Disziplin einzubeziehen, findet praktisch keine Nachahmer. Immer noch versteht man, in Savignys Fußstapfen tretend, unter der "europäischen" mehr oder minder stillschweigend die westeuropäische Rechtsgeschichte. Die "Reformstaaten Mittel- und Osteuropas" tauchen in manchem Traktat der Rechtsvergleichung wie deus ex machina auf. Während man die Zäsur zwischen civil law und common law vernachlässigt, wird die europäische Natur Osteuropas, besonders Russlands und der Balkanländer, angezweifelt. ...
Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben. Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit. Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal bei Walter Wilhelm zu Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor an der Universität Frankfurt im Jahre 1968 kennen gelernt. ...
Premiere
(2003)
Die 1968 gegründete Zeitschrift "Kritische Justiz" stand anfangs am äußerst linken Rand der juristischen Publikationen. Auch der Rezensent, der in einer Ausgabe des Jahrgangs 1970 die Neuauflage der Lebenserinnerungen des KommunistenMax Hoelz "Vom 'Weißen Kreuz' zur roten Fahne" besprach, machte aus seinem dezidiert linken Standpunkt kein Geheimnis: die Neuauflage sei "wichtiges Lehrmaterial für die gegenwärtigen Klassenkämpfe" (Kritische Justiz 1970, 363–365). ...
In Band 1 dieser Zeitschrift wurde ein "Vorschlag" gemacht, wie – mit welchem Erkenntnisziel und welchem theoretischen Gerüst – man Rechtsgeschichte betreiben könnte. Dieser Vorschlag wurde von zwei Kollegen kommentiert: Simon Roberts zeigte sich skeptisch, ob ein systemtheoretischer Ansatz für vormoderne Gesellschaften überhaupt brauchbar sei, und besorgt um den Verlust des Menschen sowie konkurrierender Theorien in der Geschichtsschreibung. Marc Amstutz hingegen drängte auf erhöhte theoretische Genauigkeit, insbesondere was die Bedeutung exogener und endogener Faktoren von evolutiven Prozessen betrifft. Beiden sei herzlich gedankt. ...
Nach Hause … [enth.: Olympia – Rom – New York / Michael Kempe ; Athen – Bagdad / Marie Theres Fögen]
(2003)
Geplünderte, rauchende Paläste, umgestürzte Statuen, ausgeweidete Museen – anders als die Ruinen von Bagdad, an die uns der TV-Jahresrückblick Ende 2003 erinnern wird, verweist die nur noch auf Bildern existierende Ruine der New Yorker Twin Towers nicht auf die Folgen eines Krieges, in dem auch das Völkerrecht ruiniert wurde, sondern auf die Folgen eines Terroranschlags, der das einstige stolze Symbol Manhattans in weniger als zwei Stunden in Schutt und Staub verwandelte. ...
So geht es einer Stadt, die Frieden schaffen sollte – selbst, aus eigner Kraft! – und für den Sieg gebetet hat. Als ob es Siege gäbe, wenn die Menschen sterben.
Wer diese Euripides-Verse in der Übertragung von Walter Jens im März 2003 am Vorabend, buchstäblich am Vorabend, eines Krieges gelesen hat, kann sich über den Titel des Buches, in dem sie stehen, nur wundern: "Ferne und Nähe der Antike". Wieso denn "Ferne"? Euripides- Jens ist so nah wie der Krieg nah war. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. ...
Wozu Rechtsgeschichte?
(2003)
Es ist kaum noch zu ertragen. Immer wieder diese alten Fragen. Warum Aufklärung? Was können wir wissen? Wozu sollen wir das oder jenes wissen? Turfanforschung – schon das Sujet ist dem Normalsterblichen ein Rätsel. Ägyptologie – hier verspricht der Gegenstand wenigstens eine vorstellbare und noch heute erlebbare Exotik. Zwei Wochen Nilfahrt. Aber das alte Schreiben und Denken und Musizieren der Turkmenen? Wer will das kennen lernen? Wem mögen die Kenntnisse über die Turkmenenkultur nutzen? Dann doch lieber gleich Kulturwissenschaft tout court. Das kommt an. Also etwa die Kultur des Riechens, von der Toilette über das Parfum zu den Gerüchen der Städte. Damals und heute. Da kann, zu welchem Behufe auch immer, jeder mitriechen – auch der kultivierte Steuerzahler, der die Kulturwissenschaft bezahlt. Die ebenso zahlenden unkultivierten Bürger interessieren nicht weiter. Oder das sagenhafte Gehör der Wüstenspringmaus. Das ist Grundlagenforschung, bei der sich immerhin ahnen lässt, es könnte à la longue etwas dabei herauskommen, ein neues Hörgerät, nicht für Mäuse, sondern für Menschen. ...
"Sie wissen, was man manchmal zur Rechtfertigung der Henker sagt: man müsse sich wohl oder übel dazu entschließen, einen Menschen zu foltern, wenn seine Geständnisse Hunderten das Leben retten." Für Jean-Paul Sartre war die Rettungsfolter am 6. März 1958, als er diesen Satz schrieb, eine "Heuchelei". Zwei Wochen zuvor war "La Question" von Henri Alleg, dem Herausgeber des Alger Républicain, der einzigen freien Tageszeitung Algeriens, in den Éditions de Minuit erschienen: der vielleicht aufregendste, weil auf eigener Erfahrung beruhende und doch so kühl erzählte, Bericht über die Praxis in den französischen Folterkellern Nordafrikas. Sartre griff zur Feder und schrieb über die Folter im Zeitalter der Zivilisation, des 20. Jahrhunderts, das schon in seiner Mitte massenhaft Folterungen gesehen hatte, das die Folter zur Raserei werden ließ, das den Folterknecht in einen Sisyphos verwandelte, der immer wieder zur Tortur zurückkehren muss, in einem Jahrhundert, in dem die Folter endlich ihren Grund gefunden hat: sich selbst. Die letzten Jahrzehnte sahen, wie die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Globalisierung des Schmerzes der Gefolterten – der unterworfenen Untermenschen der Moderne. In dieser weltweiten Orgie der Qual – nicht nur dokumentiert in den Berichten von Amnesty International – geht es kaum um die Rettung von Menschen, um das Erzwingen von Geständnissen, um das Aufdecken einer Wahrheit. Es geht um die totale Herrschaft von Menschen über Menschen (Jan Philipp Reemtsma), um das Zusammenhalten der Gesellschaft durch die Drohung mit körperlicher Gewalt (Adorno), um den Blutkitt zwischen den Menschen, der diese beisammen hält, um die "Ich-Ausdehnung" der Peiniger (Lutz Ellrich). Die Folter des 20. Jahrhunderts – ob in Chile, in Indonesien oder im Deutschen Reich – kommt ohne Recht aus, interessiert sich nicht für in Körpern eingeschlossene Wahrheiten und feiert Feste der Angst. ...
Bartolus "down under"
(2003)
In einem abgedunkelten Raum der Heidelberger rechtshistorischen Bibliothek am Friedrich-Ebert-Platz findet man separiert die wertvollen Rara-Bestände; darunter auch die letzte Ausgabe der Opera Omnia des Bartolus von Sassoferrato (1314–1357), die in Venedig 1615 für die Bedürfnisse juristischer Praktiker verlegt wurde. Friedlich vereint stehen die Folianten Rücken an Rücken, Regal an Regal, Wand an Wand – so als ob sie seit den Gründungsjahren der Universität im 14. Jahrhundert, mindestens aber seit der Zeit der Druckerpresse und damit ihrer eigenen Herstellungszeit, schon immer so gestanden hätten. Kommunizieren die Bücher etwa heimlich miteinander, wenn niemand sie beobachtet? ...