BDSL-Klassifikation: 17.00.00 20. Jahrhundert (1914-1945) > 17.18.00 Zu einzelnen Autoren
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Einige Beiträge zum aktuellen ZfL-Jahresthema erinnerten zuletzt an dieser Stelle daran, dass das Begriffspaar "Aktivismus und Wissenschaft" von einem alten Spannungsverhältnis geprägt ist, welches sich gegenwärtig wieder bemerkbar macht. [...] Tatsächlich sehen sich Forschende heutzutage immer öfter dazu genötigt, den unmittelbar praktischen Mehrwert ihrer Arbeit im Namen eines vermeintlichen Aktivismus zu Markte zu tragen, nicht zuletzt, um den Empfang etwaiger Fördergelder zu rechtfertigen. [...] So drängt sich die Frage auf, worin eigentlich der kritische Zug im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus liegt, wenn die institutionelle Konvergenz der Aktivismen von oben und unten zur Affirmation tendiert? [...] Möglicherweise ist es lohnenswert, Geulens Verfahren des Rückgriffs aufzunehmen und sich auf ein weiteres streitbares Beispiel aus der frühesten Geschichte des Aktivismusbegriffs zu besinnen, von dem zuweilen behauptet wird, es handele sich um die früheste Okkurenz dieses Wortes überhaupt. Die Rede ist vom sogenannten "literarischen Aktivismus", auf den auch Henning Trüper in seinem Blogbeitrag zum ZfL-Jahresthema anspielt, wenn er vom "Umfeld des Expressionismus" spricht, in dem der "Aktivismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg erstmals politisch Fuß fasste". Was hat es hiermit auf sich? Tatsächlich ist es so, dass Kurt Hiller (1885–1972) - deutsch-jüdischer Publizist, expressionistischer Impresario und pazifistischer Aktivist - diese Wortprägung für sich beansprucht. So soll bei einem Treffen seines Berliner Kreises anno 1914 "Literarischer Aktivismus" als Name der von ihm gegründeten, "ethisch-politischen" Bewegung beschlossen worden sein. Die Organe dieses Aktivismus waren vorrangig Periodika, allen voran die ab 1916 von Hiller und seinem Kreis herausgegebene Zeitschrift "Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist", in deren Namen sich bereits eine gewisse Vorstellung von Aktivität ankündigt.
Der Begriff der Verblendung, ein oft implizit immer wiederkehrendes Thema in der Literatur, Philosophie, und auch in der Religion, hat eine komplexe Bedeutungsebene, die es vielleicht wohl zu bewahren gilt, anstatt sie zu fixieren und damit die Lesemöglichkeiten, die er eröffnen kann, zu reduzieren. Das Wort, das Offenes (etwa eine Hingabe an einen Glauben, die auch eine Selbsttäuschung, ein Fehler sein kann, aber auch Mut bedeuten kann) und Verborgenes (eine mehr oder weniger bewusste Täuschung anderer) zugleich andeutet, entzieht sich durch diese doppelte Struktur von 'Oberfläche' und 'Hintergrund' in gewisser Weise, ohnehin einer festen BeDeutungsgebung. In besonderer Weise bleibt der Begriff mit dem als 'Verliebtheit' umschriebenen Zustand als einer ambivalenten un/wahren, irrational und affektiv besetzten, relationalen, inneren Vorstellung und äußeren Projektion des Selbst und eines Anderen verbunden. Der Begriff kann die Hingabe an eine (trügerische) Romantik oder eine (trügerische) Hingabe an eine Romantik meinen, der ein Selbst und ein Anderes in eine affektive Beziehung zueinander setzt, und so auch die Möglichkeit des Unheimlichen, das Hineinbrechen eines Trug(-Bild)-es kennzeichnen. Dies wiederum ist engstens mit Angst und Wut, den oft als destruktiv dargestellten Affekten und affektiv besetzten Effekten verbunden. Verblendung ist somit auch ein Begriff, der Vorstellungen von 'Rationalität' und (affektiv-besetzter) 'Irrationalität', von 'Richtigkeit' und 'Falschheit' beinhaltet.
Von der Annahme ausgehend, dass die Zukunftsthematik neben einzelnen Textanalysen insbes. im Kontext der diachronen Betrachtung einer literarischen Gattung von Interesse ist, konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf die Gattung der Robinsonade. Mit dem Fokus auf Daniel Defoes "Robinson Crusoe", Ernst Wiecherts "Das einfache Leben" sowie Andy Weirs "The Martian" - drei Werke, die vom Prototyp der Gattung bis zu dessen Situierung im Science Fiction-Genre reichen - erfährt die Zukunft zwar eine an den historischen und gesellschaftlichen Kontext gebundene Ausformung, ihr grundierendes narratives Schema bleibt in ihrer die Gattung umspannenden Position jedoch bei jeder Robinsonade gleich. Im Zentrum geht es dabei um die Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Zukünfte, wobei sich in der Entwicklung verschiedener Zukunftsentwürfe und -vorstellungen, die zudem mit einer verstärkten Vergangenheitsreflexion verfahren, mögliche unsichere und sichere Zukünfte einander gegenüberstehen.
Anhand der Heimatkonzeption von Ernst Bloch soll der Begriff der 'Heimat' einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Grundlegende Merkmale in zeitlicher wie räumlicher Perspektive ausmachend, formuliert Bloch ein Heimatkonzept, das jenseits abgrenzender Selbst-Fremd-Dichotomien eine Zukunftsperspektive entwirft, die durch das Handeln gesellschaftlicher wie individueller Akteur:innen erst erreicht werden muss. Zusammen mit dem Raumkonzept der 'Nicht-Orte' von Marc Augé werden in Vicki Baums "Menschen im Hotel" (1929) Potenziale zukünftiger Heimatkonstruktionen nachgespürt und analysiert.
This chapter proposes the scar as a productive image to conceptualize the relation of speakers to the particular language otherwise called mother tongue, native or first language. Thinking of this relation in terms of a scar avoids the biopolitical implications of concepts derived from the context of family and birth that have, throughout the nineteenth and twentieth century, come to present language as basis of a nation state. The image of the scar also avoids the biographical normalization and linguistic hierarchization implied in the term first language, as both are equally important biopolitical strategies of forming individuals and communities. Thinking of the mother tongue in terms of a scar emphasizes the intensity of lasting formation and identification entailed by acquiring this particular language, and it highlights the violence inherent to these processes that tends to be covered up by the naturalizing and family-related imagery of native or mother tongue as well as by the favour implied in the term first language.
Die labyrinthische Organisation des Erzählraums, die bisweilen dem Prinzip der Assoziation durch Josef K. zu folgen scheint, korrespondiert historisch mit der desorientierten Wirklichkeitserfahrung der Moderne - einem "Gefühl der 'Ohnmacht' und der 'Entfremdung' des 'modernen Menschen'". Nicht ohne Grund wird "Der Proceß" so in der verbreiteten sozialgeschichtlichen (und vor allem sozialkritischen) Lesart zur literarischen "Gestaltung der verwalteten Welt, der vielfältigen Einengungen und Bedrohungen, die das Individuum heute durch anonyme Mächte erfährt, zur Anklage des Kapitalismus, zur prophetischen Vorwegnahme der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts oder, aktueller und à la Foucault, zur Verbildlichung der das Begehren unterdrückenden 'Macht'". Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, diese sozialgeschichtliche Lesart unter Hinzunahme des in der Kafka-Forschung bislang nur randläufig berücksichtigten Paradigmas der 'Biopolitik' bzw. 'Biomacht', wie es insbesondere von Michel Foucault analysiert wurde, noch einmal produktiv zu erweitern. [...] Franz Kafkas literarisches Werk befasst sich zweifellos immer wieder mit modernen Machtverhältnissen und Normierungsprozessen sowie auch mit den Individuen, die vor der (scheinbaren) Wahl stehen, sich zu assimilieren oder von eben jenen verschüttet zu werden. Dieser Beitrag wird erstens zu zeigen versuchen, wie das Gericht in Der Proceß durch seine Raumordnung als Metapher für eine breitere Machtökonomie der diegetischen Gesellschaftsordnung lesbar wird. Zweitens wird er der Frage nachgehen, inwieweit die Kategorie des Angeklagten als Schnittpunkt gelesen werden kann, der zwar intradiegetisch einen eigenen institutionellen und epistemologischen Stellenwert hat, auf der Metaebene allerdings der Logik des modernen Zusammenspiels bio- und disziplinarpolitischer Interventionen und Prozesse nachspürt.
Stefan Zweig entwickelt in "Castellio gegen Calvin" (1936) die These, dass Machtformen, die Lebensprozesse mit Zwang regulieren und elementare Bedürfnisse dauerhaft unterdrücken, Widerstände hervorrufen, die letztlich die Emanzipation und Entfaltung des Unterdrückten forcieren. Am Beispiel des Liberalismus ursprünglich autoritär geprägter calvinistischer Gesellschaften veranschaulicht der 1934 nach London emigrierte Autor die Dialektik von Unterdrückung und deren Überwindung. Er thematisiert ein Verhältnis von Leben und Politik, das Michel Foucault mit dem Begriff der "Bio-Politik" bezeichnet. Dieser Begriff, der vor allem in jüngerer Vergangenheit vermehrt Aufmerksamkeit erfährt, beschreibt eine spezielle Form politischer Herrschaft, die sich durch "verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und Kontrolle der Bevölkerungen" kennzeichnet. Die Anwendung dieser 'biopolitischen' Disziplinierungstechniken bringt nach Foucault einen speziellen Machttyp, die "Bio-Macht", hervor, die sich zu einem Prinzip aller modernen Staaten entwickelt und somit nicht nur auf Extremfälle zu beschränken ist. [...] In diesem Beitrag soll untersucht werden, inwiefern Stefan Zweig in "Castellio gegen Calvin" anhand der Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats biopolitische Herrschaft thematisiert. Ausgehend von einigen Überlegungen zu dessen Komposition und der Schwierigkeit einer eindeutigen gattungstheoretischen Zuordnung wird Zweigs Darstellung von Calvins Herrschaft hinsichtlich der politischen Unterwerfung und Kontrolle des Lebens analysiert. Die Untersuchung schließt mit Blick auf den parabolischen Charakter des Textes, der eine Erklärung dafür bietet, warum Zweigs Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats aus dem 16. Jahrhundert Charakteristika eines Machttyps aufweist, der sich nach Foucault erst Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt.
So abenteuerlich die Wege von deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern des letzten Jahrhunderts waren, so verworren sind meist auch die Wege ihrer Nachlässe. Selten finden sich alle Manuskripte, Briefe und persönlichen Gegenstände an einem Ort versammelt. Häufig verteilen sich Nachlässe auf verschiedene Orte und Länder. Im schlimmsten Fall hat überhaupt niemand etwas aufbewahrt. Der Nachlass des Schriftstellers und Philosophen Hermann Borchardt (1888–1951) findet sich an zwei Standorten: im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main, wohin ihn der verdienstvolle Exilforscher John M. Spalek überführte, und in der Rubenstein Rare Book & Manuscript Library in Durham, North Carolina. Ein unerwarteter Fund, den mein Kollege Christoph Hesse und ich dort machten, veranlasste uns, Borchardt mit einer Werkedition als wichtigen Schriftsteller des Exils zu würdigen.
Susanne Klimroths Beitrag widmet sich den Texten zu Oskar Kokoschkas Alma-Mahler-Puppe und stellt den fiktionalisierten Status insbesondere der eigenen Schilderungen der 'Puppenepisode' des doppelbegabten Künstlers heraus. Sie argumentiert für eine Widerspenstigkeit sowohl der Materialität der Puppe als auch der Überlieferung der literarisierten Puppe.
Welt, Wort, Mensch : (Un-)Gestalten des Ganzen in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften"
(2022)
Musil entwickelt seine literarische Ganzheitsreflexion in enger Auseinandersetzung mit der Wissenschaft seiner Zeit: von der Gestaltpsychologie bis hin zur Thermodynamik, wie Inka Mülder-Bach in ihrer Lektüre des "Mann ohne Eigenschaften" zeigt. Musils Text sei einerseits von zahlreichen Dualismen geprägt, andererseits erteile er einem 'klassischen' Verständnis von Teil und Ganzheit eine deutliche Absage. Einem Briefpartner beschied Musil 1931 kurz und bündig: "Eine Totalität lässt sich nicht durch noch so viele Einzelheiten darstellen." Zentral ist hierbei nicht zuletzt der Begriff der Darstellung. Totalität wird bei Musil in erster Linie zu einem Problem des eigenen literarischen Verfahrens. Mülder-Bach legt dar, dass das Phänomen der Ganzheit unzählige Aspekte seiner Schreibweise tangiert: vom Wortbau über die Syntax und die Metaphorik bis hin zu der für die Darstellungsebene des Romans zentralen Form des 'Gleichnisses'. Auch die politische Prekarität 'Kakaniens' oder das Geschwisterverhältnis seien als Spiegelungen und Ausdruck der Ganzheitsproblematik zu begreifen. Den Umgang mit Figuren der Vielfalt, der Vollständigkeit, der Teilung, der Verdopplung, der Mitte, der Grenze, der Symmetrie oder des Gleichgewichts sieht Mülder-Bach dabei oft in zunächst paradox erscheinende Versuche einmünden, Trennung und Verbindung irgendwie zusammenzuziehen oder gar zu vereinen. Auch die bekannte auf die Geschwister gemünzte Wendung der "Ungetrennten und Nichtvereinten" erschließe sich erst vor diesem Hintergrund. Angesichts des fragmentarischen Charakters des Romans seien alle Musil'schen Antworten auf das Ganzheitsproblem freilich als "tentativ" zu begreifen.