CompaRe | Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
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This paper analyses the idea of the avant-garde in Benjamin and its reception in German literary criticism after World War II. It examines the works of Hans Magnus Enzensberger and Peter Bürger, who focus on the concept of avantgarde. This perspective allows us to broaden our reflection on German literary history since the end of World War II, and this contributes to the discussion on Postmodernism. The elaboration of the concept of allegory gives this discussion a clearer direction. Benjamin's key-notion of profane illumination was not received in a theoretical-philological way – but it materialized as experience in the students' revolt at the end of the 60s and the beginning of the 70s.
Herauszufinden, aus welchen verborgenen Quellen sich das Denken und Schreiben eines Autors speist, hat die Literaturwissenschaft stets gereizt. Das gilt für die positivistische Einflussforschung wie für deren methodisch versiertere Neuauflage, die Intertextualitätsforschung. Auch bei der vorliegenden Studie meint man es auf den ersten Blick mit einer Arbeit zu tun zu haben, die dieser in die Kritik geratenen Forschungstradition zuzurechnen ist. "Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen" - schon der Titel des Buches unterscheidet sich kaum von anderen, beliebigen Überschriften wie "Walter Benjamin und Bertolt Brecht", "Walter Benjamin und Ludwig Klages" oder "Benjamin und Karl Kraus". Und blättert man im Inhaltsverzeichnis herum, so setzt diese Tendenz sich fort, denn dort erfährt man, dass das Buch ausgiebig über Benjamin und Felix Noeggerath, Benjamin und Stefan George, Benjamin und Ludwig Strauß sowie Benjamin und Gustav Wynecken informieren wird. (Auszug aus Rezension in literaturkritik.de)
In the present context of the triumph of capitalism over real socialism, this article points out that, despite their ideological differences, both systems are bound to the same conception of history-as-progress. In contrast, it recalls Walter Benjamin's philosophy of history, marked by the critique of progress in the name of a revolutionary time, which interrupts history's chronological continuum. Benjamin's perspective is used to study the conflict of temporalities among the Soviet artists in the two decades after the October Revolution: on the one hand, the anarchic, autonomous and critical time of interruption – which is the time of avant-gade –, on the other hand, the synchronization with the ideas of a progressive time as ordered by the Communist Patty; this is the time of vanguard, whose capitalist Counterpart is fashion.
My point of departure is Benjamin's "Lehre vom Ähnlichen," since this text elaborates a theory of reading and writing based on the concept of "nonsensory similarity." The "strange ambiguity of the word reading in relation to both its profane and its magical meaning", which is often cited in Benjamin criticism, is derived from a precise figure, namely the constellation as a model for writing and the concomitant practices of anagrammatical dispersion.
Der Begriff des Monuments ist sicher nicht der erste, dem man augenblicklich eine gesteigerte Attraktivität bescheinigen könnte. Monument - das klingt nach Historismus und Historienschinken, nach Denkmalpflege und moosigen Steinen, nach brachialem 19. Jahrhundert, Bildungsbürgertum und Baedeker. Monument klingt nach allem - nur nicht nach Medium, Lektüre oder Codierung, drei Bausteine, an die man nach den jüngsten kulturwissenschaftlichen Relektüren des Monuments mit diesem verbinden sollte. Denn möglicherweise ist seine Inschrift erst heute lesbar geworden und sein Jetzt der Erkennbarkeit erst in diesen Tagen gekommen. Möglicherweise mußte das Monument im Schatten jeder Aufmerksamkeit vor sich hin dämmern, um aus der begriffsgeschichtlichen Abstellkammer wieder hervorgeholt werden zu können; vielleicht bedurfte es jenes monumentalen Schlummers, damit ein Prinz 1969 kommen und es aus diesem Schlummer erwecken konnte. Spätestens seit Foucault den Begriff in seiner Einleitung in die Archäologie des Wissens wachgeküßt und wieder zum Leben erweckt hat, gehört er in das neo-historistische Repertoire von Literatur- und Kulturwissenschaftlern: Tatsächlich stellt es eine der Kuriositäten des derzeitigen wissenschaftlichen Diskurses dar, daß die aufgerüstete kulturwissenschaftliche Rede von Codierung und Hardware so selbstverständlich in terms of Monumenten spricht, als befände man sich in der Mitte des Historismus. Dabei weisen schon Codierung und Hardware darauf hin, daß es durchaus veränderte Vorzeichen sind, unter denen das Monument neuerdings wieder in die wissenschaftliche Rede einfließt.
Rezension zu Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München (Wilhelm Fink) 2004. 306 Seiten.
Vergangene Bedeutung von Wörtern gewinnt einen geheimnisvollen Glanz, wenn sie vom Staub des Vergessens befreit wird. Daß Theorie und Schauplatz eine gemeinsame Wortgeschichte haben, bildet die Grundlage für den Titel des Buches von Sigrid Weigel, in dem die "Szenarien der Kulturgeschichte" gezeigt, die "Gemeinsamkeiten von Anschauung und Denken, von Bild und Begriff, von Kunst und Wissen" (7) erinnert werden.
Considering that the German dramatist Heiner Müller has treated several times the subject of the angel of history, this essay proposes a comparison between Müller’s first angel (Der glücklose Engel) from 1958 and the original “angel of history” (Engel der Geschichte), a seminal text written by Walter Benjamin in 1940. Benjamin’s work reflects the author’s thoughts on the corruption of history and the dangerous notion of progress. Müller’s angel, on the contrary, despite his beliefs in the destructive force of the history, sees the future in a positive perspective.
Baudelaire, Benjamin - zwei geistesgeschichtliche Großreignisse, mit denen allein man einmal Semester von Seminaren, Seiten von Dissertationen, Jahre in akademischen Lebensläufen füllen konnte. Ganze Bibliotheken und Ästhetiken der Moderne liehen sich von dieser Korrespondenz her schreiben, von der Vorwegnahme einer ästhetischen Moderne durch Baudelaire und ihrer Radikalisierung durch Benjamin. Allein, was zwischen diesen beiden Eckpfeilern der ästhetischen Moderne geschah, läßt sich auch anders als auf den unverschlungenen Wegen einer Literaturgeschichte erzählen. Denn tatsächlich arbeitete Benjamin nicht mit Geschichten, sondern mit Maschinen; tatsächlich war, was zwischen den beiden großen B.'s der ästhetischen Moderne geschah, eher ein Kurzschluß oder eine Rückkopplung innerhalb einer Deutungsmaschine als eine gepflegte Geschichte der Literatur. Die Maschine hieß "Passagen-Werk", Baudelaire ihr vorzüglichster (oder wenigstens vollendetster) Gegenstand.
Editionen separieren Texte von den Kontexten, in denen sie bei ihrem Entstehungsprozess mit der Hand und technischen Schreibwerkzeugen unterschiedlichster Art geschrieben, als Erstdruck publiziert und von den Zeitgenossen ursprünglich rezipiert worden sind. Zugleich generieren sie, je nach ihren editorischen Prämissen, für die späteren Leser durch die von ihnen vollzogene Selektion, die Anordnung nach Textsorten oder die Anwendung anderer Strukturierungsregeln sowie durch die dabei vorgenommene Hierarchisierung, Kommentierung oder auch Nicht-Kommentierung ihrerseits neue Kontexte und konstruieren so ein bestimmtes, die Rezeption lenkendes Profil von Autor und Werk. Das ist, wie bei anderen prominenten Autoren, auch in der Wirkungsgeschichte Walter Benjamins der Fall. Ich möchte diesem Spannungsverhältnis von Dekontextualisierung und Rekontextualisierung im Folgenden am Beispiel der sogenannten 'kleineren' literaturkritischen Arbeiten - schon das Epitheton ist ein Beispiel für den erwähnten Selektions- und Hierarchisierungsprozess - nachgehen, also anhand der 'Kritiken und Rezensionen', die Benjamin seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in der 'Frankfurter Zeitung', der 'Literarischen Welt' und an anderer Stelle veröffentlicht hat und deren Korpus im Wesentlichen in dem 1972 publizierten dritten Band der 'Gesammelten Schriften' publiziert worden ist. Ich werde mich dabei, in Blick auf den für diesen Beitrag zur Verfügung stehenden Raum, auf die Skizze zentraler Grundprobleme, auf pointierte Thesen und exemplarische Beispiele beschränken – in der Hoffnung, gerade durch solche Verknappung und Pointierung Impulse für eine weiterführende Diskussion der angesprochenen Probleme zu liefern. Einleitend werde ich zunächst einige grundsätzliche Fragen der Benjamin-Edition skizzieren. Im Anschluss daran werde ich die aktuelle Editionslage von Benjamins Arbeiten zur Literaturkritik im Hinblick auf die Leitfrage meines Beitrags, also auf das Spannungsverhältnis von Text(en) und Kontext(en), kritisch analysieren. Schließlich soll anhand einiger ausgewählter Rezensionen exemplarisch gezeigt werden, welche Bedeutung die in der bisherigen Editionspraxis meist ausgeblendeten Kontexte (z.B. Publikations-, Medien-, Wissenschaftskontexte, biografisch-soziale Kontexte, historische und politische Kontexte etc.) für ein Verständnis des Literaturkritikers Benjamin gewinnen können, sofern man ihnen editorisch die gebührende Beachtung schenkt. Dabei werden Umrisse eines neuen und anderen Benjamin-Bildes sichtbar, das sich von dem bisher verbreiteten nicht nur in Nuancen unterscheidet.
Benjamin liest Wittgenstein : zur sprachphilosophischen Vorgeschichte des Positivismusstreits
(2008)
Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin haben eine Gemeinsamkeit, die sie von anderen Autoren ihrer Generation unterscheidet. Während ihre Texte und Theorien zu Lebzeiten nur einem kleinen Freundeskreis vertraut waren, haben sie postum eine ungeheure Wirkung entfaltet, die zu neuen Denkweisen führte und akademische Disziplinen veränderte. "Diskursivitätsbegründer" hat Michel Foucault diesen Ausnahmetypus des gelehrten Schriftstellers in seiner 1969 gehaltenen Rede 'Was ist ein Autor?' genannt und auf Marx und Freud als Beispiele verwiesen. In der Tat übernahmen Marxismus und Psychoanalyse in den 60er Jahren eine orientierende Funktion in den Geistes- und Sozialwissenschaften, während die Schriften Benjamins und Wittgensteins seit den 80er Jahren ihre Wirkung entfaltet haben, weil nun nicht mehr die Erkenntnis bildende Funktion von Geschichte und Psyche, sondern die von Sprache und Kultur in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Glaubt man den Biographen, dann gab es zwischen Benjamin und Wittgenstein keine Verbindung, obwohl sie Zeitgenossen waren und die Schriften viele theoretische und literarische Berührungspunkte haben. Benjamin, 1892 geboren, war drei Jahre jünger als Wittgenstein und starb elf Jahre früher 1940. Beide publizierten seit 1921, hätten also durchaus zwanzig Jahre lang von einander lesen oder hören können. Dass Wittgenstein Schriften von Benjamin zur Kenntnis genommen hat, ist allerdings unwahrscheinlich, weil er als Autor und Leser ein Sonderling war. Anders liegen die Dinge bei Benjamin, der sich die philosophische Literatur seiner Zeit umfassend anzueignen versuchte. Doch geht es hier nicht nur um Benjamin als Leser, sondern um den Kontext seiner Lektüre. Wenn man ihn berücksichtigt, wird man mit einer der wichtigsten wissenschaftstheoretischen Debatten des 20. Jahrhunderts konfrontiert: der Auseinandersetzung zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und dem logischem Positivismus bzw. Empirismus, die in den 30er Jahren begann und in den 60er Jahren als Positivismusstreit in der deutschen Soziologie Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat. Benjamin und Wittgenstein waren hier zwar keine Protagonisten, aber durch ihre sprachtheoretischen Reflexionen wichtige Ideengeber.
Meine Überlegungen auf diesen Seiten drehen sich um ein von Walter Benjamin handbeschriebenes Blatt Papier, an dem sich die "performative" Dimension von Benjamins Poetik paradigmatisch illustrieren lässt. Das Manuskriptblatt (Benjamin-Archiv Ms 931) wurde von Gershom Scholem auf ca. 1935 datiert und gehört thematisch in den Umkreis des etwa zwei Jahre vorher verfassten sprachtheoretischen Essays "Lehre vom Ähnlichen". Dort heißt es, dass die "Einsicht in die Bereiche des 'Ähnlichen' [...] weniger im Aufweis angetroffener Ähnlichkeiten [zu gewinnen sei] als durch die Wiedergabe von Prozessen, die solche Ähnlichkeiten erzeugen" (GS II, 204). In Benjamins Beschriftung von Ms 931 wird dies in die Tat umgesetzt: wir können uns den Schreibprozess, dem sich der handschriftliche Text auf jenem Blatt verdankt, als Selbsterforschung eines solchen Prozesses denken. In dem vorliegenden Versuch scheint jedoch, neben der Erzeugung von Ähnlichkeiten, die "Überwindung des Mythos" (Ms 931) als zweiter Pol am Horizont auf. Zusammen stecken jene beiden Pole ein dialektisches Spannungsfeld ab, in welchem sich sowohl Benjamins Schreibprozess als auch der meinige bewegen, und dessen Gesetzlichkeit das eigentliche Objekt dieser Überlegungen ausmacht. ...
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass bereits das frühe Manuskript der "Berliner Chronik" eine Bearbeitung der Gattungen 'Stadtbild' und 'Autobiographie' darstellt und - das ist sein Charakteristikum - diese Bearbeitung auch in Szene setzt. Des weiteren soll nachgezeichnet werden, dass die "Chronik" auf äußerst komplexe Weise autobiographische und topographische Schreibweisen miteinander verknüpft und dabei - so meine These - zu dem maßgeblichen Text wird, in dem Benjamin die Kategorie des Raumes für sein Denken entfaltet. Anders gesagt: Im Schreiben der "Berliner Chronik" richtet der Kulturhistoriker Benjamin sein Denken räumlich aus.
En tentant de regarder une image singulière avec quelques mots de Walter Benjamin, je voudrais, non pas me livrer à un exercice de commentaire, de glose ou de déchiffrement, mais, plus modestement, faire acte de reconnaissance, porter témoignage d’une experience de l’image, d’une 'poétique de l’image'. Walter Benjamin, l’un des penseurs qui a le plus radicalement bouleversé - réinventé - la notion de lisibilité (Lesbarkeit), est aussi l’un des penseurs au contact duquel l’histoire de l’art se trouve bouleversée dans son rapport même à la visibilité (Sichtbarkeit) et à la temporalité des images. Il ne s’agit pas seulement de rendre hommage à celui qui, mieux que quiconque, aura théorisé le rôle de la reproductibilité, taconté l’histoire de "l’art en tant que photographie" ou décrit le "déclin de l’aura". Il s’agit de travailler avec sa façon de mettre le temps au coeur de toute question d’image, et de faire de l’image - à commencer par la fameuse "image dialectique" - l’opérateur central de toute historicité. Le meilleur hommage, la meilleure justice que l’on puisse rendre à quelque chose, dit Benjamin - en parlant des "guenilles", des "rebuts" de l’histoire -, c’est de l’utiliser. Je vais tâcher de suivre cette leçon en vous présentant un objet de travail et en essayant de restituer la 'valeur d’usage' d’un ou de deux textes de Benjamin pour tenter de savoir, tout simplement, 'comment regarder une image'.
In a letter to Scholem, dated 22 December, 1924, Benjamin famously writes of the manuscript that was to become his 'Trauerspiel' book: "[I]ndessen überrascht mich nun vor allem, daß, wenn man so will, das Geschriebene fast ganz aus Zitaten besteht" (GS I.3, 881). Much has been made of the mosaic-like citational technique to which Benjamin refers here; his "Zitatbegriff" is said, for example, to subtend the theory of a "mikrologische Verarbeitung" of "Denkbruchstücken" into "Ideen" that Benjamin develops as his theory of representation in the "Erkenntniskritische Vorrede", which in turn figures the relation between individual phenomena and their "ideas" in astral terms. Because, however, the 'Trauerspiel' book is so often understood only on this theoretical level, e.g. as either an early articulation of Benjamin’s "avant garde" and "messianic" philosophy of history (Jäger, Kany, and Pizer) or as a performance of his systems of allegory (Menninghaus) and "constructivism" (Schöttker), his "Zitierpraxis" and the actual citations that form large parts of 'Der Ursprung des deutschen Trauerspiel' have seldom been read for the purchase they provide on the vexed status of the period and concept that was the book’s direct subject, namely, the German Baroque.
Although Walter Benjamin was never timid when it came to writing, one practice he consistently avoided was that of creating neologisms. It is therefore with all the more reluctance that I find myself compelled to resort to something similar, in order to sum up a motif that has imposed itself over the years in my reading of Benjamin. What is involved is, to be sure, not exactly a neologism, since it does not involve the creation of a new word, but rather the highlighting of a word-part, a suffix (eine Nachsilbe). In English, to be sure, this suffix, when spoken, is indistinguishable from a word: what distinguishes it from a word is not audible, but only legible: a hyphen, marking a separation that is also a joining, a 'Bindestrich' that does not bind it to anything in particular and yet that requires it to be bound to something else. The suffix in question thus sounds deceptively familiar, since it coincides, audibly, with the word "abilities". However, unlike that word, its first letter - which purely by accident happens to be the first letter of the alphabet--is preceded by a dash. When written in isolation, this gives it a somewhat bizarre appearance, to be sure, since suffixes are not usually encountered separately from the words they modify. But this bizarre appearance pales when compared to its German 'original'. If the book of essays to be published in English under the title, "Benjamin’s -abilities," is ever translated into German - "back" into German I was tempted to write, since German here is of course the language in which Benjamin wrote and in which I generally read him - then its title, were it to be entirely faithful to the English, would indeed have to involve the creation of a neologism. For translated back into German, the German title would require its readers to "read, what was never written", namely: "Benjamins -barkeiten" (written, "Bindestrich- b--kleingeschrieben").
Bei Walter Benjamin steht die Moderne im Zeichen des Verlusts. Denn er fasst Moderne nicht als Erfüllung vorgeformter Geschichte, sondern in den Spuren ihres Verschwindens. Zum Schauplatz dieser negativen Gründungsfigur wird für Benjamin der Begriff der Erfahrung. Modern ist, wer um die Erfahrung gebracht worden ist. Und so schildert Benjamin den Dichter, der von einer Ecke aus, das Glücksspiel beobachtet, als einen um seine Erfahrung gebrachten: "Der Dichter nimmt nicht am Spiele teil. Er steht in seiner Ecke; nicht glücklicher als sie, die Spielenden. Er ist auch ein um seine Erfahrung betrogener Mann, ein Moderner." (GS I, 636) Das Erkennen der Moderne im Zeichen des Verlusts und Betrogenseins entsteht durch eine Rückschau. Im zurückgewendeten Blick erscheint Moderne in der Differenz von Vergangenem und Gegenwärtigem, von vormaliger Fülle und Mangel im Jetzt. Bei aller "Schönheit" (GS II, 442), die Benjamin dabei dem Entschwinden abgewinnt, ist die vollzogene Figur melancholische Trope. Aus der melancholischen Differenz heraus scheint die Kontinuität der translatio abgebrochen. Auf diesen Bruch richtet Benjamin immer wieder seinen Blick, ob er nun über die veränderten Rezeptionsbedingungen von Kunst im "Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit" spricht oder über den Unterschied von Roman und Erzählung. Während die Erzählung bei Benjamin für das Einst einsteht, in dem Erfahrung noch tradierbar war, bedeutet die Moderne des Romans demgegenüber einen irreversiblen Verlust des Austauschs von Erfahrungen: "Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichtertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen Erfahrungen auszutauschen." (GS II, 439)1 Was uns "genommen wurde", scheint auf immer verloren und daher ist, was uns offenbar ausweglos bleibt: Die Melancholie. Jedoch bietet Benjamin selbst eine Perspektive an, wie mit dieser Figur der Moderne umzugehen ist und somit einen Ausweg aus der Melancholie heraus. Dieser Ausweg zeigt sich im Begriff der Übung an. Denn Übung bei Benjamin - und das möchte ich zeigen - ist doppelt markiert: Sie steht zum einen für jenes Einst an Erfahrung, das mit der Moderne verschwunden ist. Zum anderen ist sie das, was die Moderne weiterbringt. Sie trainiert den Körper, schult die Sinne. Kurz: Sie übt im Umgang mit der Technik und damit im Umgang mit der Moderne. Allerdings - und das ist die Crux an der ganzen Sache -, ist sie dabei stets in Gefahr: Umzuschlagen nämlich in Dressur, um damit den Menschen der Technik zu unterwerfen. Dass Benjamin diesen feinen Unterschied gesehen hat, darin besteht seine Aktualität. Sie steht dabei ganz im Licht der Antike. Denn mit dem Begriff der Übung und seinem unterschiedlichen, doppelten Gebrauch aktualisiert er ein geläufiges Verfahren der Antike. Entgegen seiner eigenen Insistenz auf Verlustfiguren wie den "Abschied für ewig" (GS I, 623) oder der "Liebe [...] auf den letzten Blick" (ebd.), führt seine Verwendung der Übung vor, dass die Moderne selbst in ihren melancholischsten Zügen und der Verlustmarkierung der Erfahrung, sich übend mit ihren eigenen Bedingungen auseinandersetzt und auf diese Weise die abgebrochene Erfahrung gänzlich unmelancholisch wieder ins Spiel bringt.